FÜNFZEHNTES KAPITEL
MACHT UND MORALISCHE PRINZIPIEN

Moral, jedenfalls seit den Tagen der jüdischen Propheten, hat zwei verschiedene Aspekte gehabt. Einerseits handelte es sich um eine gesellschaftliche Institution, die dem Gesetz entsprach; andererseits war sie eine Angelegenheit des individuellen Gewissens. Im ersten Falle bildet sie einen Teil des Machtapparats, im letzteren trägt sie oft revolutionären Charakter. Die dem Gesetz analoge Art nennt man »positive« Moral, die andere Art mag man »persönliche« Moral nennen. Ich möchte in diesem Kapitel die Beziehungen dieser zwei Arten von Moral untereinander und zur Macht untersuchen.

Positive Moral ist älter als persönliche Moral und wahrscheinlich älter als Gesetz und Regierung. Sie besteht ursprünglich aus Stammesbräuchen, aus denen das Gesetz allmählich erwächst. Man sehe nur die außerordentlich komplizierten Regeln, die bestimmen, wer wen heiraten darf, Regeln, die man unter ganz primitiven Wilden finden kann. Uns scheinen sie einfach Regeln zu sein, sie haben aber für jene, bei denen sie in Kraft sind, wahrscheinlich die gleiche zwingende moralische Kraft wie Gesetze gegen blutschänderische Verbindungen für uns. Ihr Ursprung ist dunkel, ist aber zweifellos in irgendeinem Sinn religiös. Dieser Teil der positiven Moral scheint keine Beziehung zu gesellschaftlicher Ungleichheit zu haben; weder verleiht er außergewöhnliche Macht, noch behauptet er ihre Existenz. Es gibt immer noch unter Zivilisierten moralische Regeln dieser Art. Die griechische Kirche verbietet die Heirat von Paten des gleichen Kindes, ein Verbot, das keinen sozialen Zweck erfüllt, weder im guten noch im schlechten Sinne, sondern seinen Ursprung einzig und allein in der Theologie hat. Es ist wahrscheinlich, dass viele Verbote, die heute aus Verstandesgründen akzeptiert werden, ursprünglich von abergläubischen Vorstellungen herrühren. Man verbot den Mord, weil der Geist feindlich gesinnt war, was sich nicht nur gegen den Mörder, sondern auch gegen seine Umgebung auswirkte. Die Umgebung war also an der Sache interessiert, die sie entweder durch Bestrafung oder durch Reinigungszeremonien beilegen konnte. Allmählich nahm die Reinigung eine geistige Bedeutung an und wurde mit Buße und Absolution identifiziert; ihr eigentlicher zeremonieller Charakter wird jedoch noch durch solche Ausdrücke wie »im Blut des Lammes gewaschen« bestätigt.

Diesen Aspekt der positiven Moral, so wichtig er auch ist, möchte ich hier nicht behandeln. Ich möchte vielmehr jene Seiten anerkannter ethischer Prinzipien untersuchen, die zur Macht führen. Ein Zweck der traditionellen Moral – der in der Regel zum großen Teil unbewusst ist – besteht darin, das bestehende Gesellschaftssystem arbeitsfähig zu machen. Im Falle des Erfolges erreicht sie diesen Zweck billiger und wirkungsvoller als die Polizei. Sie kann aber leicht einer revolutionären Moral gegenüberstehen, die aus dem Wunsch nach Neuverteilung der Macht geboren wird. Ich will in diesem Kapitel zunächst die Wirkung der Macht auf moralische Prinzipien betrachten und dann zu der Frage übergehen, ob für die Moral eine andere Basis gefunden werden kann.

Das offensichtlichste Beispiel für Machtmoral ist die Lehre vom Gehorsam. Es ist (oder besser, war) die Pflicht von Kindern, ihren Eltern, von Frauen, ihren Männern, von Dienern, ihren Herren, von Untertanen, ihren Fürsten und (in Religionssachen) von Laien, den Priestern untertan zu sein; es gab außerdem noch speziellere Gehorsamspflichten in Armeen und religiösen Orden. Jede dieser Pflichten hat eine lange Geschichte, die mit der Geschichte der betreffenden Institution parallel läuft.

Wir wollen mit der Liebe zu den Eltern beginnen. Es gibt heutzutage Wilde, die, wenn ihre Eltern zu alt zur Arbeit werden, sie verkaufen, um sie auffressen zu lassen. In einem bestimmten Stadium der Entwicklung der Zivilisation muss es einem Mann von ungewöhnlicher Weitsicht eingefallen sein, dass er seinen Kindern in ihrer frühen Jugend Ideen einflößen könnte, die sie dazu bringen würden, ihn im Alter am Leben zu lassen; es ist anzunehmen, dass er seinen eigenen Eltern bereits das übliche Schicksal bereitet hatte. Ich bezweifle, dass er bei der Gründung einer Partei zur Unterstützung seiner subversiven Ansicht lediglich an die Klugheit appellierte; ich vermute, dass er die Menschenrechte anführte, die Vorteile einer hauptsächlich auf dem Genuss von Früchten beruhenden Diät sowie die Schuldlosigkeit der Alten, die sich für ihre Kinder abgearbeitet hätten. Möglicherweise gab es in diesem Augenblick einen mageren, aber ungewöhnlich weisen Alten, dessen Rat man mehr Wert zumaß als seinem Fleisch. Wie dem auch immer gewesen sein mag man fühlte schließlich, dass man seine Eltern eher ehren als essen sollte. Uns scheint der Respekt vor dem Vater in frühen Zivilisationen übertrieben, wir müssen aber daran denken, dass ein sehr starkes Gegenmittel nötig war, um der lukrativen Gewohnheit, ihn zu essen, ein Ende zu machen. Und so finden wir denn, dass die zehn Gebote dem mit frühem Tode drohen, der Vater und Mutter nicht ehrt, dass die Römer den Vatermord als das abscheulichste aller Verbrechen betrachten und dass Konfuzius die Sohnesliebe zur Grundlage aller Moral macht. All das ist ein Trick, so sehr instinktiv und unbewusst er auch sei, um die väterliche Macht über die ersten Jahre, in denen Kinder noch hilflos sind, hinaus zu verlängern. Die Autorität der Eltern ist natürlich durch ihren Besitz vermehrt worden, hätte aber nicht die Verehrung der Eltern bestanden, so würden junge Männer ihren Vätern nicht erlaubt haben, als schwache Alte noch ihre Herden zu kontrollieren.

Das gleiche geschah in Bezug auf die Unterordnung der Frauen. Die größere Stärke männlicher Tiere führt in den meisten Fällen nicht zur ständigen Unterwerfung der Weibchen, weil die Männchen über keine genügende Beständigkeit verfügen. Unter menschlichen Wesen ist die Unterwerfung der Frauen auf einem gewissen Stand der Zivilisation vollkommener als bei Wilden. Und die Unterwerfung wird immer von der Moral gestärkt. »Ein Mann«, sagt Paulus, »ist das Abbild und der Ruhm Gottes, aber das Weib ist der Ruhm des Mannes. Denn der Mann kommt nicht vom Weibe her; aber das Weib kommt vom Manne her. Noch war der Mann um des Weibes willen gemacht, sondern das Weib um des Mannes willen.« (Korinther XI, 7-9) Daraus folgt, dass Frauen ihren Männern zu gehorchen haben und (lass Untreue bei einer Frau eine schwerere Sünde ist als bei einem Manne. Das Christentum stellt allerdings theoretisch fest, dass Ehebruch bei beiden Geschlechtern gleichermaßen eine Sünde darstellt, da er eine Sünde wider Gott sei. Aber diese Ansicht hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt und wurde in vorchristlicher Zeit nicht einmal theoretisch vertreten. Ehebruch mit einer verheirateten Frau war verwerflich, weil er eine Beleidigung für ihren Gatten darstellte; aber weibliche Sklaven und Kriegsgefangene waren das legitime Eigentum ihrer Herren, und der Verkehr mit ihnen war nicht schändlich. Diese Ansicht vertraten fromme christliche Sklavenhalter, wenn auch nicht ihre Frauen, noch im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Grundlage für den Unterschied zwischen einer Moral für Männer und einer Moral für Frauen war offenbar die überlegene Macht der Männer. Ursprünglich war diese Überlegenheit rein physischer Art, aber sie wuchs von dieser Grundlage stufenweise ins Wirtschaftliche, Politische und Religiöse hinein. Der große Vorteil der Moral gegenüber der Polizei erscheint in diesem Falle klar vor unseren Augen, denn die Frauen glaubten bis vor kurzer Zeit durchaus an die Prinzipien, die die männliche Herrschaft sicherten, und erforderten daher viel weniger Zwang als anderenfalls notwendig gewesen wäre.

Das Gesetzbuch des Hammurabi zeigt auf interessante Weise, wie bedeutungslos die Frauen in den Augen des Gesetzgebers waren. Wenn ein Mann die schwangere Tochter eines Herrn schlägt und sie an den Folgen stirbt, so ist angeordnet, dass die Tochter des Schlägers getötet werde. Was den Herren und den Schläger anbelangt, so ist dies gerecht; die Tochter, die hingerichtet wird, ist lediglich ein Besitz des letzteren und hat von sich aus keinen Anspruch auf Leben. Und durch die Tötung der Tochter des Herrn macht sich der Schläger einer Übertretung schuldig, nicht ihr gegenüber, sondern gegenüber dem Herrn. Die Töchter hatten keine Rechte, weil sie keine Macht hatten.

Könige waren bis zu Georg I. Gegenstand religiöser Verehrung.

 

Solch Göttlichkeit umgibt den König, dass
Verrat sich ihm nur grade zeigen kann,
Doch kaum vollbringen, was er will.

 

Das Wort »Verrat« hatte selbst in Republiken den Geruch von Gottlosigkeit. In England schlägt die Regierung aus der Tradition des Königtums großen Gewinn. Viktorianische Staatsmänner, selbst Mr. Gladstone, hielten es für ihre Pflicht gegenüber der Königin, darauf zu achten, dass sie niemals ohne einen Ministerpräsidenten blieb. Die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Behörde wird von vielen noch als Pflicht gegenüber dem Herrscher empfunden. Dieses Gefühl ist im Schwinden begriffen, aber mit seinem Schwinden wird die Regierung weniger stabil und die Möglichkeit von Diktaturen der Rechten oder Linken wächst.

Bagehot's »English Constitution« – ein noch immer lesenswertes Buch – beginnt die Auseinandersetzung über die Monarchie folgendermaßen:

»Die Einsetzung einer Königin mit all der Würde, die ihr eigen, ist von unschätzbarem Wert. Wenn es in England sie nicht gäbe, würde die gegenwärtige englische Regierung versagen und verschwinden. Die meisten Leute glaubten, wenn sie lasen, dass die Königin auf den Hängen von Windsor spazierte, dass der Prinz von Wales zum Derby ging, dass man kleinen Dingen zuviel Gedanken widme und zuviel Wichtigkeit beimesse. Aber sie irrten sich; und es ist hübsch aufzuzeichnen, wie die Handlungen einer zurückgezogen lebenden Witwe und eines beschäftigungslosen Jünglings eine solche Bedeutung bekamen.

Der beste Grund für die Tatsache, dass die Monarchie eine starke Regierung ist, liegt darin, dass sie eine verständliche Regierung ist. Die Masse der Menschheit versteht sie, und sie versteht kaum irgendwo in der Welt irgendeine andere. Man hat oft gesagt, dass die Menschen von ihren Vorstellungen beherrscht werden; aber es wäre richtiger zu sagen, dass sie von der Schwäche ihrer Vorstellungen beherrscht werden.«

Beides ist wahr und wichtig. Die Monarchie erleichtert die gesellschaftliche Kohäsion, weil es erstens leichter ist, Ergebenheit einer Person als einer Abstraktion gegenüber zu empfinden, und weil zweitens das Königtum in seiner langen Geschichte Gefühle der Verehrung aufgespeichert hat, die keine neue Einrichtung eingeben kann. Wo die erbliche Monarchie abgeschafft wurde, folgte ihr in der Regel nach längerer oder kürzerer Zeit eine andere Form der EinMann-Herrschaft• die Tyrannei in Griechenland, das Imperium in Rom, Cromwell in England, die Napoleons in Frankreich, Stalin und Hitler in unserer Zeit. Solche Männer erben einen Teil der Gefühle, die man früher dem Königtum entgegenbrachte. Es ist erheiternd, in den Geständnissen der Angeklagten in russischen Prozessen eine Anerkennung der Moral der Unterwerfung gegenüber dem Herrscher festzustellen, die in den ältesten und traditionellsten Monarchien angebracht gewesen wäre. Aber wenn er nicht ein ganz außergewöhnlicher Mensch ist, kann ein neuer Diktator kaum die gleiche religiöse Ehrfurcht einflößen, deren sich in der Vergangenheit die erblichen Monarchen erfreuten.

Im Falle des Königtums ist das religiöse Element, wie wir gesehen haben, oft so bedeutsam geworden, dass es zum Eingriff in die Macht wurde. Selbst dann hat es allerdings dazu beigetragen, einem Gesellschaftssystem Stabilität zu verleihen, dessen Symbol der König ist. Das ist in vielen halbzivilisierten Ländern geschehen sowie in Japan und in England. In England ist die kehre, dass der König kein Unrecht tun könne, als Waffe benutzt worden, um ihm die Macht zu nehmen, sie hat aber seine Minister befähigt, mehr Macht zu haben, als sie haben würden, wenn er nicht existierte. Wo immer auch eine traditionelle Monarchie am Ruder ist, bedeutet Aufstand gegen die Regierung eine Beleidigung des Königs und wird von den Orthodoxen als Sünde und Gottlosigkeit angesehen. Das Königtum wirkt daher, kurz gesagt, als eine Kraft im Sinne des Status quo, wo immer es auch sein mag. Geschichtlich gesehen besteht seine nützlichste Funktion in der Schaffung eines weit verbreiteten Fühlens, das der gesellschaftlichen Kohäsion zuträglich ist. Die Menschen halten von Natur aus so wenig zusammen, dass die Anarchie eine ständige Gefahr ist, und das Königtum hat viel getan, um diese zu bannen. Diesem Verdienst muss allerdings der Nachteil gegenübergestellt werden, dass es hergebrachte Übel verewigt und die einem wünschbaren Wechsel entgegenstehenden Kräfte verstärkt. Dieser Nachteil hat in neuen Zeiten dazu geführt, dass die Monarchie auf dem größeren Teil der Erdoberfläche verschwunden ist.

Priesterliche Macht ist offensichtlicher mit Ethik verbunden als irgendeine andere Machtform. In christlichen Ländern bedeutet Tugend Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen, und es sind die Priester, die wissen, was Gottes Wille verlangt. Die Vorschrift, dass wir Gott eher als den Menschen gehorchen müssen, kann, wie wir sahen, leicht revolutionär wirken, und zwar in zwei Arten von Umständen, einmal, wenn der Staat zur Kirche in Opposition steht, und dann, wenn angenommen wird, dass Gott direkt zum Gewissen jedes einzelnen spricht. Der erste Zustand bestand vor Konstantin, der zweite unter den Widertäufern und Unabhängigen. Jedoch in nichtrevolutionären Perioden wird, wenn es eine fest gegründete und traditionelle Kirche gibt, diese von der positiven Moral als Mittler zwischen Gott und dem persönlichen Gewissen anerkannt. Solange diese Anerkennung dauert, ist ihre Macht sehr groß, und Empörung gegen die Kirche gilt als das schlimmste Verbrechen. Die Kirche ist nichtsdestoweniger in Schwierigkeiten, denn wenn sie von ihrer Macht zu offen Gebrauch macht, beginnen die Menschen daran zu zweifeln, dass sie den Willen Gottes wirklich vertritt; und wenn dieser Zweifel allgemein wird, beginnt der ganze kirchliche Bau zu bröckeln wie in den germanischen Ländern zur Zeit der Reformation.

Im Falle der Kirche stellt die Beziehung zwischen Macht und Ethik in gewissem Maße das Gegenteil zu jener Beziehung in den Fällen dar, die wir bisher untersucht haben. Positive Moral vereint Unterordnung unter Eltern, Gatten und Könige, weil sie mächtig sind; die Kirche aber ist mächtig ihrer moralischen Autorität wegen. Dies trifft allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt zu. Wo die Kirche gesichert ist, entsteht eine Moral der Unterordnung gegenüber der Kirche, genau so wie eine Moral der Unterordnung gegenüber Eltern, Gatten und Königen entstanden ist. Und eine revolutionäre Ablehnung dieser Moral der Unterordnung entsteht auf die gleiche Weise. Häresie und Schisma sind der Kirche besonders verhasst und sind daher wesentliche Elemente in revolutionären Programmen. Es gibt aber noch kompliziertere Ergebnisse der Opposition gegen priesterliche Macht. Da die Kirche der offizielle Hüter der Moral ist, werden ihre Gegner sich leicht ebenso in moralischen wie in doktrinären und Regierungsfragen auflehnen. Das kann, wie bei den Puritanern, in der Richtung größerer Strenge oder, wie bei den französischen Revolutionären, in der Richtung des Sichgehenlassens sein; aber in beiden Fällen wird Moral zur Privatsache und hört auf, Gegenstand offizieller Entscheidungen durch eine öffentliche Körperschaft zu sein.

Man darf nicht glauben, dass persönliche Moral im Allgemeinen schlechter als offizielle priesterliche Moral wäre, selbst wenn sie weniger streng ist. Man hat manche Beweise dafür, dass im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt, als die Stimmung in Griechenland gegen das Menschenopfer stark zunahm, das delphische Orakel versuchte, diese humanitäre Reform hinauszuzögern und die alte, starre Handlungsweise beizubehalten. Ähnlich ist es heutzutage, wo der Staat und die öffentliche Meinung es für erlaubt ansehen, dass man die Schwester seiner verstorbenen Frau heiratet, während die Kirche, insoweit sie die Macht dazu hat, ihr altes Verbot aufrechterhält.

Wo die Kirche ihre Macht verloren hat, ist die Moral nicht eigentlich persönlich geworden, außer für einige besondere Leute. Für die Mehrheit wird sie durch die öffentliche Meinung vertreten, und zwar durch die Nachbarn im allgemeinen wie auch durch mächtige Gruppen – die Unternehmer zum Beispiel. Vom Standpunkt des Sünders aus kann die Änderung geringfügig sein und sogar eine Verschlechterung bedeuten. Wo das Individuum gewinnt, so nicht als Sünder, sondern als Richter: Es nimmt an einem inoffiziellen demokratischen Gerichtshof teil, während es da, wo die Kirche stark ist, die Regeln der Autorität anzuerkennen hat. Der Protestant, dessen moralisches Gefühl stark ausgeprägt ist, usurpiert die ethischen Funktionen des Priesters und nimmt eine gewissermaßen behördliche Stellung gegenüber den Tugenden und Lastern anderer Leute ein – besonders gegenüber den letzteren:

 

Merke nur auf und künde dann
Des Nachbarn Fehl und 'Irrtum.

 

Das ist nicht Anarchie, es ist Demokratie.

Die These, der zufolge die Moral Ausdruck der Macht ist, ist also, wie wir gesehen haben, nicht ganz richtig. Von den exogamen Gesetzen der Wilden angefangen, gibt es in allen Stadien der Zivilisation ethische Prinzipien, die keine sichtbare Beziehung zur Macht haben – was uns selbst betrifft, so mag die Verdammung der Homosexualität als Beispiel dienen. Die marxistische These, nach der die Moral ein Ausdruck wirtschaftlicher Macht ist, ist noch weniger zutreffend als die These, dass sie Ausdruck der Macht überhaupt sei. Und doch ist die marxistische These in vielen Fällen richtig. Zum Beispiel: Als im Mittelalter die mächtigsten Laien Grundbesitzer waren, die Bistümer und Klosterorden ihre Einkünfte aus Ländereien zogen und die einzigen Geldverleiher Juden waren, verurteilte die Kirche ohne Zögern den »Wucher«, das heißt das Leihen von Geld gegen Zinsen. Hier handelt es sich um die Moral eines Schuldners. Mit dem Aufstieg der reichen Kaufmannsklasse konnte das alte Verbot nicht mehr aufrechterhalten werden: Es wurde zuerst von Calvin gelockert, dessen Anhängerschaft sich vor allem aus städtischen und wohlhabenden Schichten rekrutierte, später von den übrigen Protestanten und schließlich von der katholischen Kirche(24). Die Moral des Gläubigers wurde modern und die Nichtbezahlung von Schulden eine schreckliche Sünde. Die Quäker schlossen praktisch, wenn auch nicht theoretisch, Bankrotteure bis vor kurzer Zeit aus ihren Reihen aus.

Die Moral gegenüber Feinden hat zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ausgesehen, vor allem, weil die profitablen Nutzungsmöglichkeiten der Macht sich geändert haben. Zu diesem Thema wollen wir zuerst das Alte Testament hören.

»Wenn der Herr euer Gott euch in das Land bringen soll, in das ihr hingeht, um es zu besitzen, und viele Völker vor euch ausgetrieben hat, die Hittiter und die Gargaschiter und die Amoriter und die Kanaaniter und die Periziter und die Hiviter und die Jebusiter, sieben Völker, größer und mächtiger als ihr.

Und wenn der Herr euer Gott sie euch übergeben soll, so sollt ihr sie zerschmeißen und ganz zerstören; ihr sollt keinen Vertrag mit ihnen machen, noch milde zu ihnen sein.

Noch sollt ihr euch mit ihnen vermählen; eure Töchter sollt ihr nicht seinen Söhnen geben, noch sollt ihr seine Töchter für eure Söhne nehmen.

Denn sie werden eure Söhne abbringen von mir, auf dass sie mir nicht mehr folgen und anderen Göttern dienen: so wird der Zorn des Herrn gegen euch entflammen und euch jählings zerstören.«

Wenn sie dies alles tun, »so soll weder Mann noch Weib unfruchtbar sein unter euch noch unter eurem Vieh«(25).

Was die sieben Völker angeht, so wird uns in einem späteren Kapitel noch ausführlicher erzählt:

»Ihr sollt nichts am Leben lassen, was Odem hat ..., auf dass sie euch nicht lehren, das Abscheuliche zu tun, wie sie es getan haben.« (XX. 16,18)

Aber gegenüber »Städten, die weit von euch entfernt sind und die nicht zu diesen Völkern gehören«, darf man mitleidiger verfahren:

»Ihr sollt jeden Mann aus ihnen mit der Schärfe des Schwertes schlagen; aber die Weiber und die Kleinen und das Vieh und alles, was in der Stadt ist, selbst das Geringste sollt ihr zu euch nehmen.« (Ebenda, 13 bis 15)

Man wird sich erinnern, dass Saul in Schwierigkeiten kam, als er die Amalekiter schlug, weil er nicht gründlich genug vorging:

»Und er nahm Agag, den König der Amalekiter, lebendig und schlug alle seine Leute mit der Schärfe des Schwertes.

Aber Saul und das Volk schonten Agag und die besten Schafe und Ochsen und jungen Schlachttiere und die Lämmer und alles, was gut war, und wollten sie nicht ganz vernichten; aber alles, was schlecht und widerspenstig war, das zerstörten sie gänzlich.

Da kam das Wort des Herrn zu Samuel, und er sagte:

Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe, denn er hat sich von mir abgewendet und meine Gebote nicht erfüllt.(26)«

Es wird aus solchen Stellen klar, dass die Interessen der Kinder Israel völlig gewahrt bleiben sollten, wenn sie in Konflikt mit denen der Nichtjuden gerieten, dass aber unter ihnen selbst die Interessen der Religion, das heißt der Priester, das Übergewicht über die wirtschaftlichen Interessen der Laien hatten. Das Wort des Herrn kam zu Samuel, aber es war das Wort Samuels, das zu Saul kam, und das Wort lautete: »Was bedeutet denn das Blöken der Schafe in meinen Ohren und das Brüllen der Ochsen, das ich höre?« Worauf Saul nur seine Sünden bekennen konnte.

Die Juden wurden durch ihren Hass gegen den Götzendienst dessen Ansteckungskeime offensichtlich selbst in Schafen und Kühen ihr Unwesen trieben – zu außergewöhnlicher Gründlichkeit in der Ausrottung der Besiegten getrieben. Aber keine Nation des Altertums anerkannte irgendwelche gesetzliche oder moralische Grenzen für die Behandlung besiegter Völkerschaften. Es war üblich, einige zu töten und den Rest in die Sklaverei zu verkaufen. Manche Griechen – zum Beispiel Euripides in den »Troerinnen« – versuchten, Stimmung gegen diese Praxis zu machen, aber ohne Erfolg. Die Besiegten hatten keinen Anspruch auf Mitleid, da sie keine Macht hatten. Dieser Standpunkt wurde nicht einmal in der Theorie aufgegeben, bis das Christentum kam.

Pflicht gegenüber Feinden ist eine schwierige Vorstellung. Milde wurde im Altertum als Tugend anerkannt, aber nur dann, wenn sie Erfolg hatte, was besagen will, wenn sie aus Feinden Freunde machte; anderenfalls wurde sie als Schwäche verurteilt. Wenn man Furcht hatte, erwartete niemand Großmut: Die Römer zeigten keine gegenüber Hannibal oder den Anhängern des Spartakus. In den Tagen des Rittertums musste ein Ritter einem ritterlichen Gefangenen mit Höflichkeit begegnen. Aber die Konflikte der Ritter waren nicht sehr ernst; den Albigensern zeigte man nicht das geringste Mitleid. Heutzutage hat man den Opfern des weißen Terrors in Finnland, Ungarn, Deutschland und Spanien gegenüber fast ebenso große Grausamkeit gezeigt, und kaum irgendein Protest ist laut geworden außer unter politischen Gegnern. Der Terror in Russland ist gleichermaßen von den meisten Linken mit Stillschweigen übergangen worden. Heute wie in den Tagen des Alten Testaments wird eine Pflicht gegenüber Feinden in der Praxis nicht anerkannt, wenn sie mächtig genug sind, um Furcht zu erwecken. Positive Moral ist immer noch lediglich in der betroffenen gesellschaftlichen Gruppe wirksam und daher auch noch eine Angelegenheit der Regierung. Nichts außer einer Weltregierung wird Leute mit kämpferischer Veranlagung veranlassen zuzugeben, dass moralische Verpflichtungen sich nicht nur auf einen Teil der Menschheit beschränken.

Es ist mir in diesem Kapitel bisher um die positive Moral gegangen, und wie es sich herausstellt, genügt das nicht. Kurz gesagt, steht sie auf der Seite der jeweiligen Macht, sie räumt der Revolution keinen Platz ein, sie trägt nichts dazu bei, die Heftigkeit der Gegensätze zu Mildern, und sie findet keine Stelle für den Propheten, der eine neue moralische Einsicht verkündet. Es geht um einige schwierige theoretische Fragen, aber bevor wir sie anschneiden, wollen wir uns einiger Dinge entsinnen, die nur die Gegnerschaft gegen die positive Moral zuwege bringen konnte.

Die Welt schuldet dem Evangelium manches, wenn auch nicht so viel, wie es der Fall wäre, wenn die Evangelien mehr Einfluss besäßen. Sie schuldet manches jenen, die die Sklaverei und die Knechtschaft der Frauen anprangerten. Wir dürfen hoffen, dass sie eines Tages jenen einiges schulden wird, die Krieg und wirtschaftliche Ungerechtigkeit anklagen. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert schuldete sie viel den Aposteln der Toleranz; vielleicht wird das in einem glücklicheren Zeitalter als das unsere wieder der Fall sein. Revolutionen gegen die mittelalterliche Kirche, die Monarchien der Renaissance und die heutige Macht der Plutokratie sind notwendig, um eine Stagnation zu vermeiden. Wenn wir zugeben müssen, dass die Menschheit Revolution und individuelle Moral braucht, so handelt es sich andererseits darum, diesen Dingen einen Platz einzuräumen, ohne die Welt in Anarchie zu stürzen.

Zwei Fragen müssen behandelt werden, erstens: Was ist die klügste Haltung der positiven Moral von ihrem Standpunkt aus gegenüber der persönlichen Moral? Zweitens: Wieviel Achtung schuldet die persönliche der positiven Moral? Bevor wir aber diese Fragen beantworten, soll ein Wort zu dem gesagt werden, was man unter persönlicher Moral versteht.

Persönliche Moral kann entweder als historische Erscheinung oder vom Standpunkt des Philosophen aus betrachtet werden. Beginnen wir mit der ersten Möglichkeit.

Beinahe jedes Individuum, das jemals existiert hat, soweit es der Geschichte bekannt ist, hat eine tiefe Abneigung gegen gewisse Handlungen gehabt. In der Regel werden derartige Akte nicht nur von einem Individuum, sondern von einem ganzen Stamm oder einer Nation oder einer Sekte oder Klasse verabscheut. Manchmal ist der Ursprung des Abscheus unbekannt, manchmal kann man ihn bis zu einer historischen Persönlichkeit zurückverfolgen, die ein moralischer Erneuerer war. Wir wissen, warum die Mohammedaner keine Bilder von tierischen oder menschlichen Wesen herstellen; es geschieht darum, weil der Prophet es ihnen verbot. Wir wissen, warum orthodoxe Juden keinen Hasen essen – das mosaische Gesetz erklärt, dass der Hase unrein ist. Wenn solche Verbote anerkannt werden, gehören sie zur positiven Moral; aber ihrem Ursprung nach, wenn überhaupt dieser Ursprung bekannt ist, gehörten sie zur privaten Moral.

Moral ist jedoch für uns heute mehr als positive oder negative rituelle Vorschriften. In der uns vertrauten Form ist sie nicht primitiv, sondern scheint eine Anzahl von unabhängigen Quellen zu haben – chinesische Weise, indische Buddhisten, jüdische Propheten und griechische Philosophen. Diese Männer, deren geschichtliche Bedeutung kaum überschätzt werden kann, lebten um wenige Jahrhunderte voneinander entfernt und besaßen gewisse gemeinsame Züge, die sie von ihren Vorläufern unterschieden. Laotse und Chuangtse verbreiten die Lehre des Tao, mit welchem Namen sie ihr eigenes Wissen bezeichnen, nicht durch Tradition oder die Weisheit von anderen; und die Lehre beruht nicht auf bestimmten Pflichten, sondern auf einer Lebensart, einer Art des Denkens und Fühlens, die einem, ohne dass man Regeln brauchte, klar macht, was in jeder Lage getan werden muss. Dasselbe kann man von den frühen Buddhisten sagen. Die jüdischen Propheten vergeistigen in ihrer besten Zeit das Gesetz und vertreten eine neue und innerlichere Tugend, die nicht von der Tradition, sondern durch die Worte »So spricht der Herr«, nahegelegt wird. Sokrates handelt, wie ihm sein Daimon befiehlt, nicht wie die gesetzlich begründeten Behörden wollen; er will lieber den Märtyrertod sterben als seiner inneren Stimme untreu werden. Alle diese Menschen waren in ihrer Zeit Empörer, und ihnen allen wird heute Ehre erwiesen. Was in ihnen neu war, ist heute selbstverständlich geworden. Aber es ist gar nicht leicht zu sagen, worin dieses Etwas besteht.

Das von jedem denkenden Menschen anzuerkennende Minimum – ob er sich einer geschichtlich begründeten Religion zuzählt oder eine solche Religion für eine Verbesserung des Vorausgegangenen hält – lässt sich folgendermaßen ausdrücken: Jede Lebensart, die in irgendeinem Sinne besser war als die vorausgegangene, wurde zuerst von einer Person oder einer Gruppe von Personen gegen die Ansicht des Staates und der Kirche ihrer Zeit befürwortet. Es folgt daraus, dass es nicht immer für einen Menschen falsch sein kann, sich in moralischen Fragen zu empören, selbst wenn sein Standpunkt der Ansicht der ganzen Menschheit bis in seine Tage zuwiderläuft. In Bezug auf die Wissenschaft stimmt jeder heutzutage der entsprechenden Lehre zu; aber in der Wissenschaft sind die Mittel bekannt, mit welchen eine neue Lehre geprüft wird, und sie wird entweder bald allgemein angenommen oder aus anderen als traditionellen Gründen verworfen. Die Ethik verfügt über keine derart offenkundigen Mittel, mit welchen eine neue Lehre geprüft werden kann. Ein Prophet kann seine Lehre mit einem »So spricht der Herr« überschreiben, was ihm genügt; wie können aber andere Leute wissen, dass er eine wirkliche Offenbarung hatte? Im Deuteronomium wird merkwürdigerweise die gleiche Prüfung empfohlen, die in der Wissenschaft oft für entscheidend angesehen wird, nämlich der Erfolg der Voraussage: »Und wenn du in deinem Herzen sagst: Wie sollen wir das Wort kennen, das der Herr nicht gesprochen? Spricht ein Prophet im Namen des Herrn und das Verkündete folgt nicht und tritt nicht ein, so hat der Herr es nicht verkündet, sondern fälschlich der Prophet.« Aber der moderne Verstand kann kaum eine solche Prüfung einer ethischen Lehre anerkennen.

Wir haben die Frage zu beantworten: Was versteht man unter einer ethischen Lehre und auf welche Weise, wenn überhaupt, ist sie überprüfbar?

Historisch betrachtet ist Ethik mit Religion verknüpft. Für die meisten Menschen genügte die Autorität: Was in der Bibel oder von der Kirche als recht oder unrecht bezeichnet wurde, ist recht oder unrecht. Aber gewisse Individuen hatten von Zeit zu Zeit die göttliche Eingebung: Sie wussten, was recht oder unrecht war, weil Gott direkt zu ihnen sprach. Diese Menschen lebten, nach der Ansicht der Orthodoxen, alle vor langer Zeit, und wenn ein Mensch der Neuzeit behauptet, einer von ihnen zu sein, steckt man ihn am besten ins Irrenhaus, sofern die Kirche nicht wirklich seine Aussagen sanktioniert. Das ist jedoch lediglich die gewöhnliche Situation des Empörers, der Diktator wird, und hilft uns nicht bei der Entscheidung darüber, was die legitimen Funktionen des Empörers sind.

Können wir Ethik in nichttheologische Termini übersetzen? Viktorianische Freidenker zweifelten nicht daran, dass dies möglich sei. Die Utilitarier zum Beispiel waren hochmoralische Menschen und überzeugt, dass ihre Moral eine verstandesmäßige Grundlage hatte. Die Sache ist trotzdem schwieriger, als sie ihnen erschien.

Wir wollen eine Frage betrachten, die durch die Erwähnung der Utilitarier aufgeworfen wird, nämlich: Kann eine Verhaltungsvorschrift jemals eine sich selbst genügende Ethik sein, oder muss sie immer von der guten oder schlechten Wirkung der fraglichen Vorschrift her abgeleitet werden? Die übliche Ansicht ist, dass bestimmte Handlungen Sünden, andere tugendhaft sind, und zwar unabhängig von ihrer Wirkung. Andere Handlungen sind vom ethischen Standpunkt aus neutral und können nach ihren Ergebnissen beurteilt werden. Ob ein schmerzloser Tod oder die Heirat mit der Schwester der verstorbenen Ehefrau legalisiert werden soll, ist eine ethische Frage, aber der Goldstandard ist keine. Es gibt zwei Definitionen »ethischer« Fragen, von denen jede die Fälle erschöpft, auf die dieses Adjektiv angewandt wird. Eine Frage ist »ethisch«, a) wenn sie die alten Juden interessierte, b) wenn der Papst für sie offiziell zuständig ist. Offenbar ist dieser übliche Gebrauch des Wortes »ethisch« überhaupt nicht zu verteidigen.

Nichtsdestoweniger finde ich, wenn ich persönlich spreche, dass es eine Art von Verhalten gibt, gegen die ich Widerwillen verspüre, einen Widerwillen, der mir moralischer Natur zu sein scheint, aber nicht offensichtlich auf eine Abschätzung der Folgen gegründet ist. Ich werde von vielen Leuten darüber belehrt, dass die Erhaltung der Demokratie, die ich für wichtig halte, nur möglich sein wird, wenn man eine ungeheure Anzahl von Kindern Hungers sterben lässt und andere schreckliche Dinge anstellt. In diesem Punkt kann ich der Anwendung solcher Mittel nicht zustimmen. Ich sage mir, dass sie den Enderfolg nicht garantieren oder dass sie im anderen Falle so üble Nebenwirkungen haben werden, dass diese alles Gute aufwiegen, das die Demokratie tun kann. Ich weiß nicht, inwieweit dieses Argument aufrichtig ist: Ich glaube, ich müsste mich solchen Mitteln widersetzen, selbst wenn ich davon überzeugt wäre, dass sie und keine anderen den Enderfolg sicherten. Dagegen versichert mir die psychologische Vorstellungskraft, dass nichts, was ich für gut halte, mit solchen Mitteln herbeigeführt zu werden vermöchte. Alles in allem glaube ich, um philosophisch zu sprechen, dass alle Handlungen nach ihren Wirkungen beurteilt werden sollten; aber da das schwierig und ungewiss ist und Zeit erfordert, ist es in der Praxis wünschenswert, dass manche Handlungen verurteilt und andere gepriesen werden sollten, ohne dass man auf eine genauere Untersuchung der Folgen wartet. Ich möchte daher mit den Utilitariern sagen, dass die richtige Handlung in jedem gegebenen Augenblick die ist, welche möglicherweise von allen möglichen Handlungen das größte Übergewicht des Guten über das Böse ergibt; dass aber die Vollbringung solcher Handlungen durch das Bestehen eines Moralkodex gefördert werden sollte.

Wenn wir diesen Standpunkt anerkennen, reduziert sich die Ethik auf die Definition von »gut« und »böse« nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck. Der Utilitarier sagt, dass das Gute Freude und das Böse Schmerz bedeute. Wenn aber jemand nicht seiner Ansicht ist, welche Argumente kann er vorbringen?

Betrachten wir verschiedene Ansichten über den Sinn des Lebens. Einer sagt »Das Gute ist Freude«, ein anderer: »Das Gute ist Freude für die Arier und Schmerz für die Juden«, wieder ein anderer: »Das Gute ist, Gott zu loben und ihn zu preisen immerdar.« Was behaupten diese drei Männer, und mit welchen Methoden können sie einander überzeugen? Sie können sich nicht wie Wissenschaftler auf Tatsachen berufen. Keine Tatsachen können in den Disput einbezogen werden. Die Unterschiede liegen auf dem Gebiet des Wunsches, nicht auf dem Gebiet von Feststellungen über Tatsachen. Ich behaupte nicht, dass, wenn ich sage »dies ist gut«, ich meine »dies wünsche ich«; es ist nur eine besondere Art von Wunsch, die mich dazu bringt, eine Sache gut zu nennen. Der Wunsch muss in gewissem Grade unpersönlich sein; er muss mit einer Art Welt zu tun haben, die mich befriedigen würde, nicht nur mit meinen persönlichen Umständen. Ein König könnte sagen: »Die Monarchie ist gut, und ich bin froh, ein Monarch zu sein.« Der erste Teil dieser Feststellung ist unzweifelhaft ethischer Natur, aber seine Freude, Monarch zu sein, wird nur dann ethisch, wenn eine Überlegung ihn überzeugt, dass niemand sonst einen so guten König abgeben würde.

Ich habe bei einer früheren Gelegenheit (in »Religion and Science«) vorgeschlagen, dass ein Werturteil nicht als Behauptung interpretiert werden sollte, sondern als Ausdruck eines Wunsches im Hinblick auf die Wünsche der Menschheit. Wenn ich sage: »Hass ist schlecht«, so sage ich in Wirklichkeit: »Wollte doch niemand Hass empfinden.« Ich stelle keine Behauptung auf; ich drücke nur einen bestimmten Wunsch aus. Der Hörer kann verstehen, dass ich diesen Wunsch empfinde, aber das ist die einzige Tatsache, die er verstehen kann, und das ist eine Tatsache der Psychologie. Es gibt keine ethischen Tatsachen.

Die großen ethischen Erneuerer waren nicht Menschen, die mehr als andere wussten; sie waren Menschen, die mehr wünschten

oder, genauer, Menschen, deren Wünsche unpersönlicher und weitsichtiger waren als die von Durchschnittsmenschen.

Die meisten Menschen ersehnen ihr eigenes Glück; ein bedeutender Prozentsatz ersehnt das Glück der eigenen Kinder; nicht wenige wünschen das Glück ihres Volkes; einige ersehnen wirklich und stark das Glück der ganzen Menschheit. Diese Menschen sehen, dass viele andere kein solches Empfinden haben und dass dies ein Hindernis auf dem Wege zur allgemeinen Glückseligkeit ist. Sie wünschen also, dass andere wie sie selbst fühlen möchten; dieser Wunsch kann mit den Worten ausgedrückt werden »Glück ist gut«.

Alle großen Moralisten, von Buddha und den Stoikern bis in die jüngsten Zeiten, haben das Gute als etwas definiert, was möglichst von allen Menschen gleichermaßen genossen werden sollte. Sie dachten von sich selbst nicht als Fürsten oder Juden oder Griechen, sondern lediglich als menschliche Wesen. Ihre Ethik hatte immer einen doppelten Ursprung: Einerseits werteten sie gewisse Elemente in ihrem eigenen Leben; andererseits ließ sie die Sympathie für andere ersehnen, was sie für sich selber ersehnten. Sympathie ist die verallgemeinernde Kraft in der Ethik; ich meine Sympathie als Erregungszustand, nicht als theoretisches Prinzip. Sympathie ist in gewissem Maße instinktiv: Ein Kind kann sich durch das Weinen eines anderen Kindes unglücklich fühlen. Aber Begrenzungen der Sympathie sind ebenfalls natürlich. Die Katze hat keine Sympathie für die Maus, die Römer hatten keine Sympathie für Tiere mit der Ausnahme von Elefanten, die Nazis haben keine für Juden und Stalin hatte keine für Kulaken. Wo es eine Begrenzung der Sympathie gibt, gibt es eine entsprechende Begrenzung in der Konzeption des Guten: Das Gute wird etwas, dessen sich nur der Großherzige oder nur der Übermensch oder der Arier oder Proletarier oder Christadelphier erfreut. Alles das ist Katze-und-Maus-Ethik.

Die Widerlegung einer Katze-und-Maus-Ethik ist, wo sie möglich ist, von praktischer, nicht von theoretischer Bedeutung. Zwei Anhänger einer solchen Ethik beginnen wie streitsüchtige kleine Jungen folgendermaßen: »Wir wollen spielen. Ich bin die Katze, und du bist die Maus.« – »Nein, nein«, gibt jeder zurück, »du sollst nicht die Katze sein. Ich will sie sein.« Und auf diese Weise werden sie ziemlich oft zu Kilkennykatzen(27). Wenn aber einer von ihnen sich ganz durchsetzt, kann er sein ethisches System errichten; wir erhalten dann Kipling und die Last des weißen Mannes oder die nordische Rasse oder eine ähnliche Anschauung, die auf Ungleichheit beruht. Solche Anschauungen wenden sich unvermeidlich nur an die Katze, nicht an die Maus; sie werden der Maus durch nackte Gewalt aufgezwungen.

Ethische Kontroversen betreffen sehr oft Mittel, nicht Ziele. Sklaverei kann mit dem Argument angegriffen werden, dass sie unwirtschaftlich ist; die Unterordnung der Frau kann kritisiert werden mit dem Hinweis darauf, dass die Unterhaltung mit freien Frauen interessanter ist; religiöse Verfolgung kann aus dem übrigens völlig hinfälligen – Grunde beklagt werden, dass die durch sie hervorgebrachten religiösen Überzeugungen nicht echt sind. Hinter solchen Argumenten aber liegt im allgemeinen ein Unterschied in Bezug auf die Ziele Manchmal wird, wie in Nietzsches Kritik des Christentums, dieser Unterschied deutlich sichtbar. In der christlichen Ethik zählen alle Menschen gleich; für Nietzsche ist die Mehrheit nur ein Mittel für den Helden. Kontroversen über das Ziel können nicht wie wissenschaftliche Kontroversen durch Hinweise auf Tatsachen geführt werden; man muss versuchen, das Fühlen der Menschen zu ändern. Der Christ wird bemüht sein, Sympathie zu wecken, der Nietzscheaner wird an den Stolz appellieren. Wirtschaftliche und militärische Macht können die Propaganda verstärken. Der Wettkampf ist, kurz gesagt, ein gewöhnlicher Machtkampf. Jede Anschauung, selbst die, welche allgemeine Gleichheit lehrt, kann ein Mittel zur Herrschaft eines Teils sein; dies war zum Beispiel der Fall, als die französische Revolution begann, die Demokratie mit Waffengewalt zu verbreiten.

Macht ist das Mittel, im ethischen wie im politischen Wettbewerb. Aber bei den ethischen Systemen, die in der Vergangenheit den größten Einfluss besessen haben, war Macht nicht das Ziel. Obwohl die Menschen einander hassen, einander ausbeuten und quälen, haben sie bis vor kurzer Zeit denen Ehrfurcht erwiesen, die einen anderen Lebensweg lehrten. Die großen Religionen, die auf Allgemeingültigkeit hinzielten und die Stammes-und Nationalkulte früherer Zeiten ersetzten, betrachteten die Menschen als Menschen, nicht als Juden oder Nichtjuden, Sklaven oder Freie. Ihre Gründer waren Menschen, deren Sympathie universal war und deren Weisheit daher für weit höher als die zeitgebundener und leidenschaftlicher Despoten eingeschätzt wurde. Das Ergebnis war nicht ganz das, was die Stifter gewünscht haben konnten. Bei einem Autodafe musste die Menge von der Polizei daran gehindert werden, die Opfer anzugreifen; sie war wütend, wenn es einem, den sie gehofft hatte lebendig verbrannt zu sehen, gelungen war, durch spätes Widerrufen erst erwürgt und dann verbrannt zu werden. Nichtsdestoweniger gewann das Prinzip allgemeiner Sympathie Raum auf einem Gebiet nach dem anderen. Es entspricht in der Sphäre des Gefühls der unpersönlichen Neugierde in der Sphäre des Intellekts; beide sind gleichermaßen wesentliche Elemente im Wachstum des Geistes. Ich glaube nicht, dass die Rückkehr zu einer aristokratischen oder Stammesethik von langer Dauer sein kann; die ganze Geschichte des Menschen seit Buddhas Zeiten weist in die entgegengesetzte Richtung. Wie leidenschaftlich auch immer Macht begehrt sein mag, in Augenblicken gründlicher Überlegung hält man Macht nicht für gut. Das wird durch den Charakter der Menschen bewiesen, die die Menschheit für am gottähnlichsten hielt.

Die traditionellen moralischen Regeln, die wir zu Beginn dieses Kapitels untersuchten – kindliche Liebe, weibliche Unterordnung, Loyalität gegenüber Königen und so weiter – sind alle völlig 'oder teilweise verfallen. Es kann ihnen, wie in der Renaissance, die Abwesenheit moralischer Zurückhaltung oder, wie während der Reformation, ein neuer Kodex folgen, der in vieler Hinsicht strenger ist als der veraltete. Loyalität gegenüber dem Staat spielt heutzutage in der positiven Moral eine viel größere Rolle als früher; dies ist natürlich das Ergebnis des Anwachsens der staatlichen Macht. Die Teile der Moral, die andere Gruppen betreffen, wie zum Beispiel Familie und Kirche, haben an Bedeutung eingebüßt; aber ich habe noch keinen Beweis dafür, dass moralische Prinzipien und Gefühle im Vergleich weniger Einfluss auf die Handlungen von Menschen hätten als im achtzehnten Jahrhundert oder im Mittelalter.

Wir wollen dieses Kapitel mit einer zusammenfassenden Analyse abschließen. Primitive Gesellschaftsformationen halten gewöhnlich den Ursprung ihrer Moral für übernatürlich; wir können zum Teil keinen Grund für diesen Glauben finden, aber in beträchtlichem Maße stellt er das Gleichgewicht der Macht in der betreffenden Gesellschaft dar: Die Götter halten Unterordnung unter den Mächtigen für eine Pflicht, aber der Mächtige darf nicht so skrupellos sein, dass er Empörung hervorruft. Unter dem Einfluss von Propheten und Weisen jedoch entsteht eine neue Moral, die manchmal sich neben der alten entwickelt, manchmal an ihren Platz tritt. Propheten und Weise haben mit wenigen Ausnahmen andere Dinge als Macht hochgeschätzt – Weisheit, Gerechtigkeit oder weltumfassende Liebe zum Beispiel – und haben große Teile der Menschheit davon überzeugt, dass diese Ziele mehr wert sind, verfolgt zu werden, als persönlicher Erfolg. Jene, die unter irgendeinem Teil des Gesellschaftssystems leiden, das der Prophet oder der Weise zu ändern wünscht, haben persönliche Gründe, seine Meinung zu unterstützen. Es ist die Verbindung ihres persönlichen Suchens mit seiner unpersönlichen Ethik, was die sich ergebende revolutionäre Bewegung unwiderstehlich macht.

Wir können nun zu einem Schluss kommen im Hinblick auf die Rolle der Empörung im gesellschaftlichen Leben. Es gibt zwei Arten von Empörung: Sie kann rein persönlichen Charakter haben, oder sie kann aus dem Wunsch nach einer anderen Art der Gemeinschaft erwachsen als der, in welcher der Empörer lebt. Im zweiten Fall kann sein Wunsch von anderen geteilt werden; in vielen Fällen würde er von allen geteilt, mit Ausnahme einer kleinen Minderheit, die aus dem herrschenden System profitiert. Dieser Typ des Rebellen ist konstruktiv, nicht anarchisch; selbst wenn seine Bewegung zu zeitweiliger Anarchie führt, zielt sie letzten Endes auf eine neue, stabile Gemeinschaft ab. Es ist der unpersönliche Charakter seiner Ziele, der ihn vom anarchischen Rebellen unterscheidet. Nur das Geschehen selbst kann für die allgemeine Öffentlichkeit entscheiden, ob eine Empörung schließlich für gerechtfertigt gehalten wird; wenn das der Fall ist, so wird die vorangegangene Autorität von ihrem eigenen Standpunkt aus klug gehandelt haben, wenn sie keinen verzweifelten Widerstand geleistet hat. Ein Individuum kann eine Lebensart oder eine Methode gesellschaftlicher Organisation erkennen, durch welche mehr von den Sehnsüchten der Menschheit erfüllt werden kann als durch die bisher bestehende. Wenn seine Erkenntnis richtig ist und er Menschen überzeugen kann, sich zu ihr zu bekennen, so ist er gerechtfertigt. Ohne Empörung würde die Menschheit stagnieren, und Ungerechtigkeit würde unheilbar sein. Der Mann, der sich weigert, der Autorität zu gehorchen, erfüllt daher unter bestimmten Bedingungen eine legitime Funktion, unter der Voraussetzung, dass sein Ungehorsam eher gesellschaftliche als persönliche Ursachen hat. Aber aus der Natur der Sache selbst geht hervor, dass man hier keinesfalls allgemeingültige Regeln aufstellen kann.