ELFTES
KAPITEL
DIE BIOLOGIE DER
ORGANISATIONEN
Wir haben bisher jene Gefühlsfaktoren betrachtet, die die wichtigsten psychologischen Quellen der Macht darstellen: Tradition, besonders in der Form von Achtung gegenüber Priestern und Königen; Furcht und persönlicher Ehrgeiz, die der Ursprung nackter Gewalt sind; die Ersetzung eines alten Glaubens durch einen neuen, was die Quelle revolutionärer Macht ist; und die Wechselwirkungen zwischen Anschauungen und anderen Machtquellen. Wir kommen nun zu einem neuen Abschnitt unseres Themas: zur Untersuchung der Organisationen, durch welche die Macht ausgeübt wird, indem wir sie zunächst einmal als Organismen mit eigenem Leben betrachten, dann in Beziehung zu ihren Regierungsformen und schließlich im Hinblick auf den Einfluss, den sie auf die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, ausüben. In diesem Abschnitt unseres Themas werden Organismen so weit wie möglich ohne Hinblick auf ihren Zweck betrachtet werden, etwa so, wie man den Menschen in der Anatomie und Biochemie ansieht.
Das in diesem Kapitel zu behandelnde Thema, nämlich die Biologie der Organisationen, beruht auf der Tatsache, dass eine Organisation auch ein Organismus ist mit eigenem Leben und einer Tendenz zu Wachstum und Verfall. Der Kampf zwischen Organisationen ist dem Kampf zwischen einzelnen Tieren und Pflanzen vergleichbar und kann auf mehr oder weniger Darwinsche Art gesehen werden. Dieser Vergleich darf jedoch, wie stets, nicht zu weit getrieben werden; er mag anregend und aufschlussreich sein, darf jedoch nicht als Beweis dienen. Wir dürfen zum Beispiel nicht annehmen, dass Niedergang unvermeidlich sei, wo es sich um gesellschaftliche Organisationen handelt.
Macht ist hauptsächlich, aber nicht völlig von Organisation abhängig. Rein psychologische Macht, wie die Platos oder Galileis, kann ohne entsprechende gesellschaftliche Einrichtung bestehen. Aber in der Regel ist selbst derartige Macht ohne Bedeutung, wenn sie nicht von einer Kirche, einer politischen Partei oder einem ähnlichen gesellschaftlichen Organismus propagiert wird. Für den Moment werde ich Macht, die nicht mit einer Organisation verbunden ist, beiseite lassen.
Eine Organisation ist eine Gruppe von Leuten, die zur Ausführung von auf gleiche Ziele gerichteten Handlungen zusammengefasst sind. Sie kann auf gänzlich freiwilliger Grundlage beruhen wie ein Klub; sie kann eine natürlich-biologische Gruppe sein wie eine Familie oder ein Clan; sie kann auf Zwang beruhen wie ein Staat oder eine komplizierte Mischung darstellen wie eine Eisenbahngesellschaft. Der Zweck einer Organisation kann offen oder verborgen, bewusst oder unbewusst sein; er kann militärischer, politischer, wirtschaftlicher, religiöser, erzieherischer oder sportlicher Art sein und so weiter. Jede Organisation, wie auch immer ihr Charakter und Zweck beschaffen sein mag, schließt Machtverteilung in sich. Es muss eine Leitung geben, die im Namen des Ganzen Beschlüsse fasst und über mehr Macht als die einzelnen Mitglieder verfügt, auf jeden Fall im Hinblick auf den Zweck, um dessentwillen die Organisation besteht. Je zivilisierter die Menschen werden und je komplizierter die Technik wird, desto mehr treten die Vorteile der Zusammenfassung in Erscheinung. Aber Zusammenfassung schließt immer eine gewisse Minderung der Unabhängigkeit in sich: Wir können mehr Macht über andere bekommen, aber andere erhalten auch Macht über uns. Mehr und mehr werden wichtige Entscheidungen von Gruppen von Menschen und nicht von einzelnen getroffen. Und die Entschlüsse von Gruppen von Menschen, sofern die Zahl ihrer Mitglieder nicht sehr gering ist, müssen durch Leitungen ausgeführt werden. So spielt die Leitung im Leben einer modernen zivilisierten Gemeinschaft notwendigerweise eine viel größere Rolle als im Leben der vorindustriellen Gesellschaft.
Selbst eine völlig demokratische Regierung – wenn so eine Sache überhaupt möglich wäre – schließt Machtverteilung in sich. Wenn jeder Mensch gleiches Stimmrecht in vereinten Entscheidungen hat und es, sagen wir, eine Million Mitglieder in einer Gesellschaft gibt, hat jedermann den millionsten Teil der Macht über die ganze Million, statt völliger Macht über sich selbst und keiner Macht über andere, wie es sein würde, wenn er ein auf sich gestelltes wildes Tier wäre. Dies erzeugt eine Psychologie, die sehr verschieden ist von der einer anarchischen Sammlung von Individuen. Und wo –wie es in gewissem Grade immer der Fall sein muss – die Regierung nicht völlig demokratisch ist, wird die psychologische Wirkung gesteigert. Die Mitglieder der Regierung haben mehr Macht als die anderen, selbst wenn sie auf demokratischem Wege gewählt sind; und in der gleichen Lage befinden sich die von einer demokratisch gewählten Regierung gewählten Beamten. Je größer die Organisation ist, desto größer ist die Macht der Exekutive. So steigert jedes Anwachsen des Umfanges der Organisationen die Ungleichheit der Macht, indem gleichzeitig die Unabhängigkeit der gewöhnlichen Mitglieder verringert und das Feld der Regierungsinitiative erweitert wird. Der Durchschnittsmensch ordnet sich unter, weil durch Zusammenwirken viel mehr erreicht werden kann als einzeln; der außergewöhnlich machtliebende Mensch freut sich, da er Möglichkeiten erhält – sofern nicht die Regierung erblich ist oder das machtliebende Individuum zu einer Gruppe gehört (wie etwa die Juden in manchen Ländern), die keine wichtigen Stellungen bekleiden darf.
Kampf um Macht zerfällt in zwei Arten: zwischen Organisationen und zwischen Individuen um die Führung innerhalb einer Organisation. Zwischen Organisationen entsteht Kampf nur dann, wenn sie mehr oder weniger ähnliche, aber miteinander nicht vereinbare Ziele haben; der Kampf kann wirtschaftlicher, militärischer oder propagandistischer Natur sein oder zwei oder alle drei Methoden einschließen. Als Napoleon III. dabei war, sich zum Kaiser zu machen, musste er eine seinen Interessen ergebene Organisation schaffen und dann seine Oberherrschaft sichern. Zu diesem Zweck gab er manchen Leuten Zigarren – das war wirtschaftlich; anderen sagte er, dass er der Neffe seines Onkels sei – das war Propaganda; schließlich erschoss er eine Anzahl von Gegnern – das war militärisch.(18) Seine Gegner hatten sich mittlerweile dem Lob der republikanischen Regierungsform gewidmet und Zigarren und Kugeln übersehen. Die Technik, wie man eine Diktatur über eine ehemalige Demokratie errichtet, ist seit griechischen Zeiten bekannt gewesen und verlangt jedesmal die gleiche Mischung von Bestechung, Propaganda und Gewalt. Das steht allerdings gegenwärtig nicht zur Diskussion, sondern vielmehr die Biologie der Organisationen.
In zwei wesentlichen Bedingungen können Organisationen sich voneinander unterscheiden: die eine ist die Größe, die andere ist, was man Machtdichte nennen könnte, womit ich den Grad von Kontrolle meine, den sie über ihre Mitglieder ausüben. Aus Machtliebe, die bei Erwerbern von Regierungsposten erwartet werden kann, wird jede Organisation beim Fehlen von Gegenkräften danach streben, in Umfang und Machtdichte zuzunehmen. Jede Wachstumsform kann durch wirkliche Ursachen aufgehalten werden; ein internationaler Schachklub zum Beispiel kann dazu kommen, alle Spieler von genügender Klasse in sich zu schließen und wird wahrscheinlich nicht die Handlungen seiner Mitglieder beaufsichtigen wollen, die nicht mit Schach verbunden sind. Er könnte unter einem energischen Sekretär versuchen, mehr Leute »schachbewusst« zu machen, aber das wird wahrscheinlich nicht geschehen, wenn der Sekretär ein guter Schachspieler ist; und wenn es geschehen sollte, so könnte der Klub durch den Weggang der besten Spieler ruiniert werden. Aber solche Fälle sind Ausnahmen; wo der Zweck der Organisation ein allgemeiner ist – zum Beispiel Reichtum oder politische Herrschaft –, wird der Größenzuwachs nur entweder durch den Druck anderer Organisationen aufgehalten oder dadurch, dass die fragliche Organisation weltweiten Umfang annimmt; und Zuwachs an Dichte wird nur da aufgehalten, wo die Sehnsucht nach persönlicher Unabhängigkeit überwältigend stark wird.
Das einleuchtendste Beispiel dafür ist der Staat. Jeder Staat, der genügende Macht besitzt, ist auf Eroberung aus; gegenteilige Beispiele ergeben sich nur, wenn ein Staat aus Erfahrung weiß, dass er weniger stark ist als er scheint, oder aus Unerfahrenheit glaubt, er sei nicht so stark, wie er in Wirklichkeit ist. Die allgemeine Regel ist, dass ein Staat erobert, was er erobern kann, und nur dann innehält, wenn er eine Grenze erreicht, wo ein anderer Staat oder andere Staaten einen gleich starken Druck ausüben können. Großbritannien hat Afghanistan nicht erobert, weil Russland dort genauso mächtig wie die Engländer ist; Napoleon verkaufte Louisiana an die Vereinigten Staaten, weil es ihm nicht möglich war, es zu verteidigen, und so weiter. Soweit innerliche Kräfte betroffen sind, strebt jeder Staat danach, Weltstaat zu werden. Aber die Macht eines Staates ist in höherem oder geringerem Maße geographisch bedingt: sie strahlt gewöhnlich von einem Zentrum aus und verringert sich, je weiter sie sich vom Zentrum entfernt. Infolgedessen ist in größerer oder kleinerer Entfernung von der Mitte seine Macht im Gleichgewicht mit der eines anderen Staates, und dort werden die Grenzen liegen, sofern nicht die Macht der Tradition eingreift.
Was gerade gesagt wurde, ist zu abstrakt, um ohne Modifizierung wahr zu sein. Kleine Staaten existieren nicht durch eigene Macht, sondern durch die Eifersucht der großen; Belgien zum Beispiel besteht, weil seine Existenz für England und Frankreich günstig ist. Portugal besitzt große Kolonien, weil die Großmächte sich über ihre Aufteilung nicht einig werden können. Da Krieg eine ernste Sache ist, kann ein Staat für ziemlich lange Zeit ein Gebiet halten, das er verlieren würde, wenn es irgendeinem starken Staat einfallen würde, es zu nehmen. Aber diese Erwägungen besagen nichts gegen unsren allgemeinen Grundsatz; sie bringen nur Reibungen ins Spiel, die das Wirken der reinen Macht verzögern.
Man könnte die Behauptung aufstellen, dass die Vereinigten Staaten eine Ausnahme bei dem Grundsatz, ein Staat erobere, was er erobern könne, bildeten. Offenbar würde die Eroberung Mexikos und sogar ganz Lateinamerikas keine ernsten Schwierigkeiten machen, wenn die Vereinigten Staaten wirklich an diese Aufgabe herangehen wollten. Die gewöhnlichen Triebkräfte für politische Eroberung werden jedoch in diesem Fall gegenwärtig von verschiedenen Gegenkräften ausgeglichen. Vor dem Bürgerkrieg hatten die Südstaaten imperialistische Tendenzen, die im mexikanischen Krieg ein Ventil fanden und zur Annexion eines riesigen Gebietes führten. Nach dem Bürgerkrieg stellten die Ansiedlung und die wirtschaftliche Entwicklung des Westens eine Aufgabe dar, die die Energien selbst der energischsten Nation absorbieren musste. Sobald diese Aufgabe zu einem gewissen Abschluss gelangt war, gab der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 dem Imperialismus neuen Auftrieb. Aber Gebietsannexion begegnet unter der amerikanischen Verfassung Schwierigkeiten: Sie bedeutet die Zulassung neuer Wähler, die unerwünscht sein können, und – was noch wichtiger ist – sie erweitert den Raum des inneren Freihandels und schädigt auf diese Weise bedeutende wirtschaftliche Interessen. Die Monroedoktrin, die ein tatsächliches Protektorat über Lateinamerika einschließt, dient daher den herrschenden Interessen mehr als die Annexion. Wenn politische Eroberung von wirtschaftlichem Vorteil wäre, würde sie zweifellos bald Wirklichkeit werden.
Immer ist Machtkonzentration in der politischen Sphäre von den Herrschenden angestrebt und nicht immer von den Beherrschten bekämpft worden. Dem Namen nach war sie in den großen Reichen des Altertums vollkommener als selbst im am meisten diktatorischen der modernen Regime, in der Praxis aber wurde sie von dem eingeschränkt, was technisch möglich war. Das für die antiken Monarchen dringendste Problem war Beweglichkeit. In Ägypten und Babylonien wurde es durch die großen Ströme erleichtert; die persische Herrschaft dagegen hing von den Straßen ab. Herodot beschreibt die große königliche Straße von Sardis nach Susa über eine Entfernung von etwa 1500 englischen Meilen, auf der in Friedenszeiten die Boten des Königs eilten und im Kriege seine Armeen. »Der wahrhaftige Bericht über die betreffende Straße«, sagt er, »lautet folgendermaßen: Königliche Stationen und vorzügliche Karawansereien sind über ihre ganze Länge hin verteilt; und überall durchquert sie unbewohnte Gegenden und ist frei von Gefahren ... Wo sie Phrygien verlässt, muss der Halys überschritten werden; und hier befinden sich Tore, durch die du gehen musst, bevor du den Strom überqueren kannst. Eine starke Streitmacht bewacht diesen Posten ... Die Grenze zwischen Cilicien und Armenien wird vom Euphratfluss gebildet, über den man in Booten setzen muss. Die Zahl der Ruheplätze in Armenien beläuft sich auf fünfzehn, und die Entfernung beträgt 56 und eine halbe Parasange (etwa 180 Meilen). Dort gibt es einen Platz, wo eine Wache aufgestellt ist. Vier breite Ströme durchschneiden dieses Gebiet, die alle mit Booten überquert werden müssen ... Die Gesamtanzahl der Stationen ist auf 111 erhöht worden; so viele Ruheplätze findet man nämlich zwischen Sardis und Susa.« Er erklärt weiter, dass, »wenn man neunzehn Meilen am Tage zurücklegt« (was etwa der Leistung eines Heeres entspricht), »man genau neunzig Tage braucht, um die ganze Reise zu machen«.(19)
Wenn auch eine solche Straße ein ausgedehntes Reich möglich machte, befähigte sie den König nicht, eine genaue Kontrolle über die Satrapen entfernter Provinzen auszuüben. Ein berittener Bote konnte Nachrichten von Sardis nach Susa in einem Monat bringen, aber eine Armee brauchte drei Monate, um von Susa nach Sardis zu marschieren. Als die Jonier sich gegen Persien empörten, hatten sie mehrere Monate zu ihrer Verfügung, bevor sie auf Truppen trafen, die nicht bereits in Kleinasien gestanden hatten. Alle antiken Reiche litten unter Revolten, die oft von den Gouverneuren der Provinzen geführt waren; und selbst wenn kein offener Aufstand ausbrach, war lokale Autonomie beinahe nicht zu vermeiden, außer wenn die Eroberung neuen Datums war, und diese Lokalautonomie entwickelte sich leicht im Laufe der Zeit zur Unabhängigkeit. Kein großer Staat des Altertums wurde im selben Maße vom Zentrum aus regiert, wie es jetzt üblich ist; und der Hauptgrund dafür war der Mangel an Beweglichkeit.
Das römische Reich lernte durch die Mazedonier von den Persern, wie man die Zentralregierung durch Straßenbau verstärken konnte. Kaiserliche Boten konnten mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zehn Stundenmeilen Tag und Nacht durch West-und Südeuropa, Nordafrika und Westasien reisen. Aber in jeder Provinz wurde die kaiserliche Post vom militärischen Befehlshaber kontrolliert, der daher seine Armeen verschieben konnte, ohne dass es jemand außerhalb ihrer Marschrichtung wissen konnte. Die Schnelligkeit der Legionen und die Langsamkeit der Nachrichtenübermittlung brachte den Empörern gegen den Kaiser in Rom oft Vorteile. Wenn Gibbon von Konstantins Zug aus Nordgallien nach Italien berichtet, stellt er die Leichtigkeit seiner Bewegungen den Schwierigkeiten Hannibals gegenüber:
»Als Hannibal von Gallien nach Italien zog, musste er einen Weg über das Gebirge und durch wilde Völker, die niemals zuvor einer regulären Armee den Durchzug erlaubt hatten, erst finden und dann öffnen. Die Alpen waren damals von der Natur geschützt, sie sind nun durch menschliche Kunst befestigt. Aber im Laufe der dazwischenliegenden Periode sind die Feldherren, die die Überschreitung unternahmen, selten auf Schwierigkeiten oder Widerstand gestoßen. Zu Konstantins Zeit waren die Bergbauern zivilisierte und gehorsame Untertanen; das Land war im Besitz von gewaltigen Vorräten, und die erstaunlichen Landstraßen, die die Römer über die Alpen gebaut hatten, öffneten verschiedene Verbindungswege zwischen Gallien und Italien. Konstantin bevorzugte die Straße über die Cottischen Alpen – heute nennt man sie den Mont Cenis – und führte seine Truppen mit solcher Schnelligkeit, dass er in die Ebenen von Piemont kam, bevor der Hof des Maxentius (in Rom) gewisse Nachricht von seinem Aufbruch von den Ufern des Rheins erhalten hatte.«
Als Ergebnis wurde Maxentius geschlagen, und das Christentum wurde Staatsreligion. Die Weltgeschichte wäre vielleicht anders verlaufen, wenn die Römer schlechtere Straßen oder eine bessere Nachrichtenübermittlung gehabt hätten.
Dampfschiffe, Eisenbahnen und schließlich Flugzeuge haben den Regierungen ermöglicht, ihre Macht auf schnelle Weise über große Entfernungen hin auszuüben. Ein Aufstand in der Sahara oder in Mesopotamien kann nun innerhalb weniger Stunden unterdrückt werden, während es vor hundert Jahren Monate erfordert hätte, eine Armee hinüberzuschicken, und es große Schwierigkeiten gekostet hätte, sie vor dem Verdursten, wie Alexanders Soldaten in Belutschistan, zu bewahren.
So wichtig wie die Beweglichkeit von Menschen und Waren ist die Schnelligkeit bei der Übermittlung von Nachrichten. Im Kriege von 1812 wurde die Schlacht von New Orleans nach Friedensschluss geschlagen, obwohl keiner der gegnerischen Armeen diese Tatsache bekannt war. Am Ende des siebenjährigen Krieges nahmen britische Streitkräfte Kuba und die Philippinen, aber das wurde in Europa bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages nicht bekannt. Bis zur Erfindung des Telegraphen hatten Botschafter in Friedens-und Generäle in Kriegszeiten notwendigerweise sehr viel Spielraum, da ihre Anweisungen die letzten Ereignisse nicht in Rechnung stellen konnten. Vertreter einer entfernten Regierung wurden sehr häufig aufgefordert, nach ihrem persönlichen Urteil zu handeln, und wurden auf diese Weise viel mehr als bloße Übermittler einer zentral geleiteten Politik.
Nicht nur die absolute Schnelligkeit in der Nachrichtenübermittlung ist wichtig, sondern auch, und noch mehr, die Tatsache, dass Botschaften schneller reisen als Menschen. Bis vor wenig mehr als hundert Jahren konnten weder Botschaften noch andere Dinge schneller sein als ein Pferd. Ein Straßenräuber konnte in die Nachbarstadt entkommen, bevor dort die Nachricht von seinem Verbrechen bekannt wurde. Heutzutage ist Flucht schwieriger, seitdem Nachrichten zuerst ankommen. In Kriegszeiten werden alle Mittel schneller Verbindung von Regierungen kontrolliert, was ihre Macht außerordentlich steigert.
Die moderne Technik hat nicht allein durch die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung, sondern auch durch Eisenbahnen, Telegraph, motorisierten Verkehr und Regierungspropaganda die Stabilität großer Reiche gegenüber der in früheren Zeiten sehr erhöht. Persische Satrapen und römische Prokonsuln besaßen genug Unabhängigkeit, um sich leicht empören zu können. Alexanders Reich zerfiel nach seinem Tode. Die Reiche von Attila und Dschingis-Khan waren von kurzer Dauer; und die europäischen Nationen verloren die meisten ihrer Besitzungen in der Neuen Welt. Aber mit der modernen Technik werden die meisten Reiche ziemlich sicher, außer gegen äußeren Angriff, und Revolutionen sind nur nach Niederlagen im Krieg wahrscheinlich.
Technische Ursachen, muss übrigens bemerkt werden, haben nicht nur in der Richtung einer Erleichterung der Ausübung von Staatsmacht über Entfernungen hin gewirkt; in mancher Beziehung haben sie eine gegenteilige Wirkung gehabt. Hannibals Armee bestand viele Jahre hindurch, ohne ihre Verbindungslinien offen zu halten, während eine große moderne Armee unter solchen Bedingungen nicht länger als zwei oder drei Tage aushalten könnte. Solange Flotten von Segeln abhingen, erstreckte sich ihr Wirkungskreis über die Welt; nun, da sie oft Brennstoff aufnehmen müssen, sind sie nicht fähig, weit von einer Basis entfernt zu operieren. Wenn in Nelsons Tagen die Engländer das Meer in einer Gegend beherrschten, beherrschten sie es überall; heute, wenn sie auch ihre Heimatgewässer beherrschen mögen, sind sie schwach im Fernen Osten und haben zur Ostsee keinen Zutritt.
Nichtsdestoweniger heißt die große Regel, dass es heutzutage leichter als früher ist, Macht über eine Entfernung vom Zentrum auszuüben. Das bewirkt, dass sich die Intensität des Wettbewerbs zwischen Staaten verstärkt und der Sieg vollkommener wird, da die sich ergebende Größenausdehnung die Leistungsfähigkeit nicht zu schmälern braucht. Ein Weltstaat ist heute eine technische Möglichkeit und könnte in einem wirklich ernsthaften Weltkrieg vom Sieger oder noch eher vom mächtigsten Neutralen errichtet werden.
Was Machtdichte oder, wie man es auch nennen kann, Organisationsintensität angeht, so sind die auftauchenden Fragen verwickelt und von großer Bedeutung. In jedem zivilisierten Land ist der Staat heute viel aktiver als in früheren Zeiten; in Russland, Deutschland und Italien greift er in fast alle menschlichen Belange ein. Da die Menschen machtliebend sind und da im Durchschnitt jene, die an die Macht kommen, sie noch mehr lieben, darf man von den Männern an der Spitze in normalen Verhältnissen erwarten, dass sie eine Erweiterung der inneren Aktivität des Staates ebenso sehr wünschen wie eine Erweiterung seines Territoriums. Da man gute Gründe hat, die Staatsfunktionen zu vermehren, wird man auf der Seite der Durchschnittsbürger dazu neigen, den Wünschen der Regierung in dieser Beziehung zuzustimmen. Trotzdem ist ein gewisser Wille zur Unabhängigkeit vorhanden, der an einem gewissen Punkt der Entwicklung stark genug werden kann, um wenigstens für eine Zeit ein weiteres Anwachsen der Intensität der Organisation zu verhindern. Daraus folgt, dass Unabhängigkeitsstreben bei den Bürgern und Machtliebe bei den Beamten, wenn die Organisation eine bestimmte Intensität erreicht, sich zumindest zeitweise die Waage halten werden, so dass beim Anwachsen der Organisation Unabhängigkeitswille zur stärkeren Kraft und bei ihrer Verminderung amtliche Machtliebe zur stärkeren Kraft würde.
Unabhängigkeitswille ist in den meisten Fällen keine abstrakte Ablehnung äußerer Eingriffe, sondern Abneigung gegen eine Form von Kontrolle, die die Regierung als wünschenswert ansieht – Alkoholverbot, Wehrpflicht, religiöser Konformismus und was es sonst noch gibt. Derartige Gefühle können manchmal allmählich durch Propaganda und Erziehung beseitigt werden, da durch diese der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit außerordentlich geschwächt werden kann. Viele Kräfte wirken zusammen, um modernen Gemeinschaften uniformen Charakter zu verleihen – Schulen, Zeitungen, Kino, Radio, Drill und so weiter. Gleiche Wirkung hat Bevölkerungsdichte. Ein augenblickliches Gleichgewicht zwischen dem Gefühl für Unabhängigkeit und der Machtliebe verliert sich daher unter neuzeitlichen Bedingungen mehr und mehr in die Richtung der Macht und erleichtert auf diese Weise die Schaffung und den Erfolg totalitärer Staaten. Durch Erziehung kann Unabhängigkeitsliebe in einem Grade geschwächt werden, dessen Grenzen heutzutage nicht bekannt sind. Wie weit die innere Staatsmacht allmählich erhöht werden kann, ohne eine Revolte hervorzurufen, kann man nicht sagen; aber es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie zu gegebener Zeit weit über den Punkt hinaus gesteigert werden kann, der heute selbst in den am meisten autokratischen Staaten erreicht ist.
Vom Staat unterschiedliche Organisationen unterliegen meist Gesetzen von der gleichen Art, die wir bereits untersucht haben, nur können sie keine Gewalt gebrauchen. Ich nehme die von meiner Betrachtung aus, die dem Machttrieb wenig Spielraum gewähren, zum Beispiel Klubs. Die für unsere Zwecke wichtigsten sind politische Parteien, Kirchen und Wirtschaftsvereinigungen. Die meisten Kirchen erstreben Universalität, so gering auch immer die dafür vorhandene Möglichkeit sei. Ebenfalls versuchen die meisten, einige der intimsten Angelegenheiten ihrer Mitglieder zu regeln, wie etwa Heirat und Kindererziehung. Wenn es sich als möglich erwies, haben die Kirchen sich die Funktionen des Staates angeeignet, wie in Tibet und im Bereich von St. Peter und in gewissem Maße in ganz Westeuropa bis zur Reformation. Mit wenigen Ausnahmen wurde der Machttrieb der Kirchen nur durch den Mangel an Gelegenheit beschränkt sowie durch die Furcht vor Empörung in der Form von Häresie oder Schisma. Jedoch hat der Nationalismus ihre Macht in vielen Ländern erheblich verringert und viele Gemütsbewegungen, die früher in der Religion ein Ventil fanden, zum Staat hinübergespielt.(20) Die Verminderung der Stärke der Religion ist teils Ursache, teils Wirkung des Nationalismus und der erhöhten Kraft nationaler Staaten.
Politische Parteien waren bis vor kurzem sehr lose Organisationen, die nur geringe Versuche machten, die Handlungen ihrer Mitglieder zu kontrollieren. Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch stimmten Parlamentsmitglieder sehr häufig gegen ihre Parteiführer, was zur Folge hatte, dass die Ergebnisse von Spaltungen weit weniger vorauszusagen waren als heute. Walpole, North und der jüngere Pitt beherrschten ihre Anhänger in bestimmtem Maße durch Korruption; nach der Abnahme der Korruption aber, und als die Politik noch aristokratischen Charakter besaß, hatten Regierungen und Parteiführer keine Möglichkeit, einen wirksamen Druck auszuüben. Heutzutage, besonders in der Labour Party, sind die Menschen zur Orthodoxie verpflichtet. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, so bedeutet das gewöhnlich sowohl politisches Verschwinden wie finanziellen Verlust. Zwei Arten von Loyalität werden verlangt: dem Programm gegenüber, in den Meinungen, die man äußert; und den Führern gegenüber, in der täglichen Aktion. über das Programm entscheidet man auf eine Weise, die man demokratisch nennt, die aber von wenigen Drahtziehern beeinflusst wird. Es bleibt den Führern überlassen, ob sie in ihrer Parlaments-oder Regierungsaktivität versuchen, das Programm durchzufahren; wenn sie sich entscheiden, es nicht zu tun, so ist es die Pflicht ihrer Anhänger, ihren Wortbruch bei Wahlen mit ihrer Stimme zu unterstützen, während sie zugleich in ihren Reden zu bestreiten haben, dass dieser Wortbruch stattgefunden hat. Es ist dieses System, das den Führern die Macht verliehen hat, sich ihren Gefolgsleuten gegenüberzustellen und Reformen zu empfehlen, die sie nicht durchzusetzen haben.
Wenn auch die Organisationsdichte in allen politischen Parteien stark zugenommen hat, so ist sie in demokratischen Parteien immer noch unermesslich geringer als unter Kommunisten, Faschisten und Nazis. Diese letzteren sind, vom historischen und psychologischen Gesichtspunkt aus, eine Entwicklung nicht der politischen Partei, sondern der Geheimgesellschaft. Unter einer autokratischen Regierung sind Menschen, die eine grundsätzliche Änderung wollen, zur Heimlichkeit gezwungen, und Furcht vor Verrat führt in ihrer Verbindung zu einer sehr straffen Disziplin. Es ist natürlich, eine bestimmte Lebensführung als Sicherung gegen Spione zu fordern. Das Risiko, die Heimlichkeit, das gegenwärtige Leiden und die Hoffnung auf den künftigen Sieg bringen eine quasi-religiöse Hochstimmung hervor und ziehen jene an, denen diese Stimmung zusagt. Daher gibt es mit Wahrscheinlichkeit in einer revolutionären Geheimgesellschaft, selbst wenn ihr Ziel die Anarchie ist, einen strengen Despotismus und eine Überwachung, die weit über alles hinausreicht, was man in der Regel als politische Aktivität ansieht. Nach dem Fall Napoleons wimmelte Italien von Geheimgesellschaften, zu denen sich manche durch die revolutionäre Theorie, andere durch verbrecherische Praxis hingezogen fühlten. Das gleiche geschah in Russland beim Aufstieg des Terrorismus. Sowohl russische Kommunisten wie auch italienische Faschisten waren tief von der Mentalität der geheimen Gesellschaft bestimmt, und die Nazis waren nach ihrem Muster gemacht. Als ihre Führer zur Macht kamen, regierten sie den Staat im selben Geiste, wie sie vorher ihre Parteien regiert hatten. Und die entsprechende Gesinnung der Unterwerfung wird in der ganzen Welt von ihren Anhängern verlangt.
Das Anwachsen der Größe des Umfangs von wirtschaftlichen Organisationen gab Marx seine Ansichten über die Dynamik der Macht ein. Vieles, was er zu diesem Thema gesagt hat, hat sich bestätigt, ist aber auf alle Organisationen anwendbar, die dem Machttrieb Handlungsfreiheit gewähren, und nicht nur auf jene, die wirtschaftliche Funktionen erfüllen. Die Tendenz in der Produktion ging in der Richtung der Herausbildung von Trusts, die sich mit einem großen Staat und seinen Satelliten entwickeln, selten aber, mit der Ausnahme der Rüstungsindustrie, in Richtung der Bildung von weltumspannenden Trusts. Tarife und Kolonien haben die Großwirtschaft in engen Zusammenhang mit dem Staat gebracht. Eroberung auf wirtschaftlichem Gebiet beruht auf der militärischen Stärke der Nation, zu der der betreffende Trust gehört; sie wird nicht mehr oder nur in beschränktem Umfang von den alten Methoden des rein geschäftlichen Wettbewerbs bestimmt. In Italien und Deutschland ist die Beziehung zwischen Großwirtschaft und Staat enger und offener als in demokratischen Ländern, aber es würde ein Irrtum sein zu glauben, dass unter dem Faschismus die Großwirtschaft den Staat stärker als in England, Frankreich oder Amerika kontrolliert. Im Gegenteil hat der Staat in Italien und Deutschland die Furcht vor dem Kommunismus dazu benützt, sich die Großwirtschaft wie alles übrige zu unterwerfen. Zum Beispiel wird in Italien eine sehr drastische Kapitalabgabe eingeführt, während eine viel sanftere Form der gleichen Maßnahme, als sie von der britischen Arbeiterpartei vorgeschlagen wurde, einen unwilligen Aufschrei der Kapitalisten hervorrief, der vollen Erfolg hatte.
Wenn zwei Organisationen mit verschiedenen, aber nicht unvereinbaren Zielen miteinander verschmelzen, ergibt sich eine machtvollere als entweder jede der beiden vorhergegangenen oder sogar als beide zusammengenommen. So ist es von Vorteil, wenn die ganze Stahlindustrie, von der Erzförderung bis zum Schiffsbau, von einer Gesellschaft kontrolliert wird. Daher gibt es eine natürliche Tendenz zur Verschmelzung; und das trifft nicht nur auf das wirtschaftliche Gebiet zu. Das logische Ergebnis dieses Prozesses ist, dass die mächtigste Organisation, gewöhnlich der Staat, alle anderen in sich aufnimmt. Die gleiche Tendenz würde mit der Zeit zur Errichtung eines Weltstaats führen, wenn die Interessen der verschiedenen Staaten nicht miteinander unvereinbar wären. Wenn das Ziel von Staaten Reichtum, Gesundheit, Intelligenz oder Glück ihrer Bürger wäre,
gäbe es keine Unvereinbarkeit; da diese Begriffe, einzeln oder gemeinsam, aber für geringfügiger als nationale Macht gehalten werden, stoßen die Interessen der verschiedenen Staaten aufeinander und können durch Verschmelzung nicht gefördert werden. Daher kann, wenn überhaupt, ein Weltstaat nur entstehen, wenn ein bestimmter Staat die Welt erobert oder durch die allgemeine Annahme eines den Nationalismus übersteigenden Glaubens, wie es in früherer Zeit zuerst der Sozialismus, später der Kommunismus zu sein schien.
Die Beschränkung des Wachstums von Staaten infolge des Nationalismus ist das wichtigste Beispiel für eine Begrenzung, die man auch in Parteipolitik und Religion feststellen kann. Ich habe versucht, in diesem Kapitel Organisationen unabhängig von ihrem Zweck darzustellen. Ich halte es für wichtig zu bemerken, dass das bis zu einem gewissen Punkt möglich ist; aber es ist natürlich nur bis zu diesem Punkt möglich. Darüber hinaus muss man die Leidenschaft in Erwägung ziehen, auf die die Organisation hinzielt.
Die Begierden eines Individuums können in Gruppen zusammengefasst werden, von denen jede das darstellt, was Psychologen ein »Gefühl« nennen. Es gibt – um Gefühle von politischer Bedeutung zu nennen – Heimatliebe, Familienliebe, Vaterlandsliebe, Machtliebe, Vergnügungssucht; ebenso gibt es Gefühle der Abneigung, wie Furcht vor Schmerz, Trägheit, Fremdenhass, Hass gegen fremde Anschauungen und so weiter. Die Gefühle eines Menschen sind in jedem gegebenen Moment das komplizierte Ergebnis seiner Veranlagung, seiner Vergangenheit und seiner gegenwärtigen Lage. Jedes Gefühl, insofern es geeignet ist, Menschen im Zusammenwirken in höherem Grade als einzeln Vorteile zu verschaffen, wird bei günstiger Gelegenheit eine oder mehrere Organisationen entwickeln, die seiner Befriedigung dienen sollen. Betrachten wir zum Beispiel den Familiensinn. Er hat Organisationen für Wohnungsbau, Erziehung und Lebensversicherung hervorgebracht oder hervorbringen helfen, in denen die Interessen verschiedener Familien übereinstimmen. Er hat aber auch, in der Vergangenheit häufiger als heutzutage, Organisationen geschaffen, die die Interessen einer Familie auf Kosten von anderen vertreten, wie das Beispiel der Montagues und Capulets zeigt. Der dynastische Staat war eine derartige Organisation. Aristokratien waren Organisationen einiger Familien zur Sicherung von Privilegien auf Kosten der übrigen Gemeinschaft. Solche Organisationen beinhalten stets mehr oder weniger Gefühle der Abneigung: Furcht, Hass, Verachtung usw. Wo solche Gefühle stark empfunden werden, sind sie ein Hindernis für das Wachstum von Organisationen.
Die Theologie liefert Beispiele für diese Beschränkung. Mit der Ausnahme von einigen Jahrhunderten gegen Beginn der christlichen Ära wollten die Juden die Andersgläubigen nicht bekehren; sie begnügten sich mit dem Gefühl der Überlegenheit, das sie aus der Tatsache des Auserwähltseins ableiteten. Der Shintoismus, der lehrt, dass Japan vor der übrigen Welt geschaffen wurde, richtet sich nicht an jene, die keine Japaner sind. Jeder kennt die Geschichte der Auld Lichts, die man bei ihrer Ankunft im Himmel davor bewahrt, herauszufinden, dass es dort noch andere Leute gibt, weil man ihnen die himmlische Freude nicht verderben möchte. Ein ähnliches Gefühl kann eine verhängnisvollere Form annehmen: Verfolgung kann für den Verfolger so vergnüglich sein, dass er eine Welt ohne Ketzer unerträglich langweilig finden würde. Da Hitler und Mussolini lehren, dass der Krieg die edelste der menschlichen Beschäftigungen sei, könnten sie gleichermaßen nicht glücklich sein, wenn sie die Welt erobert und keine Feinde mehr zu bekämpfen hätten. In ähnlicher Weise wird Parteipolitik uninteressant, sobald eine Partei die fraglose Überlegenheit über die anderen gewonnen hat.
So kann eine Organisation, die ihren Anspruch an das Individuum von Begriffen, wie Stolz, Neid, Hass, Hochmut oder Freude am Kampf(21), ableitet, ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie sich über die Welt ausdehnt. In einer Welt, in der solche Leidenschaften stark sind, würde eine Organisation, wenn sie weltumfassend wird, auseinanderbrechen, denn sie hätte ihre ursprüngliche Kraft verloren.
Man wird bemerken, dass in dem eben Gesagten mehr die Gefühle gewöhnlicher Mitglieder von Organisationen als die Gefühle ihrer Führungen in Betracht gezogen wurden. Welchem Zweck auch eine Organisation dient, ihre Führung leitet Befriedigung aus der Macht ab und hat infolgedessen ein Interesse, das nicht mit dem ihrer Mitglieder identisch ist. Der Wunsch nach universeller Eroberung wird daher wahrscheinlich stärker in der Führung als in den Mitgliedern sein.
Es gibt nichtsdestoweniger einen bedeutenden Unterschied in der Dynamik von Organisationen, die auf durch Zusammenarbeit zu verwirklichenden Gefühlen beruhen, und solchen, deren Ziele im wesentlichen Konflikt beinhalten. Es handelt sich um ein umfangreiches Thema, und für den Augenblick beschäftigt mich nur die Andeutung der Grenzen bei der Untersuchung von Organisationen ohne Beziehung auf ihren Zweck.
Ich habe vom Wachstum einer Organisation gesprochen und ihrem Wettbewerb mit rivalisierenden Körperschaften. Um die Darwinsche Analogie zu vervollkommnen, müsste man etwas über Verfall und Alter sagen. Die Tatsache, dass die Menschen sterblich sind, ist an sich noch kein Grund, Organisationen für sterblich zu halten, und doch sind es die meisten von ihnen. Manchmal erleiden sie einen gewaltsamen Tod von außen her, aber es ist nicht das, was wir im Moment untersuchen wollen. Ich will vielmehr die Schwäche und Langsamkeit der Bewegung betrachten, die man oft an alten Organisationen bemerken kann und die der Bewegung alter Männer ähnlich ist. Eines der besten Beispiele ist das chinesische Reich vor der Revolution von 1911. Es handelte sich um die weitaus älteste Regierung der Welt; zur Zeit des Aufstiegs von Rom hatte es militärische Stärke gezeigt und in den großen Tagen des Kalifats; es besaß eine ständige Tradition hoher Zivilisation und eine seit langem errichtete Regierungspraxis fähiger Männer, die durch vergleichende Prüfungen für ihr Amt ausgewählt wurden. Die Stärke der Tradition und die Tyrannei von jahrhundertealter Gewohnheit waren die Ursachen des Zusammenbruchs. Es war unmöglich für die Gelehrten, zu verstehen, dass ein anderes Wissen als das der konfuzianischen Klassiker erforderlich war, um den Nationen des Westens entgegentreten zu können, oder dass die Maximen, die gegen halbbarbarische Grenzstämme Schutz gewährt hatten, gegen Europäer von keinem Nutzen waren. Was eine Organisation altern macht, ist Gewohnheit, die auf Erfolg beruht; wenn neue Verhältnisse entstehen, ist die Gewohnheit zu stark, um abgeschüttelt zu werden. In revolutionären Zeiten sind die ans Kommandieren Gewöhnten niemals fähig, schnell zu begreifen, dass sie nicht mehr auf den gewohnten Gehorsam rechnen können. Dazu entwickelt sich die Achtung gegenüber hervorragenden Personen, die ursprünglich ihre Autorität bestätigen sollte, zu steifer Etikette, die sie in der Aktion hindert und sie davon abhält, das für den Erfolg benötigte Wissen sich anzueignen. Könige können in der Schlacht nicht mehr Anführer sein, weil sie geheiligt sind; man kann ihnen nicht ungenießbare Wahrheiten auftischen, weil sie den Sprecher hinrichten lassen würden. Allmählich werden sie zu reinen Symbolen, und eines Tages kommen die Leute zur Erkenntnis, dass sie etwas als Symbol verehren, was keinen Wert hat.
Immerhin gibt es keinen Grund dafür, dass alle Organisationen sterblich sein sollten. Die amerikanische Verfassung zum Beispiel belegt keinen Menschen oder keine Gruppe mit einer Art Verehrung, die zu Unwissenheit und Unfähigkeit führt, noch gibt sie sich dazu her, außer in gewissem Maße in Beziehung auf den Obersten Gerichtshof, Gewohnheiten und Grundsätze aufzuspeichern, die Anpassung an neue Umstände verhindern. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum eine derartige Organisation nicht unbegrenzt weiter existieren sollte. Ich glaube daher, dass, während die meisten Organisationen früher oder später untergehen, und zwar entweder aus Erstarrung oder aus äußeren Ursachen, es keinen Grund für die Annahme gibt, dass dieses Schicksal unvermeidlich sei. Hier muss die biologische Analogie, wenn sie erzwungen wird, in die Irre führen.