16.Kapitel

Maurice

Wäre es nach mir gegangen, ich hätte zur Ablenkung die ganzen verdammten Vampirfanatiker in den Raum gesteckt, nur damit Lilly nichts geschieht. Aber zum einen wäre das dumm gewesen, weil es ihren Glauben an Seths Allmacht und somit Roses Herrschaft über sie, die ja nur auf Seths Wort beruhte, infrage gestellt hätte, und zum anderen hatte Lilly ebenso wie Lukas erklärt, dass es unnötig wäre. Sie hatten ein Pentagramm auf den Boden gezeichnet, es mit allerlei Zeichen und magischem Schnickschnack versehen. Auf meine Frage hin hatte Lilly erläutert, dass er in seinem geschwächten Zustand etwas Zeit brauchen würde, um durch den Schutzkreis zu kommen, und das würde reichen, um den Zauber zu sprechen. Ich hatte trotzdem darauf bestanden dabei zu sein, ebenso wie Rose, obwohl sie noch immer etwas zittrig wirkte, noch jemand um den ich mir Sorgen machte.

Lukas und Lilly hatten am Rand des Pentagramms am Boden Platz genommen und hielten sich an den Händen, der Reif in Form einer Rose liegt im Pentagramm. Sie beginnen nun mit der Formel, und ich habe mich noch nie in meiner Existenz so unnütz gefühlt. Lilly stimmt an: „Großer Hexenmeister, der du schon einmal die Welt gerettet hast, wir bitten um deinen Beistand gegen eine weitere Gefahr.“ Lukas führt die Formel fort: „Unbekannter Hexenmeister, gestatte uns deine Macht zu nutzen, obwohl du sie für jemand anderen vorgesehen hattest.“ Dann heben sie die ineinander verschränkten Hände und halten sie über ihre Köpfe, während sie mit der anderen ein Pulver, das sie vorbereitet hatten in das Pentagramm, über den Reif streuen. Mein Blick ist starr auf das Artefakt gerichtet, aber ich kann nichts erkennen. Rose flüstert neben mir: „Es schimmert, ich glaube sie haben es aktiviert.“ In dem Moment lösen sie die Hände und drücken sie in einer fließenden Geste gleichzeitig nach unten, dabei drehen sie die Handflächen nach oben. Lukas greift nach dem Dolch an seiner Seite und zieht ihn rasch über ihre Handflächen. Der Geruch von Blut vermischt sich mit der staubigen Luft der Höhle. Lilly führt die Formel fort: „Hexenmeister, gib uns deine Macht so wie wir unser Blut geben.“ Dann drücken sie die blutigen Handflächen in das restliche Pulver, das in zwei Schalen vor ihnen steht. Beide heben synchron die Schalen und schütten ihren Inhalt ebenfalls über das Artefakt. Es wirkt gespenstisch, ich spüre und sehe noch immer nichts, aber Lilly wirft den Kopf mit einem Aufkeuchen zurück und Lukas spannt sich an, als ob er gegen einen Sturm ankämpfen würde. Mein Blick fliegt zu Rose, sie haucht: „Himmel Maurice, der ganze Reif, glüht.“ Jetzt stehen sie auf, fassen sich wieder bei den Händen und rezitieren im Gleichklang: „Im Namen der Macht, die in dem Pentagramm ist, im Namen der Macht des Guten, im Namen aller deiner Opfer wir rufen dich zu uns Ragnar aus den Nebeln.“

Einen Moment scheint nichts zu geschehen, dann ertönt ein Donnerschlag, wie bei der letzten Beschwörung, im Zentrum des Pentagramms wird es dunkler, bis nur noch eine undurchdringliche Wand aus Schatten vor uns steht. Sie wölbt sich und zittert, bis ein blasser Arm erscheint, er zuckt, versucht sich wieder zurückzuziehen, aber er hat keine Chance. Dem Arm folgt der ganze Mann, ein Mann, der bis auf die merkwürdigen grün leuchtenden Augen menschlich wirkt. „Für den Frevel mich ohne meinen Befehl zu rufen werdet ihr bezahlen“, grollt er. So menschlich er im Moment auch scheint, auf einen Wink von ihm sammeln sich die Schatten und fließen auf uns zu. Jede Faser von mir schreit danach den verfluchten Dingern aus dem Weg zu gehen. Aber sie prallen zum Glück ohnehin an den Rand des Pentagramms. Lilly und Lukas strecken ihre Hände zum Pentagramm, allerdings ohne die Linie zu überragen. Lilly beginnt zu sprechen: „Schattenfluch weiche aus diesem Mann. Der Wille, das Blut und die Macht der Hexen gebieten es dir.“ Der Herr der Schatten lacht schallend auf und höhnt: „Du kannst den Fluch nicht brechen Hexe.“ Dann wirft er sich selbst gegen das Pentagramm, diesmal fühle sogar ich die Erschütterung in der Magie, als er die gezogene Linie berührt, denn die ganze Höhle scheint zu beben. Lukas führt den Bann völlig konzentriert fort: „Fluch der Schatten, all deine Macht, all dein Übel wird gebannt, geselle dich zu dem Rest von dir, die weitere Macht eines Hexenmeisters wird dich zwingen und bewachen.“ Lilly greift zu der Phiole an ihrem Gürtel, in der etwas von meinem Blut ist. Was, wie sie erklärt hatte, nötig ist, weil auch ein reiner Vampir an dem Bann beteiligt sein muss, so wie Seth damals. Sie öffnet sie geschickt mit einer Hand, ohne mit der Anderen Lukas loszulassen. Sie hält sie hoch und fährt fort: „Das Blut der Vampire wird den Bann versiegeln, weiche der vereinten Macht.“ Dann kippt sie es über die verbundenen Hände. Ohne weitere Worte drücken sie die Hände in das Pentagramm, wäre ich nicht schon tot, mein Herz würde stehen bleiben. Die Kreatur stürzt sich, vor Wut brüllend, auf ihre Hände. Ich springe vor um Lilly zurückzureißen, aber Rose schnappt mich hinten an der Jacke und bremst mich ab. Ich schüttle sie wütend ab und stürze vor, nur um ungläubig stehen zu bleiben. Hatte ich bis jetzt nichts von der Magie gesehen, erscheint es jetzt umso unglaublicher. Der Herr der Schatten hängt knapp vor ihren Händen in der Bewegung erstarrt in der Luft, hinter ihm hat sich das Artefakt in die Luft erhoben, es rotiert immer schneller, bis es gegen den Herrn der Schatten prallt. Es gibt ein schrilles Geräusch, das droht mein Trommelfell zu zerfetzen. Die Schatten werden immer heller, bis sie verschwinden, dann beginnt der Herr der Schatten zu kreischen. Ich presse die Hände gegen meine Ohren, noch nie habe ich ein Geschöpf auf dieser Welt so schreien gehört, es klingt, als ob man ihm einen Teil seiner Seele herausreißen würde. Er verstummt abrupt, als seine Augen plötzlich nicht mehr leuchten, sondern ein normales Grün zeigen. Er löst sich aus der Starre und stürzt direkt auf Lilly zu. Ich hechte nach vorne und reiße sie zu Boden, was, da ihre Hände noch immer verbunden sind, auch Lukas zu Fall bringt. Ich werfe mich sofort wieder herum, um Ragnar abzuwehren. Aber der blonde Hüne springt über uns hinweg, direkt auf die Wand zu. „Fasst ihn“, brülle ich. Aber als ich ihm nachsetze, verdichtet sich die Dunkelheit vor ihm und er scheint in der Wand zu verschwinden. Als ich einen Herzschlag später folgen will, pralle ich gegen eine feste Wand aus Stein. Ungläubig fahre ich über die nun wieder massive Wand. „Offenbar kann er Schatten noch als Tore benutzen“, erklärt Lukas. „Wie nett, und wie sollen wir ihn jetzt wieder finden“, knurre ich. „Gar nicht“, sagt Lilly sanft, „er ist nun kein Geschöpf der Dunkelheit mehr. Der Schattenfluch ist von ihm gewichen, das konnte ich spüren. Er mag die Schatten noch als Tor benutzen können, aber der Tod umgibt ihn nicht mehr.“ „Du willst ihn einfach laufen lassen“, keuche ich ungläubig. Sie seufzt: „Ich sagte nur, dass er nicht mehr der Herr der Schatten ist, nicht dass er harmlos wäre. Aber wir haben gar keine andere Wahl als ihn laufen zu lassen. Er ist kein Schattengeschöpf mehr, also wird ihn zu rufen nicht klappen. Und er könnte sonst wo sein.“ Rose wirft leise ein: „Vielleicht ist es besser so. Bei seiner Geschichte hat er doch eine zweite Chance verdient, jetzt wo er keine tödliche Gefahr für die ganze Welt mehr ist.“ „Ist das dein Ernst?“, frage ich meinen ehemaligen Schützling verblüfft. Sie wirkt plötzlich traurig und antwortet leise: „Ich konnte Seth keine Chance geben, obwohl ich auch Gutes in ihm gesehen habe, er war einfach zu gefährlich. Aber Ragnar können wir diese Chance gewähren. Sollte er sie missbrauchen, können wir ihn immer noch jagen.“ Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen, zumal die beiden Hexer samt Rose ohnehin ziemlich erschöpft wirken, ich helfe Lilly auf die Füße und ziehe sie erleichtert in meine Arme.