SECHSTES
KAPITEL
NACKTE
GEWALT
In dem Grad, als die Ansichten und Gewohnheiten, die die traditionelle Macht aufrechterhalten haben, verfallen, wird diese entweder von Macht, die sich auf einen neuen Glauben stützt, oder von »nackter« Gewalt abgelöst, das heißt von einer Art Macht, die keinerlei Zustimmung vonseiten des Untertanen beinhaltet. Von solcher Art ist die Macht des Schlächters über die Schafe, einer eingedrungenen Armee über eine besiegte Nation und der Polizei über entdeckte Verschwörer. Die Macht der katholischen Kirche über Katholiken ist traditionell, aber ihre Gewalt über Ketzer, die verfolgt werden, ist nackt. Die Macht des Staates über loyale Bürger ist traditionell, seine Gewalt über Rebellen jedoch ist nackt. Organisationen, die eine lange Machtentwicklung hinter sich haben, durchlaufen gewöhnlich drei Phasen: zunächst die des fanatischen, aber nicht traditionellen Glaubens, der zur Eroberung führt; weiter jene allgemeiner Billigung der neuen Macht, die nun schnell traditionell wird; schließlich die Phase, in der die Macht, die jetzt gegen die Feinde der Tradition eingesetzt wird, sich wieder zur nackten Gewalt wandelt. Der Charakter einer Organisation unterliegt beim Durchlaufen dieser Stadien sehr erheblichen Veränderungen.
Die durch militärische Eroberung angeeignete Macht hört oft nach einer längeren oder kürzeren Frist auf, rein militärisch zu sein. Alle von den Römern eroberten Provinzen mit der Ausnahme von Judäa wurden bald zu loyalen Teilen des Reichs und fühlten keinen Wunsch mehr nach Unabhängigkeit. In Asien und Afrika unterwarfen sich die von den Mohammedanern eroberten christlichen Länder ihren neuen Herrschern ohne viel Widerstreben. Wales fand sich allmählich mit der englischen Herrschaft ab, während Irland sich gegen sie sträubte. Nachdem die Albigenser Ketzer mit militärischer Macht überwältigt worden waren, unterwarfen sich ihre Nachkommen innerlich und äußerlich der Autorität der Kirche. Die normannische Eroberung zeitigte in England eine königliche Familie, von der man nach einiger Zeit annahm, dass sie ein göttliches Recht auf den Thron besäße. Militärische Eroberung ist nur dann von Dauer, wenn die psychologische Eroberung ihr folgt, die Fälle jedoch, in denen dies geschah, sind sehr zahlreich.
Nackte Gewalt tritt in der Regierung einer Gemeinschaft, die nicht fremden Eroberern unterworfen ist, unter zwei verschiedenen Gruppen von Umständen auf: erstens da, wo zwei oder mehr fanatische Ideologien um den obersten Rang im Wettstreit liegen; zweitens da, wo alle traditionellen Ansichten im Verfall begriffen sind, ohne dass andere neue sie ersetzt haben, so dass persönlichem Ehrgeiz keine Grenzen gesetzt sind. Der erstere Fall ist kein »reiner«, da die Anhänger der herrschenden Ideologie nicht der nackten Gewalt untertan sind. Ich werde ihn im nächsten Kapitel unter der Überschrift »Revolutionäre Macht« untersuchen. Für den Moment werde ich mich auf den zweiten Fall beschränken.
Die Definition der nackten Gewalt ist psychologischer Art, und eine Regierung kann »nackt« sein im Verhältnis zu einigen ihrer Untertanen, im Verhältnis zu anderen aber nicht. Die vollkommensten Beispiele, die ich kenne, sind, von fremder Eroberung abgesehen, die spätgriechischen Tyranneien und einige italienische Renaissancestaaten.
Die griechische Geschichte weist wie ein Laboratorium eine große Anzahl beschränkter Experimente auf, die für das Studium
der politischen Macht von großem Interesse sind. Das erbliche Königtum des homerischen Zeitalters endete vor dem Beginn der Geschichtsschreibung und war von erblicher Aristokratie gefolgt. Wo die verlässliche Geschichte der griechischen Städte beginnt, lagen Aristokratie und Tyrannis im Kampf. Sparta ausgenommen, war die Tyrannis zeitweise überall siegreich. Ihr folgte aber entweder die Demokratie oder eine restaurierte Aristokratie, manchmal in der Form der Plutokratie. Diese erste Epoche der Tyrannis schloss den größten Teil des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christi Geburt ein. Es war kein Zeitalter nackter Gewalt wie die spätere Periode, die ich besonders gründlich behandeln werde; nichtsdestoweniger bereitete es der Gesetzlosigkeit und Gewalt späterer Zeiten den Weg.
Das Wort »Tyrann« bezeichnete ursprünglich keine schlechten Eigenschaften des Herrschers, sondern nur das Fehlen eines legalen oder traditionellen Titels. Viele der frühen Tyrannen regierten weise und mit Zustimmung der Mehrheit ihrer Untertanen. Ihre einzigen unversöhnlichen Feinde waren im allgemeinen allein die Aristokraten. Die meisten der frühen Tyrannen waren sehr reiche Leute, die sich den Weg zur Macht erkauften und diese mehr durch wirtschaftliche als durch militärische Mittel hielten. Man könnte sie eher mit den Medici als mit den Diktatoren unserer Tage vergleichen.
Das erste Zeitalter der Tyrannei war jenes, in dem die Münzprägung üblich wurde, und diese hatte etwa dieselbe Wirkung auf den Machtzuwachs reicher Männer wie Kredit und Papiergeld in jüngst verflossener Zeit. Man behauptet – ich bin nicht berechtigt, darüber zu entscheiden, inwieweit dies zutrifft, dass die Einführung der Währung mit dem Aufstieg der Tyrannis in Verbindung steht; gewiss war der Besitz von Silberminen eine Hilfe für den Mann, der Tyrann werden wollte. Der Gebrauch von Geld stört, wenn er jüngeren Datums ist, alte Gebräuche in entscheidendem Maße, wie man in jenen Teilen Afrikas feststellen kann, die noch nicht lange unter europäischer Kontrolle stehen. Im siebenten und sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt bewirkte er eine Zunahme der Macht des Handels und eine Machtverringerung der grundbesitzenden Aristokratien. Bis zur Eroberung Kleinasiens durch die Perser gab es wenige und unwesentliche Kriege in der griechischen Welt, und ein unerheblicher Teil der produktiven Arbeit wurde von Sklaven ausgeführt. Die Umstände waren ideal für wirtschaftliche Macht, die den Halt der Tradition in ähnlichem Maße lockerte wie der Industrialismus im neunzehnten Jahrhundert.
Solange es jedem möglich war, zu Wohlstand zu kommen, hatte die Schwächung der Tradition mehr gute als böse Folgen. Sie zog bei den Griechen den bis heute schnellsten Fortschritt der Zivilisation nach sich – mit der möglichen Ausnahme der letzten vier Jahrhunderte. Die Freiheit griechischer Kunst, Wissenschaft und Philosophie ist die eines blühenden Zeitalters, das vom Aberglauben unbehindert dahingeht. Aber die gesellschaftliche Struktur besaß nicht die notwendige Härte, um Widrigkeiten widerstehen zu können, und die Individuen verfügten nicht über die moralischen Grundsätze, kraft derer man zerstörende Verbrechen vermeidet, sobald Tugend nicht mehr Erfolg bringt. Eine lange Reihe von Kriegen verringerte die freie Bevölkerung und vergrößerte die Anzahl der Sklaven. Das eigentliche Griechenland geriet schließlich unter die Herrschaft Mazedoniens, während das hellenische Sizilien trotz immer heftigeren Revolutionen, Bürgerkriegen und Tyranneien fortfuhr, gegen die Macht Karthagos, später Roms zu kämpfen. Die Tyranneien von Syrakus verdienen unsere Aufmerksamkeit, weil sie sowohl eines der vollkommensten Beispiele für nackte Gewalt bieten als auch Plato beeinflussten, der mit dem älteren Dionys in Streit geriet und aus dem jüngeren einen Schüler zu machen suchte. Die Ansichten der späteren Griechen, wie überhaupt die Ansichten der folgenden Jahrhunderte über die griechischen Tyrannen im allgemeinen, waren zum großen Teil von den unglücklichen Beziehungen der Philosophen zu Dionys dem Älteren und seinen Nachfolgern in der Misswirtschaft von Syrakus beeinflusst.
»Die Maschinerie des Betrugs«, sagte Grote, »durch die das Volk in eine zeitweilige Abhängigkeit gebracht werden sollte, als Vorstufe zur Maschinerie der Gewalt, welche diese Unterwerfung gegen den Willen der Menschen verewigen sollte – sie war das Kapital der griechischen Usurpatoren.« Ob die früheren Tyranneien ohne die Zustimmung des Volkes weiterregiert wurden, darf bezweifelt werden, auf die späteren Tyranneien, die mehr militärischer als wirtschaftlicher Natur waren, trifft das sicherlich zu. Man nehme zum Beispiel Grotes auf Diodorus beruhende Beschreibung des entscheidenden Augenblicks im Aufstieg von Dionysius dem Älteren. Das Heer von Syrakus hatte unter einem mehr oder weniger demokratischen Regime Niederlage und Schande erlitten, und Dionysius, der von den Anhängern hemmungslosen Krieges gewählte Anführer, verlangte die Bestrafung der geschlagenen Generäle.
»Inmitten des Schweigens und der Unruhe, die in der Syrakuser Versammlung herrschten, war Dionysius der erste, der aufstand, um zu sprechen. Er behandelte ein Thema, das sowohl der Stimmung seiner Zuhörer als auch seinen eigenen Ansichten angepasst war. Mit Heftigkeit erklärte er, die Generäle hätten die Sicherheit von Syrakus an die Karthager verraten. Sie seien diejenigen, die die Verantwortung trügen für das Unglück Agrigents und für die Gefahr, die jedermann bedrohe. Er zählte ihre wirklich begangenen und vermeintlichen Missetaten nicht nur mit Vollständigkeit und Schärfe auf, sondern mit einer entfesselten Wut, die alle Grenzen rechtmäßiger Debatte überstieg, und er beabsichtigte, gesetzlosen Mord gegen sie anzustiften, ähnlich dem Tode, den kürzlich die Generäle in Agrigent erlitten hatten. »Da sitzen sie, die Verräter! Wartet nicht auf ein gesetzmäßiges Verfahren oder Urteil, legt sogleich Hand
an sie und übt an ihnen summarische Justiz.« Eine solche brutale Hetze beleidigte sowohl Gesetz wie parlamentarische Ordnung. Die vorsitzenden Stadträte tadelten Dionysius als einen Störenfried der öffentlichen Ordnung und legten ihm, wie sie vom Gesetz ermächtigt waren, eine Geldstrafe auf. Aber seine Parteigänger zollten ihm lauten Beifall. Philistus zahlte nicht nur auf der Stelle seine Geldstrafe, sondern erklärte öffentlich, dass er den ganzen Tag hindurch alle ähnlichen Strafen zahlen würde, die verhängt werden würden. Er stachelte Dionysius auf, in der Weise fortzufahren, die ihm angebracht zu sein schien. Was als Verstoß gegen das Gesetz begonnen hatte, wurde nun zur offenen Herausforderung. Aber die Autorität des Rates war schon so weit geschwächt, und so laut erhob sich der Ruf in der gegenwärtigen Lage der Stadt gegen ihn, dass er unfähig war, den Sprecher zu bestrafen oder zum Schweigen zu bringen. Dionysius setzte seine Rede in noch aufwühlenderem Ton fort, indem er nicht allein die Generäle anklagte, Agrigent verraten zu haben, sondern auch die führenden und reichen Bürger im allgemeinen als Oligarchen, die tyrannische Neigungen hätten, die Menge mit Verachtung behandelten und ihren eigenen Gewinn aus dem Unglück der Stadt schlügen. Syrakus, behauptete er, könne niemals gerettet werden, wenn man nicht Männern von ganz anderer Art die Führung übertrage, Männern, die nicht nach Wohlstand oder Herkunft bestimmt seien, sondern solchen von niederer Abstammung, die zum Volke gehörten und die in ihrer Aufführung ohne Tadel seien, weil sie der eigenen Schwäche bewusst wären.«(9)
Und so wurde er zum Tyrannen. Die Geschichte berichtet allerdings nicht, dass die Armen und Niederen irgendeinen Vorteil davon hatten. Zwar beschlagnahmte er die Güter der Reichen, aber es war seine Leibgarde, der er sie gab. Seine Volkstümlichkeit schwand bald dahin, nicht aber seine Macht. Einige Seiten weiter finden wir folgende Worte Grotes:
»Da er mehr als je zuvor fühlte, dass seine Herrschaft die Einwohner von Syrakus abstieß und nur auf nackter Gewalt beruhte, schützte er sich durch Vorsichtsmaßregeln, wie sie in dieser Stärke wohl kein anderer griechischer Despot je getroffen hatte.«
Die griechische Geschichte wird durch den besonderen Umstand gekennzeichnet, dass mit Ausnahme von Sparta der Einfluss der Tradition in Griechenland außerordentlich gering war; dazu kam, dass es beinahe keine politische Moral gab. Herodot stellt fest, dass kein Spartaner einer Bestechung widerstehen konnte. In ganz Griechenland war es zwecklos, einem Politiker entgegenzutreten, weil er vom König von Persien Bestechungen annahm, denn seine Gegner taten dasselbe, sobald sie mächtig genug waren, kaufwürdig zu sein. Das Ergebnis war eine allgemeine Rauferei um persönliche Macht, die mit den Mitteln der Korruption, des Straßenkampfes und des Mordes geführt wurde. Bei diesem Geschäft zählten die Freunde des Sokrates und des Plato zu den Hemmungslosesten. Das Endresultat war, wie vorauszusehen, die Unterjochung durch ausländische Mächte.
Man hat üblicherweise den Verlust der griechischen Unabhängigkeit beklagt und alle Griechen als Solons und Sokratesse betrachtet. Wie wenig Grund bestand, den Sieg Roms zu bedauern, ist aus der Geschichte des hellenischen Sizilien ersichtlich. Ich kenne kein besseres Beispiel für nackte Gewalt als die Laufbahn des Agathokles, eines Zeitgenossen Alexanders des Großen, der von 361 bis 289 vor Christi Geburt lebte und während der letzten achtundzwanzig Jahre seines Lebens Tyrann von Syrakus war.
Syrakus war die größte griechische Stadt, vielleicht die größte Stadt am Mittelländischen Meer. Ihre einzige Rivalin war Karthago, mit welcher Stadt es immer Krieg gab, ausgenommen eine kurze Zeit nach einer schweren Niederlage der einen oder anderen Partei. Die übrigen griechischen Städte in Sizilien standen manchmal auf der Seite von Syrakus, manchmal auf der Karthagos, je nach der Richtung, die die Parteipolitik einschlug. In jeder Stadt begünstigten die Reichen die Oligarchie und die Armen die Demokratie; wenn die Parteigänger der Demokratie siegten, machte ihr Führer gewöhnlich sich selbst zum Tyrannen. Viele von der geschlagenen Partei gingen ins Exil und stießen zu den Heeren jener Städte, in denen ihre Partei an der Macht war. Aber die Masse der Streitkräfte bestand aus meist nicht-hellenischen Söldnern.
Agathokles(10) war ein Mann von niederer Abstammung, der Sohn eines Töpfers. Seiner Schönheit wegen wurde er der Favorit eines reichen Syrakusers mit Namen Demas, der ihm all sein Geld vermachte und dessen Witwe er heiratete. Nachdem er sich im Kriege ausgezeichnet hatte, glaubte man, er erstrebe die Tyrannei; infolgedessen wurde er verbannt, und es wurde angeordnet, dass er auf seiner Reise ermordet werden sollte. Da er dies jedoch vorausgesehen hatte, wechselte er mit einem Armen die Kleider, der fälschlich von den gemieteten Mördern getötet wurde. Agathokles sammelte hierauf im Innern von Sizilien ein Heer, was die Syrakuser so erschreckte, dass sie mit ihm einen Vertrag schlossen: Er wurde wieder aufgenommen und leistete im Tempel der Ceres den Eid, dass er nichts zum Schaden der Demokratie unternehmen würde.
Die Regierung von Syrakus scheint zu dieser Zeit eine Mischung von Demokratie und Oligarchie gewesen zu sein. Es gab einen Rat der Sechshundert, der aus den reichsten Leuten bestand. Agathokles nahm sich der Sache der Armen gegen diese Oligarchen an. Im Lauf einer Unterredung mit vierzig von ihnen stachelte er die Soldaten auf und ließ alle vierzig ermorden, indem er behauptete, man habe einen Anschlag gegen ihn geplant. Darauf führte er das Heer in die Stadt und befahl ihm, die Häuser der Sechshundert zu plündern. Dies geschah, und außerdem massakrierte man Bürger, die aus ihren Häusern kamen, um zu sehen, was da geschehe; schließlich wurde eine große Anzahl um der Beute willen ermordet. Wie Diodorus sagt: »Ja, die in die Tempel, unter den Schutz der Götter flüchteten, selbst sie waren nicht sicher; sondern die Frömmigkeit gegen die Götter wurde von der Grausamkeit der Menschen geschändet: und all das wagten Griechen gegen Griechen im eigenen Land und Verwandte gegen Verwandte mitten im Frieden ohne Achtung gegen die Gesetze der Natur oder der Sippe der Götterverehrung frevelhaft zu begehen: auf welche Nachricht nicht nur Freunde, sondern sogar Feinde und jeder vernünftige Mann das Elend dieser Entarteten nur bemitleiden konnte.«
Agathokles' Leute verbrachten den Tag damit, die Männer niederzumachen, und wandten sich bei heranbrechender Nacht den Weibern zu.
Nach einem zweitägigen Massaker führte Agathokles die Gefangenen heraus und ermordete alle außer seinem Freund Dinokrates. Er rief dann die Versammlung zusammen, klagte die Oligarchen an und sagte, er werde die Stadt von allen Freunden der Monarchie reinigen, er selbst aber werde sich ins Privatleben zurückziehen. So legte er die Uniform ab und kleidete sich in Alltagsgewänder. Die aber unter seiner Führung geraubt hatten, wollten ihn an der Macht haben, und er wurde zum alleinigen Befehlshaber ernannt. »Viele von den Ärmeren, von jenen, die Schulden hatten, waren mit der Revolution sehr zufrieden«, denn Agathokles versprach Schulderlass und Landverteilung für die Armen. Dann zeigte er Milde für einige Zeit.
Im Krieg war Agathokles einfallsreich und tapfer, aber voreilig. Es kam ein Moment, da der völlige Sieg der Karthager unvermeidlich schien; sie belagerten Syrakus, und ihre Flotte nahm den Hafen ein. Aber Agathokles segelte mit einem großen Heer nach Afrika, wo er seine Schiffe verbrannte, um sie nicht in die Hände der Karthager fallen zu lassen. Da er fürchtete, in seiner Abwesenheit könne ein Aufstand ausbrechen, nahm er Kinder als Geiseln; und nach einiger Zeit verbannte sein Bruder, der ihn in Syrakus vertrat, achttausend politische Gegner, die die Karthager unterstützten. In Afrika hatte er zunächst erstaunlichen Erfolg; er nahm Tunis und belagerte Karthago, wo die Regierung in Furcht geriet und begann, Moloch günstig zu stimmen. Man fand heraus, dass Aristokraten, deren Kinder dem Gott hätten geopfert werden sollen, die Gewohnheit angenommen hatten, arme Kinder zu kaufen, um sie unterzuschieben; diese Handlungsweise wurde nun mit Heftigkeit unterdrückt, da bekannt war, dass Moloch das Opfer von Aristokratenkindern vorzog. Nach dieser Reform begann der Glücksstern der Karthager zu steigen.
Da Agathokles Verstärkungen brauchte, schickte er Boten nach Cyrene, das zu dieser Zeit, unter Ptolemäus, von Ophelas, einem Feldherrn Alexanders, gehalten wurde. Die Boten sollten sagen, dass mit Ophelas' Hilfe Karthago zerstört werden könne; dass Agathokles nur in Sizilien sicher zu sein wünsche und keinerlei Ansprüche in Afrika habe und dass alle ihre afrikanischen Eroberungen Ophelas zufallen sollten. Von diesem Angebot verlockt, marschierte Ophelas mit seinem Heer quer durch die Wüste und vereinigte sich nach Erduldung großer Leiden mit Agathokles. Daraufhin ermordete ihn Agathokles und legte seinem Heer dar, dass seine einzige Sicherheit darin bestehe, in den Dienst des Mörders des früheren Befehlshabers zu treten.
Er belagerte dann Utica, wo er unerwartet auftauchte und in den Feldern dreihundert Gefangene machte. Diese band er vor seine Belagerungsmaschinen, so dass die Einwohner von Utica, um sich zu verteidigen, ihre eigenen Leute töten mussten. Obwohl er in dieser Sache Erfolg hatte, war seine Lage schwierig, umso mehr, als er Grund zu der Annahme hatte, dass sein Sohn Archagathus die Armee gegen ihn aufbrachte. So floh er heimlich nach Sizilien zurück, und das über seine Flucht wütende Heer ermordete sowohl Archagathus wie auch seinen anderen Sohn. Das brachte ihn wiederum so außer sich, dass er jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Syrakus umbrachte, die mit einem Soldaten in der meuternden Armee verwandt waren.
Für einige Zeit überdauerte seine Macht all diese Missetaten. Er eroberte Ägesta, tötete alle ärmeren Männer der Stadt und folterte die Reichen, bis sie das Versteck ihrer Schätze verrieten. Die jungen Frauen und Kinder verkaufte er als Sklaven an die Brutier auf dem Kontinent.
Ich bedaure sagen zu müssen, dass sein Privatleben nicht besonders glücklich war. Seine Frau hatte mit seinem Sohn eine Affäre, einer seiner Enkel ermordete den anderen und brachte später einen Diener des alten Tyrannen dazu, Großvaters Zahnstocher zu vergiften. Als Agathokles sah, dass er sterben müsse, war seine letzte Handlung, den Senat zusammenzurufen und Rache gegen seinen Enkel zu fordern. Aber sein Gaumen war durch das Gift so wund geworden, dass er nicht mehr sprechen konnte. Die Bürger erhoben sich, er wurde auf seinen Begräbnisscheiterhaufen befördert, bevor er tot war, seine Güter wurden eingezogen, und die Demokratie ward, wie man sagt, wiederhergestellt.
Das Italien der Renaissance weist eine enge Verwandtschaft mit dem alten Griechenland auf, nur war die Verwirrung noch größer. Es gab oligarchische Handelsrepubliken, Tyranneien nach griechischem Muster, Fürstentümer feudalen Ursprungs und dazu Kirchenstaaten. Der Papst beanspruchte, außer in Italien, Verehrung, nicht so jedoch seine Söhne, und Cesare Borgia musste sich auf nackte Gewalt stützen.
Cesare Borgia und sein Vater Alexander VI. sind nicht nur um ihrer selbst willen von Bedeutung, sondern weil sie Machiavelli inspirierten. Ein Ereignis, das zu ihren Lebzeiten stattfand, möge, zusammen mit Creightons Kommentar, ihre Epoche beleuchten. Die Colonna und Orsini waren seit Jahrhunderten die Feinde der Päpste gewesen; die Colonna waren bereits gefallen, die Orsini jedoch hatten ihren Platz gehalten. Alexander VI. schloss einen Vertrag mit ihnen und lud ihr Oberhaupt, den Kardinal Orsini, in den Vatikan ein, als er hörte, dass Cesare zwei bedeutende Orsini durch Verrat in seine Gewalt bekommen hatte. Kardinal Orsini wurde im Moment verhaftet, als er vor dem Papst stand; seine Mutter zahlte dem Papst zweitausend Dukaten, um ihm Nahrung schicken zu dürfen, und seine Mätresse bedachte seine Heiligkeit mit einer kostbaren Perle, die er sich gewünscht hatte. Nichtsdestoweniger starb Kardinal Orsini im Gefängnis – durch vergifteten Wein, der ihm, wie man sagt, auf Befehl Alexanders VI. gereicht worden war. Creightons Bemerkungen zu diesem Fall(11) beleuchten das Wesen eines Regimes nackter Gewalt:
»Es ist erstaunlich, dass diese verräterische Tat keinen Widerstand erweckt und solchen Erfolg gehabt hat; aber in der künstlichen Politik Italiens hing alles von dem Geschick der Spieler ab. Die Condottieri vertraten nur sich selbst, und als sie mit allen noch so heimtückischen Mitteln beseitigt wurden, blieb nichts von ihnen übrig. Es gab keine Partei, kein Interesse, die durch den Fall der Orsini und Vitellozzo verletzt worden wären. Die Heere der Condottieri waren gewaltig, solange sie ihren Feldherren folgten; wenn die Feldherren abgesetzt wurden, zerstreuten sich die Soldaten und verpflichteten sich anderwärts ... Die meisten bewunderten Cesares vollendete Kälte im Grunde ... Die gängige Moral wurde nicht verletzt ... Die meisten Menschen in Italien begnügten sich mit der Bemerkung Cesares gegenüber Machiavelli: >Man tut wohl daran, die zu betrügen, die sich als Meister der Hinterlist erwiesen haben.< Cesares Betragen wurde nach seinem Erfolg beurteilt.«
Im Italien der Renaissance war wie im alten Griechenland ein hoher Stand der Zivilisation mit einem sehr tiefen moralischen Standard verbunden: Beide Zeitalter zeigen die höchsten Höhen des Genius und die tiefsten Tiefen der Schurkerei, und in beiden sind Schurken und Genies einander durchaus nicht entgegengesetzt. Leonardo errichtete für Cesare Borgia Befestigungen; einige von den Schülern des Sokrates gehörten zu den schlimmsten der dreißig Tyrannen; Platos Jünger waren an üblen Angelegenheiten in Syrakus beteiligt, und Aristoteles heiratete die Nichte eines Tyrannen. Nachdem in beiden Zeitaltern Kunst, Literatur und Mord nebeneinander für etwa hundertundfünfzig Jahre geblüht hatten, wurde all dies von weniger zivilisierten, aber geeinteren Nationen aus dem Westen und Norden ausgelöscht. In beiden Fällen zog der Verlust politischer Unabhängigkeit nicht nur kulturellen Niedergang, sondern den Verlust kommerzieller Vorherrschaft und katastrophale Verarmung nach sich.
Perioden nackter Gewalt sind gewöhnlich von kurzer Dauer. Sie enden in der Regel auf die eine oder andere von drei Weisen. Die erste ist fremde Eroberung, wie im Falle Griechenlands und Italiens, wie wir bereits gesehen haben. Die zweite ist die Errichtung einer festen Diktatur, die bald traditionellen Charakter annimmt; hier sei als bemerkenswertestes Beispiel das Reich des Augustus nach der Zeit der Bürgerkriege von Marius bis zur Niederlage des Antonius genannt. Die dritte besteht im Aufstieg einer neuen Religion, indem wir das Wort im weitesten Sinne gebrauchen. Ein Beispiel, das sich hier aufdrängt, ist die Art, in der Mohammed die einstmals miteinander kämpfenden Stämme Arabiens einte. Die Herrschaft nackter Gewalt in den internationalen Beziehungen nach dem großen Kriege hätte in der Durchsetzung des Kommunismus in ganz Europa enden können, hätte Russland nur einen ausführbaren Überschuss an Nahrungsmitteln gehabt.
Wo die Gewalt, nicht nur im internationalen Maßstab, sondern in der inneren Regierung einzelner Staaten, nackt ist, sind die Methoden der Machtaneignung viel skrupelloser als sonst wo. Dieses Thema ist ein für allemal von Machiavelli behandelt worden. Nehmen wir zum Beispiel seinen tobenden Bericht über die Maßnahmen, die Cesare Borgia ergriff, um sich im Falle des Todes Alexanders VI. zu schützen:
»Er entschloss sich, auf viererlei Weise zu handeln. Erstens, indem er die Familien der von ihm beraubten Herren ausrottete, um dem Papst diesen Vorwand zu nehmen. Zweitens, indem er alle Vornehmen von Rom für sich gewänne, um den Papst mit ihrer Hilfe zu beugen. Drittens, indem er das Collegium mehr auf seine Seite brächte. Viertens, indem er vor dem Tode des Papstes so viel Macht erwerbe, dass er durch eigene Vorkehrungen dem ersten Stoß widerstehen könnte. Von diesen vier Dingen hatte er bei Alexanders Tod drei durchgeführt. Denn er hatte so viele von den enteigneten Herren getötet, als er in seine Gewalt zu bringen vermocht hatte, und wenige waren entkommen ...«
Die zweite, dritte und vierte dieser Methoden könnten jederzeit angewendet werden, nur die erste würde die öffentliche Meinung in einer Zeit ordnungsgemäßer Regierung stören. Ein britischer Ministerpräsident könnte nicht hoffen, seine Stellung durch die Ermordung des Führers der Opposition zu stärken. Wo aber die Gewalt nackt ist, werden solche moralischen Einschränkungen unwirksam.
Gewalt ist nackt, wenn ihre Untertanen sie nur achten, weil sie Macht ist, und sonst aus keinem anderen Grund. So wird eine traditionelle Machtform nackt, wenn ihre Tradition nicht mehr für gültig angenommen wird. Daraus folgt, dass Perioden freien Denkens und kraftvollen Kritizismus dazu neigen, in Perioden nackter Gewalt umzuschlagen. So war es in Griechenland und ebenso im Italien der Renaissance. Die der nackten Gewalt entsprechende Theorie ist von Plato im ersten Buch des »Staates« durch den Mund des Thrasymachus aufgestellt worden. Dieser wird der Versuche des Sokrates, eine ethische Erklärung der Gerechtigkeit zu finden, müde. »Mein Grundsatz ist«, sagt Thrasymachus, »dass Gerechtigkeit einfach das Interesse des Stärkeren ist.« Er fährt fort:
»Jede Regierung hat die Gesetze, die ihren eigenen Interessen entsprechen; eine Demokratie erlässt demokratische Gesetze; ein Autokrat despotische Gesetze und so weiter. Auf diese Weise drücken die Regierungen die Meinung aus, dass, was ihren eigenen Interessen entspricht, für ihre Untertanen gerecht ist; und wer immer von diesem Grundsatz abweicht, wird für gesetzlos und ungerecht erklärt. Daher glaube ich, mein guter Herr, dass in allen Staaten das gleiche, nämlich das Interesse der an der Macht befindlichen Regierung, gerecht ist. Und überlegene Kraft kann man, denke ich, auf der Seite der Regierung finden. Daraus ergibt sich die richtige Schlussfolgerung, dass überall dasselbe, das Interesse des Stärkeren nämlich, als gerecht gilt.«
Wenn dieser Standpunkt allgemein angenommen wird, sind die Herrschenden nicht länger moralischen Bedenken unterworfen, denn was sie immer auch tun, um an der Macht zu bleiben, wird von niemandem als störend empfunden, außer von jenen, die unmittelbar darunter leiden. Rebellen werden ebenfalls nur durch die Furcht vor einem Fehlschlag in gewissen Grenzen gehalten. Wenn sie durch Anwendung skrupelloser Mittel die Nachfolge antreten können, brauchen sie nicht zu befürchten, dass diese Skrupellosigkeit sie unpopulär machen könnte.
Der Grundsatz des Thrasymachus macht, wo er allgemeine Geltung besitzt, die Existenz einer geordneten Gemeinschaft völlig von der unmittelbaren physischen Kraft, die der Regierung zur Verfügung steht, abhängig. Er macht auf diese Weise eine Militärtyrannei unvermeidlich. Andere Regierungsformen können nur solide sein, wenn eine verbreitete Ansicht vorhanden ist, die der bestehenden Machtverteilung Achtung verschafft. In dieser Hinsicht erfolgreiche Ansichten halten gewöhnlich intellektueller Kritik nicht stand. Macht ist zu verschiedenen Malen mit allgemeiner Zustimmung auf königliche Familien, Aristokraten, Reiche, auf Männer im Gegensatz zu Frauen und auf Weiße im Gegensatz zu Andersfarbigen beschränkt gewesen. Aber die Ausbreitung der Intelligenz unter den Beherrschten hat diese veranlasst, derartige Beschränkungen abzulehnen, und die Machthaber wurden gezwungen, entweder nachzugeben oder sich auf nackte Gewalt zu stützen. Wenn eine ordnungsgemäße Regierung allgemeiner Zustimmung sicher sein will, muss ein Weg gefunden werden, die Mehrheit der Menschheit auf einer Basis zu vereinigen, die verschieden ist von der des Thrasymachus.
Einem späteren Kapitel überlasse ich die Untersuchung der Methoden, die einer Regierungsform auf nichtabergläubische Weise allgemeine Zustimmung sichern, aber einige hier angebrachte Bemerkungen seien vorausgeschickt. Zunächst einmal ist das Problem nicht gänzlich unlösbar, da es in den Vereinigten Staaten gelöst worden ist. (Man kann kaum behaupten, es sei in Großbritannien gelöst worden, da die Achtung vor der Krone ein wesentliches Element in der britischen Stabilität bildete.) Zweitens muss der Vorteil einer ordnungsgemäßen Regierung allgemein erkannt werden; das wird gewöhnlich für energische Männer Gelegenheiten einschließen, auf konstitutionellem Wege reich und mächtig zu werden. Wo eine Klasse, die energische und fähige Persönlichkeiten zu den ihren zählt, von Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossen ist, entsteht ein Element der Unruhe, das früher oder später leicht zum Aufstand führen kann. Drittens wird man eine gesellschaftliche Konvention brauchen, die im Interesse der Ordnung angenommen wird und nicht dermaßen ungerecht ist, als dass sie auf breiteren Widerstand stoßen könnte. Eine solche Konvention, einmal erfolgreich, wird bald traditionell werden und die Stärke besitzen, die die traditionelle Macht auszeichnet.
Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« scheint einem modernen Leser nicht sonderlich revolutionär zu sein, und man sieht schwer ein, warum er für Regierungen so abstoßend war. Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass er versuchte, die Regierungsgewalt auf eine rationelle Grundlage zu stellen, anstatt sie von abergläubischer Verehrung für Monarchen abhängig zu machen. Die Wirkung der Lehren Rousseaus auf die Welt zeigt die Schwierigkeit, die Menschen dazu zu bringen, auf einer nichtabergläubischen Grundlage für eine Regierung zusammenzukommen. Vielleicht ist das nicht möglich, wenn der Aberglaube ganz plötzlich beseitigt wird: einige Praxis in freiwilliger Zusammenarbeit ist zur vorhergehenden Übung notwendig. Die große Schwierigkeit liegt darin, dass Achtung vor dem Gesetz für eine gesellschaftliche Ordnung wesentlich, aber unter einem traditionellen Regime, dem nicht mehr zugestimmt wird, unmöglich ist und in einer Revolution notwendigerweise nicht in Betracht kommt. Aber wenn auch das Problem schwierig ist, so muss es doch gelöst werden, wenn das Bestehen geordneter Gemeinwesen mit dem freien Gebrauch der Intelligenz übereinstimmen soll.
Das Wesen dieses Problems wird manchmal missverstanden. Es genügt nicht, auf dem Papier eine Regierungsform zu erfinden, die für den Theoretiker keinen wirklichen Anlass zur Revolte zu bieten scheint; es ist notwendig, eine Regierungsform zu finden, die verwirklicht werden kann und die, verwirklicht, so viel Loyalität erwecken wird, dass sie die Revolution niederhalten oder vermeiden kann. Das ist ein Problem praktischer Staatskunst, bei dem alle Ansichten und Vorurteile der betroffenen Bevölkerung in Betracht zu ziehen sind. Es gibt solche, die glauben, dass fast jede Gruppe von Menschen, die sich einmal der Staatsmaschine bemächtigt hat, auf dem Wege der Propaganda sich die allgemeine Zustimmung erwerben kann. Diese Ansicht unterliegt immerhin deutlichen Beschränkungen. Staatliche Propaganda hat sich in unseren Zeiten als machtlos erwiesen, wenn sie dem Nationalgefühl, wie in Indien und (vor 1921) in Irland, entgegenstand. Sie kann sich nur schwer gegen ein starkes religiöses Gefühl behaupten. Inwieweit und für wie lange sie gegen das Interesse der Mehrheit aufkommen kann, ist noch eine zweifelhafte Frage. Es muss jedenfalls zugegeben werden, dass Staatspropaganda ständig an Wirkung zunimmt; das Problem der Sicherung der öffentlichen Zustimmung wird deshalb RIF die Regierungen leichter. Die von uns angeschnittenen Fragen werden später vollständiger behandelt werden; für den Augenblick behalte man sie lediglich im Auge.
Ich habe bisher von politischer Macht gesprochen, aber auf wirtschaftlichem Gebiet ist nackte Gewalt mindestens ebenso wichtig. Marx betrachtete alle wirtschaftlichen Beziehungen, mit der Ausnahme der sozialistischen Gemeinschaft der Zukunft, als gänzlich unter der Herrschaft nackter Gewalt. Im Gegensatz dazu behauptete einmal der verstorbene Ehe Halevy, der Historiker des Benthamismus, dass, kurz gesagt, ein Mann für seine Arbeit das erhalte, was sie ihm selber wert sei. Ich bin überzeugt davon, dass das auf Schriftsteller nicht zutrifft: ich habe, in meinem eigenen Fall, immer gefunden, dass ich, je höher ich den Wert eines Buches schätzte, desto weniger dafür erhielt. Und wenn erfolgreiche Geschäftsleute wirklich glauben sollten, ihre Arbeit sei so viel wert wie sie einbringt, müssten sie noch dümmer sein, als sie aussehen. Nichtsdestoweniger ist ein Körnchen Wahrheit in Haleyys Theorie enthalten. In einer stabilen Gemeinschaft darf es keine zahlreiche Klasse mit dem brennenden Bewusstsein von Ungerechtigkeit geben. Man darf daher annehmen, dass dort, wo keine große wirtschaftliche Unzufriedenheit herrscht, die meisten Menschen sich nicht wesentlich unterzahlt fühlen. In jenen unentwickelten Gemeinwesen, in denen das Auskommen eines Menschen eher vom Herkömmlichen als vom Vertrag abhängt, wird er in der Regel alles übliche als gerecht empfinden. Aber selbst in diesem Falle verwechselt Halevys Formel Ursache und Wirkung: Der Brauch ist die Ursache des menschlichen Gefühls für das, was gerecht ist, und nicht umgekehrt. In diesem Falle ist wirtschaftliche Macht traditionell. Sie wird nur dann nackt, wenn alte Bräuche verletzt oder aus irgendeinem Grund der Kritik unterworfen werden.
Im Kindesalter des Industrialismus gab es keine Bräuche für die Regulierung der zu zahlenden Löhne, und die Angestellten waren noch nicht organisiert. Infolgedessen beruhte die Beziehung zwischen Unternehmer und Angestelltem auf nackter Gewalt, das heißt innerhalb der vom Staat zugelassenen Grenzen, und diese Grenzen waren zunächst sehr weit gesteckt. Die orthodoxen Ökonomen hatten gelehrt, dass die Löhne ungelernter Arbeiter immer das Bestreben hätten, zum Existenzminimum hinabzusinken, sie hatten aber nicht erkannt, dass dies vom Ausschluss der Lohnempfänger von der politischen Macht und vom Gemeinnutz abhing. Marx sah, dass es sich um eine Machtfrage handelte, aber er unterschätzte meiner Meinung nach die politische im Verhältnis zur wirtschaftlichen Macht. Die Gewerkschaften, die die Macht der Lohnempfänger unermesslich vergrößern, können dann unterdrückt werden, wenn die Lohnempfänger an der politischen Macht keinen Anteil haben; eine Reihe gesetzlicher Entschließungen würde die Gewerkschaften in England verkrüppelt haben, wenn nicht die städtischen Arbeiter seit 1868 das Stimmrecht gehabt hätten. Unter der Voraussetzung von Gewerkschaften werden die Löhne nicht mehr von nackter Gewalt festgelegt, sondern auf dem Wege des Verhandeln wie beim Kauf und Verkauf von Gebrauchsgegenständen.
Die Rolle nackter Gewalt in der Wirtschaft ist bei weitem größer, als man gedacht hatte, bevor der Einfluss von Marx wirksam geworden war. In einigen Fällen tritt dies klar hervor. Die Beute, die ein Straßenräuber seinem Opfer oder ein Eroberer einer besiegten Nation abnimmt, ist ohne jeden Zweifel eine Sache nackter Gewalt. Ebenso Sklaverei, wenn der Sklave seinem Los nicht aus alter Gewohnheit zustimmt. Eine Zahlung wird durch nackte Gewalt erpresst, wenn sie trotz des Unwillens der zahlenden Person getätigt wird. Ein solcher Unwillen besteht in zwei Kategorien von Fällen: wo die Bezahlung nicht üblich ist und wo infolge einer Änderung der Ansichten das Übliche für unrecht angesehen wird. Früher hatte ein Mann die volle Kontrolle über das Eigentum seiner Frau, die Frauenbewegung aber gab Anlass zu einer Empörung gegen diesen Brauch, was zu einer Änderung des Gesetzes führte. Unternehmer waren einstmals ihren Angestellten gegenüber für Unfälle nicht verantwortlich; auch hier kam es zu einem gefühlsmäßigen Wechsel, der eine Veränderung des Gesetzes nach sich zog. Es gibt zahllose ähnliche Beispiele.
Ein Lohnempfänger, der Sozialist ist, kann es als ungerecht empfinden, dass sein Einkommen niedriger als das seines Arbeitgebers ist; in diesem Fall führt nackte Gewalt sein Einverständnis herbei. Das alte System wirtschaftlicher Ungleichheit ist traditionell und erregt an sich keinen Unwillen, außer bei denen, die sich gegen die Tradition empören. So enthüllt jedes Anwachsen sozialistischer Stimmungen die Macht der Kapitalisten immer weiter. Dieser Fall ist dem von Häresie und der Macht der katholischen Kirche vergleichbar. Es gibt, wie wir gesehen haben, bestimmte Übel, die im Wesen der nackten Gewalt liegen, im Gegensatz zu der Macht, die das Einverständnis der anderen gewinnt; folglich neigt jedes Anwachsen sozialistischer Stimmungen dazu, die Macht der Kapitalisten gefährlicher zu gestalten, außer in dem Falle, dass ihre skrupellose Anwendung durch Furcht gehemmt ist. In einer völlig nach marxistischem Schema gebildeten Gemeinschaft, in der alle Lohnempfänger überzeugte Sozialisten und alle anderen ebenso überzeugte Anhänger des kapitalistischen Systems wären, würde die siegreiche Partei, wer sie auch immer sei, auf die Anwendung nackter Gewalt gegenüber ihren Gegnern nicht verzichten können.
Diese Situation, die Marx voraussagt, wäre sehr bedenklich. Die Propaganda seiner Jünger könnte, insoweit sie von Erfolg begleitet ist, sie herbeiführen.
Die meisten Greuel in der menschlichen Geschichte sind mit nackter Gewalt verknüpft – nicht nur jene, die mit dem Krieg zu tun haben, sondern andere von gleicher, wenn auch weniger sichtbarer Furchtbarkeit. Sklaverei und Sklavenhandel, die Ausbeutung des Kongo, die Schrecken der frühen Industrialisierung, Grausamkeit gegen Kinder, gerichtliche Folter, das Strafgesetz, Gefängnisse, Arbeitshäuser, religiöse Verfolgung, die schreckliche Behandlung der Juden, die mitleidlose Frevelhaftigkeit von Despoten, die unglaubliche Ungerechtigkeit bei der Behandlung politischer Gegner in Deutschland und Russland heutzutage – all das sind Beispiele für die Anwendung nackter Gewalt gegenüber wehrlosen Opfern.
Viele Formen ungerechter Macht, die tief in der Tradition verwurzelt sind, müssen einmal nackt gewesen sein. Christliche Frauen gehorchten während langer Jahrhunderte ihren Gatten, weil Paulus es ihnen vorgeschrieben hatte; aber die Geschichte von Jason und Medea zeigt die Schwierigkeiten, die die Männer gehabt haben müssen, bevor die Lehre des Paulus von den Frauen allgemein angenommen worden war.
Macht muss sein, entweder die von Regierungen oder die anarchischer Abenteurer. Es muss sogar nackte Gewalt geben, solange es Rebellen gegen Regierungen oder einfach gewöhnliche Verbrecher gibt. Aber wenn das menschliche Leben für die große Masse der Menschheit etwas Besseres sein soll als dumpfes Elend, von dem sich Augenblicke furchtbaren Schreckens abheben, dann muss es so wenig nackte Gewalt wie möglich geben. Die Anwendung der Macht, wenn diese etwas Besseres sein soll als mutwillige Quälerei, muss von Gesetz und Brauch bestimmt, nur nach reiflicher Überlegung zulässig und Männern übertragen sein, die im Interesse der von ihnen Regierten scharf überwacht sein müssen.
Ich behaupte nicht, dass das leicht sei. Es beinhaltet einmal die Abschaffung des Krieges, denn jeder Krieg ist die Anwendung nackter Gewalt. Es beinhaltet eine Welt, die frei von den unerträglichen Unterdrückungen ist, welche Aufstände hervorbringen. Es beinhaltet die Erhöhung des Lebensstandards in der ganzen Welt und besonders in Indien, China und Japan auf eine Höhe, die zumindest dem Niveau in den Vereinigten Staaten vor der Krise entspricht. Es beinhaltet eine den römischen Tribunen analoge Einrichtung, nicht für das Volk als Ganzes, sondern für jeden der Unterdrückung ausgesetzten Teil, wie etwa Minderheiten und Verbrecher. Es beinhaltet vor allem eine aufmerksame öffentliche Meinung, die die Möglichkeit hat, Tatsachen nachzuprüfen.
Es ist zwecklos, seine Hoffnung auf die Tugend einer Persönlichkeit oder einer Gruppe zu setzen. Der Philosoph als König wurde vor langer Zeit als eitler Traum entlarvt, aber die Partei der Philosophen, die in nicht geringerem Maße der Wirklichkeit entbehrt, wird als große Entdeckung begrüßt. Es kann keine wirkliche Lösung des Machtproblems durch eine unverantwortliche Minderheitsregierung oder ein anderes Verlegenheitsmittel geben. Aber die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema muss einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben.