SECHZEHNTES
KAPITEL
MACHTPHILOSOPHIE
Der Zweck dieses Kapitels besteht in der Betrachtung bestimmter philosophischer Systeme, die hauptsächlich aus Machtliebe entstanden sind. Ich meine damit nicht, dass Macht ihr Gegenstand ist, sondern dass die Macht die bewusste oder unbewusste Grundlage der Metaphysik und der ethischen Anschauung des Philosophen bildet.
Unser Glaube ergibt sich aus der abgestuften Verbindung von Wunsch und Beobachtung. Manchmal ist die Rolle des einen Faktors ganz gering, manchmal die des anderen. Was man aus empirischen Tatbeständen für sicher erklären kann, ist sehr wenig, und wenn unser Glaube darüber hinausgeht, so spielt der Wunsch eine Rolle bei seinem Werden. Andererseits überleben nur wenige Ansichten den endgültigen, schlüssigen Beweis ihrer Unrichtigkeit, obwohl sie lange Zeit hindurch weiter bestehen können, wenn es weder für sie noch gegen sie Beweise gibt.
Philosophie ist geschlossener als das Leben. Wir haben im Leben viele Wünsche, aber eine Philosophie ist in der Regel von einem beherrschenden Wunsch beseelt, der ihr Zusammenhalt verleiht.
Zu fragmentarisch ist Welt und Leben.
Ich will mich zum deutschen Professor begeben, Der weiß das Leben zusammenzusetzen,
Und er macht ein verständig System daraus.
Verschiedene Wünsche haben das Werk der Philosophen beherrscht. Da ist die Wissbegierde und, was keineswegs dasselbe ist, der Wunsch, zu beweisen, dass die Welt erkennbar ist. Da gibt es die Begierde nach Glück, die Begierde nach Tugend und – als Synthese dieser beiden – die Begierde nach Erlösung. Es gibt die Begierde nach einem Gefühl des Einsseins mit Gott oder mit anderen Menschen. Es gibt die Begierde nach Schönheit, die Begierde nach Freude und schließlich die Begierde nach Macht.
Die großen Religionen streben nach Tugend, aber in der Regel auch nach mehr. Christentum und Buddhismus suchen Erlösung und, in ihrer mehr mystischen Form, Einssein mit Gott oder dem All. Die empirische Philosophie sucht Wahrheit, während die idealistische Philosophie von Descartes bis Kant Gewissheit sucht; praktisch geht es bei allen großen Philosophen bis einschließlich Kant hauptsächlich um Begierden, die zum erkennenden Teil der menschlichen Natur gehören. Die Philosophie Benthams und der Schule von Manchester betrachtet als Ziel das Vergnügen und als hauptsächliches Mittel den Reichtum. Die machtphilosophischen Systeme der Neuzeit sind vor allem als Reaktion gegen das Manchestertum entstanden und als Protest gegen die Ansicht, dass der Sinn des Lebens in einer Reihe von Vergnügen -besteht – ein Ziel, das als zu fragmentarisch und zu wenig aktiv verurteilt wird.
Da das menschliche Leben auf einer ununterbrochenen Wechselwirkung zwischen Entscheidung und unkontrollierbaren Tatsachen beruht, versucht der Philosoph, der von seinem Machttrieb geleitet wird, die Rolle von Faktoren, die nicht das Ergebnis unseres Willens sind, zu verkleinern oder herabzusetzen. Ich denke jetzt nicht nur an Menschen, die die nackte Gewalt verherrlichen, wie Machiavelli und Thrasymachos im »Staat«; ich denke an Männer, die Theorien erfinden, die ihre eigene Machtliebe unter einem metaphysischen oder ethischen Schleier verbergen. Der erste derartige Philosoph der Neuzeit, der auch am weitesten darin geht, ist Fichte.
Die Philosophie Fichtes geht vom Ich aus als vom einzig in der Welt Bestehenden. Das Ich existiert, weil es sich selbst feststellt. Obwohl nichts weiter existiert, erhält das Ich eines Tages einen kleinen Anstoß und konstatiert als Ergebnis das Nicht-Ich. Es erfährt dann verschiedene Emanationen, nicht ungleich jenen der gnostischen Theologie. Während aber die Gnostiker die Emanationen Gott zusprachen und von sich selbst mit Demut dachten, hält Fichte die Unterscheidung von Gott und dem Ich für unnötig. Wenn das Ich mit der Metaphysik fertig geworden ist, fährt es fort, festzustellen, dass die Deutschen gut und die Franzosen schlecht sind und dass es daher die Pflicht der Deutschen ist, gegen Napoleon zu kämpfen. Sowohl die Deutschen als auch die Franzosen sind natürlich nur Emanationen Fichtes, aber die Deutschen sind eine höhere Emanation, das heißt, sie sind der einen letzten Wirklichkeit näher, die Fichtes Ich ist. Alexander und Augustus behaupteten, dass sie Götter seien, und zwangen andere, dem zuzustimmen; Fichte, der nicht an der Regierung war, wurde des Atheismus beschuldigt und verlor seine Stelle, weil er nicht gut seine eigene Göttlichkeit proklamieren konnte.
Offensichtlich bleibt in einer Metaphysik wie der Fichtes kein Platz für gesellschaftliche Pflichten, weil die Außenwelt nur ein Produkt meines Traumes ist. Die einzig vorstellbare Ethik, die man mit dieser Philosophie in Übereinstimmung bringen kann, ist die der Selbstentwicklung. Unlogischerweise könnte zwar ein Mann seine Familie und sein Volk für einen intimeren Teil seines Ichs halten als andere menschliche Wesen und daher Familie und Volk höher bewerten. Glaube an Rasse und Nationalismus ist daher ein psychologisch natürliches Ergebnis einer solipsistischen Philosophie – umso mehr, als Machtliebe offenbar der Theorie zugrunde liegt und Macht nur mit der Hilfe anderer ausgeübt werden kann.
All das ist als »Idealismus« bekannt und wird für edler angesehen als eine Philosophie, die die Wirklichkeit der Außenwelt zugibt.
Die Wirklichkeit dessen, was von meinem Willen unabhängig ist, ist für die Philosophie in der Konzeption der »Wahrheit« verankert. Die Wahrheit meines Glaubens ist nach der Ansicht des gesunden Menschenverstands in den meisten Fällen unabhängig von dem, was ich tun kann. Es ist wahr, dass, wenn ich glaube, dass ich morgen frühstücken werde, mein Glaube, wenn überhaupt, so wahr ist durch meine eigene zukünftige Entscheidung; wenn ich dagegen glaube, dass Cäsar an den Iden des März ermordet wurde, so liegt das, was meinen Glauben wahr macht, völlig außerhalb der Macht meines Willens. Die von Machtliebe angeregte Philosophie findet diese Situation unerfreulich und versucht daher auf verschiedenen Wegen, die übliche Konzeption der Tatsachen als Quellen von Wahrheit oder Unwahrheit in Ansichten zu unterminieren. Die Hegelianer behaupten, dass Wahrheit nicht auf der Übereinstimmung mit der Tatsache beruht, sondern auf der gegenseitigen Beständigkeit des ganzen Systems unserer Anschauungen. All unsere Anschauungen sind wahr, wenn sie, wie die Vorgänge in einem guten Roman, zueinander passen; es gibt tatsächlich keinen Unterschied zwischen Wahrheit für den Novellisten und Wahrheit für den Historiker. Das gibt der schöpferischen Phantasie Freiheit – die Phantasie wird von den Fesseln einer angenommenen »realen« Welt befreit.
Pragmatismus ist in manchen Formen eine Machtphilosophie. Für den Pragmatismus ist ein Glaube »wahr«, wenn seine Folgen angenehm sind. Glaube an das höhere Verdienst eines Diktators hat angenehmere Folgen als Unglaube, wenn man unter seiner Regierung lebt. Überall, wo wirksame religiöse Verfolgung herrscht, ist der offizielle Glaube im pragmatischen Sinn wahr. Die pragmatische Philosophie verleiht daher den Machthabern eine metaphysische Allgewalt, die eine alltäglichere Philosophie ihnen verweigern würde. Ich sage nicht, dass die meisten Pragmatiker diese Folgen ihrer Philosophie zugeben; ich sage nur, dass dies die Folgen sind und dass die pragmatischen Angriffe auf die übliche Ansicht von der Wahrheit ein Ausbruch von Machtliebe sind, die es allerdings vielleicht mehr auf Macht über die unbeseelte Natur als auf Macht über andere Menschen abgesehen hat.
Bergsons schöpferische Evolution ist eine Machtphilosophie, die auf phantastische Weise im letzten Akt von Bernard Shaws »Zurück zu Methusalem« entwickelt worden ist. Bergson behauptet, dass der Intellekt als unerlaubt passiv und lediglich kontemplativ zu verurteilen ist und dass wir nur in voller Handlung richtig sehen, wie etwa bei einem Kavallerieangriff. Er glaubt, dass Tiere Augen bekamen, weil sie empfanden, dass es angenehm sein würde, sehen zu können; ihr Intellekt wäre nicht imstande gewesen, über das Sehen nachzudenken, da sie blind waren, die Intuition aber konnte dieses Wunder vollbringen. Alle Entwicklung geht nach ihm aus der Begierde hervor, und dieser Entwicklung ist keine Grenze gesetzt, wenn nur der Wunsch leidenschaftlich genug ist. Die tastenden Versuche der Biochemiker, den Mechanismus des Lebens kennenzulernen, sind zum Scheitern verurteilt, denn das Leben ist nicht mechanisch, und seine Entwicklung läuft immer derart, dass der Verstand völlig außerstande ist, es im voraus sich vorzustellen; allein in der Aktion kann das Leben verstanden werden. Daraus folgt, dass die Menschen leidenschaftlich und irrational sein sollten. Zum Glück für Bergson sind sie es im Allgemeinen.
Einige Philosophen lassen ihren Machttrieb nicht ihre Metaphysik beherrschen, lassen ihm aber in der Ethik die Zügel schießen. Der bedeutendste von ihnen ist Nietzsche, der die christliche Moral als Sklavenmoral verwirft und sie durch eine andere ersetzt, die heroischen Herrschern entspricht. Das ist natürlich nicht völlig neu.
Manches davon kann man bei Heraklit finden, einiges bei Plato, vieles in der Renaissance. Aber bei Nietzsche ist es ausgearbeitet und in bewussten Gegensatz zur Lehre des Neuen Testaments gestellt. Seiner Ansicht nach hat die Masse an sich keinen Wert, sondern nur als Mittel zur Größe eines Helden, der berechtigt ist, sie zu misshandeln, wenn er dadurch seine eigene Entwicklung fördern kann. In der Tat haben Aristokratien immer so gehandelt, dass nur eine derartige Ethik sie rechtfertigen konnte; aber die christliche Theorie hat behauptet, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Die Demokratie kann sich auf die christliche Lehre berufen; aber für die Aristokratie ist Nietzsches Ethik die beste. »Wenn Götter wären, wie könnte ich ertragen, kein Gott zu sein? Daher sind keine Götter.« So sagt Nietzsches Zarathustra. Gott muss vom Thron gestürzt werden, um irdischen Tyrannen Platz zu machen.
Die Machtliebe ist ein Teil der normalen menschlichen Natur, aber Machtphilosophie ist, in einem gewissen präzisen Sinn, wahnsinnig. Die Existenz der äußeren Welt, sowohl von Dingen wie auch von anderen Menschenwesen, ist eine Tatsache, die für eine bestimmte Art von Stolz demütigend sein mag, aber nur von einem Verrückten geleugnet werden kann. Menschen, die ihrer Machtliebe erlauben, ihnen eine falsche Anschauung der Welt zu geben, können in jedem Irrenhaus gefunden werden: einer wird glauben, dass er der Gouverneur der Bank von England ist, ein anderer, dass er der König ist, und ein dritter wird sich für Gott halten. Ganz ähnliche Ansichten führen, wenn sie von gelehrten Leuten in dunkler Sprache geäußert werden, zum Titel eines Professors der Philosophie; und werden sie auf beredte Weise von leicht erregbaren Menschen geäußert, so heißt das Ergebnis Diktatur. Irre, die als solche gekennzeichnet sind, werden wegen ihrer Neigung zur Gewalttätigkeit, wenn man ihre Behauptungen bezweifelt, eingesperrt; der nicht gekennzeichneten Gattung verleiht man die Kontrolle über machtvolle Armeen, und sie kann Tod und Verderben über alle Gesunden in ihrem Bereich bringen. Der Erfolg des Wahnsinns in der Literatur, in der Philosophie und Politik ist eine Besonderheit unseres Jahrhunderts, und die erfolgreiche Form des Wahnsinns leitet sich fast gänzlich aus dem Machttrieb her.
Um diese Situation zu verstehen, müssen wir die Beziehung der Machtphilosophie zum gesellschaftlichen Leben betrachten, die verwickelter ist, als man annehmen könnte.
Beginnen wir mit dem Solipsismus. Wenn Fichte behauptet, dass alles vom Ich ausgeht, sagt der Leser nicht: »Alles beginnt mit Johann Gottlieb Fichte! Wie unsinnig! Ich hörte von ihm erst vor ein paar Tagen. Und wie steht es mit der Zeit vor seiner Geburt? Stellt er sich wirklich vor, dass er sie erfunden hat? Was für eine lächerliche Auffassung!« Das, wiederhole ich, sagt der Leser nicht, er setzt sich an die Stelle Fichtes und findet, dass das Argument manches für sich hat. »Schließlich«, denkt er, »was weiß ich schon von der Vergangenheit? Lediglich, dass ich einige Erfahrungen gemacht habe, die ich auf eine Periode vor meiner Geburt bezogen interpretierte. Und was weiß ich von Ländern, die ich nie gesehen habe? Ich sah sie nur auf der Karte, habe über sie gelesen, hörte von ihnen berichten. Ich kenne nur meine eigene Erfahrung; was bleibt, ist zweifelhafte Einmischung. Wenn ich mich selbst an Gottes Stelle setze und sage, dass ich die Welt geschaffen habe, kann mir nichts beweisen, dass ich im Irrtum bin.« Fichte behauptet, dass es nur Fichte gäbe, und Hans Müller, der es liest, kommt zu dem Schluss, dass es nichts außer Hans Müller gibt, wobei er nicht bemerkt, dass Fichte das gar nicht gesagt hat.
Auf diese Weise wird dem Solipsismus ermöglicht, die Grundlage für eine gewisse Art von gesellschaftlichem Leben zu werden. Eine Anzahl von Irren, von denen jeder sich für Gott hält, kann lernen, sich gegenseitig höflich zu behandeln. Aber die Höflichkeit
wird nur so lange dauern, wie jeder Gott seine Allmacht nicht durch andere Götter gefährdet sieht. Wenn Herr A. glaubt, er sei Gott, mag er die Behauptungen der anderen so lang dulden, als sie seinen Zwecken dienen. Wenn aber Herr B. wagt, sich ihm entgegenzustellen und den Beweis zu erbringen, dass er nicht allmächtig ist, wird das Herrn A.s Zorn entfachen, und er wird erkennen, dass Herr B. der Teufel oder einer seiner Diener ist. Herr B. wird natürlich das gleiche von Herrn A. glauben. Jeder wird Leute um sich scharen, und es wird zum Krieg kommen – zum theologischen Krieg, bitter, grausam und wahnsinnig. Statt Herr A. lese man Hitler, für Herrn B. Stalin, und man hat ein Abbild der heutigen Welt. »Ich bin Wotan!« sagt Hitler. »Ich bin der dialektische Materialismus!« sagt Stalin. Und da der Anspruch jedes der beiden von mächtigen Hilfsquellen in Gestalt von Armeen, Flugzeugen, Giftgasen und unschuldigen Enthusiasten unterstützt wird, bleibt die Verrücktheit der beiden unbemerkt.
Nehmen wir weiter Nietzsches Kult des Helden, dem die »Jämmerlichen und Unfähigen« geopfert werden sollen. Der bewundernde Leser ist natürlich davon überzeugt, dass er selbst ein Held ist, während der Schuft Soundso, der durch skrupellose Intrigen weiter als er gekommen ist, zu den Jämmerlichen und Unfähigen gehört. Daraus folgt, dass Nietzsches Philosophie ausgezeichnet ist. Wenn aber Soundso sie auch liest und bewundert, wie kann man entscheiden, wer von beiden der Held ist? Offenbar nur durch Krieg. Und wenn einer von beiden den Sieg errungen hat, wird er weiter sein Recht auf den Titel dadurch beweisen müssen, dass er an der Macht bleibt. Um das zu tun, muss er eine mächtige Geheimpolizei schaffen; er wird in Furcht vor Ermordung leben, alle übrigen werden terrorisiert sein, und der Heroenkult wird damit enden, dass eine Nation zitternder Feiglinge entsteht.
Ähnliche Schwierigkeiten entstehen mit der pragmatischen Theorie, nach der ein Glaube wahr ist, wenn seine Folgen angenehm sind. Angenehm für wen? Glaube an Stalin ist erfreulich für ihn, aber unerfreulich für Trotzki. Glaube an Hitler ist erfreulich für die Nazis, aber unerfreulich für die, die sie in die Konzentrationslager sperren. Nur nackte Gewalt kann die Frage entscheiden: Wer soll die erfreulichen Folgen verspüren, die beweisen, dass ein Glaube wahr ist?
Machtphilosophie widerlegt sich selbst, wenn man ihre gesellschaftlichen Folgen in Betracht zieht. Wenn niemand meinen Glauben, ich sei Gott, teilt, führt er dazu, dass ich eingesperrt werde; wenn andere ihn teilen, führt er zu einem Krieg, der wahrscheinlich mein Untergang sein wird. Der Heroenkult ergibt eine Nation von Feiglingen. Glaube an den Pragmatismus führt, wenn er weit verbreitet ist, zur Herrschaft nackter Gewalt, die unerfreulich ist; daher ist, seinem eigenen Kriterium nach, Glaube an den Pragmatismus ein falscher Glaube. Wenn das gesellschaftliche Leben gesellschaftliche Wünsche befriedigen soll, muss es sich auf eine Philosophie stützen, die nicht aus der Machtliebe abgeleitet ist.