DRITTES KAPITEL
DIE FORMEN DER MACHT

Macht kann als das Hervorbringen beabsichtigter Wirkungen definiert werden. Es ist auf diese Weise ein quantitativer Begriff: Wenn zwei Menschen mit ähnlichen Begierden gegeben sind und einer all seine Wünsche befriedigen kann, die auch der andere erfüllen kann, und so fort, so besitzt der eine nicht mehr Macht als der andere. Jedoch gibt es kein genaues Mittel, die Macht zweier Menschen miteinander zu vergleichen, von denen der eine eine gewisse Gruppe von Begierden, der andere eine zweite Gruppe zu befriedigen vermag. Es könnte zum Beispiel zwei Künstler geben, die beide gute Bilder malen und zugleich reich werden wollen und von denen es einem gelingt, gute Bilder zu malen, und dem anderen, reich zu werden – hier könnte man nicht abschätzen, welcher von beiden über die größere Macht verfügt. Nichtsdestoweniger kann man ungefähr feststellen, dass A mehr Macht als B besitzt, wenn A viele beabsichtigte Wirkungen erzielt und B nur einige.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, Machtformen zu klassifizieren. Jede dieser Möglichkeiten hat ihre Vorzüge. Zunächst einmal gibt es Macht über Menschen und Macht über tote Materie oder nichtmenschliche Lebensformen. Ich werde mich vor allem mit der Macht über Menschen beschäftigen, aber es wird notwendig sein, daran zu erinnern, dass die Hauptursache für Veränderungen in der modernen Welt das Anwachsen der Macht über die Materie ist, das wir der Wissenschaft schulden.

Macht über Menschen kann nach der Weise, wie Individuen beeinflusst werden, oder nach dem Typus der betreffenden Organisation klassifiziert werden.

Ein Individuum kann beeinflusst werden: a) durch direkte physische Gewalt über seinen Körper, das heißt, wenn es gefangengesetzt oder getötet wird; b) durch Belohnungen oder Strafen als Mittel der Veranlassung, zum Beispiel durch das Vergeben oder Nichtvergeben von Arbeit; c) durch Beeinflussung der Meinung, das heißt Propaganda im weitesten Sinne. In diese letzte Abteilung würde ich die Gelegenheit, bei anderen begehrte Gewohnheiten hervorzurufen, einschließen, zum Beispiel durch militärischen Drill, wobei der einzige Unterschied darin besteht, dass in solchen Fällen das Handeln ohne einen derartigen mentalen Zwischenträger erfolgt, wie ihn die Meinung darstellt.

Diese Formen der Macht werden ganz nackt und einfach in unserer Behandlung von Tieren entwickelt, wo Verhüllungen und Vorwände als unnötig angesehen werden. Wenn ein quiekendes Schwein mit einem Strick um den Leib in ein Schiff gehoben wird, unterliegt es direkter physischer Gewalt über seinen Körper. Wenn andererseits der sprichwörtliche Esel der sprichwörtlichen Mohrrübe folgt, verleiten wir ihn, nach unserem Wunsche zu handeln, indem wir ihn überzeugen, dass dieses sein Handeln in seinem Interesse läge. Zwischen diesen beiden steht der Fall abgerichteter Tiere, in denen wir durch Belohnungen und Strafen Gewohnheiten gebildet haben; in wieder anderem Sinne auch der Fall von Schafen, die man dazu bringt, ein Schiff zu besteigen: der Leithammel muss mit Gewalt über das Fallreep gezogen werden, worauf die übrigen willig folgen.

All diese Beispiele für Machtformen können auf menschliche Wesen angewendet werden.

Der Fall des Schweins bezeichnet militärische und polizeiliche Macht.

Der Esel mit der Mohrrübe versinnbildlicht die Macht der Propaganda.

Ausführende Tiere beweisen die Macht der »Erziehung«.

Die dem unwilligen Leithammel folgenden Schafe kennzeichnen die Politik der Parteien, wann immer ein respektierter Führer, wie es üblich ist, von einer Clique oder Parteibonzen abhängt.

Lassen Sie mich diese äsopischen Analogien auf den Aufstieg Hitlers anwenden. Die Mohrrübe war das Naziprogramm (einschließlich, zum Beispiel, der Brechung der Zinsknechtschaft); der Esel war das Kleinbürgertum. Die Schafe und ihr Leithammel waren die Sozialdemokraten und Hindenburg. Die Schweine (nur insofern, als wir von ihrem Unglück sprechen) waren die Opfer in den Konzentrationslagern, und die ausführenden Tiere sind die Millionen, die den Nazigruß leisten.

Die wichtigsten Organisationen sind annähernd unterscheidbar durch die Art der Macht, die sie ausüben. Heer und Polizei üben zwingende Macht über den Körper aus; wirtschaftliche Organisationen gebrauchen hauptsächlich Belohnungen und Strafen zur Verleitung und Abschreckung; Schulen, Kirchen und politische Parteien streben nach Beeinflussung der Meinung. Aber diese Unterschiede heben sich nicht schroff voneinander ab, da jede Organisation andere zusätzliche Machtformen benützt außer der für sie am meisten bezeichnenden.

Die Macht des Gesetzes soll diese Vielfältigkeiten beleuchten. Die äußerste Gesetzesmacht ist die zwingende Gewalt des Staates. Es ist für zivilisierte Gemeinschaften charakteristisch, dass direkter physischer Zwang (mit gewissen Einschränkungen) das Privileg des Staates ist, und das Gesetz ist eine Sammlung von Regeln, nach welchen der Staat dieses Vorrecht seinen eigenen Bürgern gegenüber ausübt. Aber das Gesetz benützt die Strafe nicht nur, um unerwünschte Handlungen physisch unmöglich zu machen, sondern auch als Richtschnur und Hinweis; eine Geldstrafe zum Beispiel macht eine Handlung nicht unmöglich, sondern lediglich reizlos. Ferner – und dies ist bei weitem wichtiger – ist das Gesetz fast machtlos, wenn es nicht durch die öffentliche Gesinnung getragen ist, wie das in den Vereinigten Staaten während des Alkoholverbots oder im Irland der achtziger Jahre, als Verschwörer die Sympathien der Mehrheit der Bevölkerung genossen, deutlich wurde. Das Gesetz hängt also als wirksame Kraft mehr von Meinung und Gesinnung als von polizeilicher Gewalt ab. Der Grad der Begünstigung des Gesetzes ist eine der wichtigsten Eigenheiten einer Gemeinschaft.

Dies führt uns zu einer sehr notwendigen Unterscheidung zwischen traditioneller und neu erworbener Macht. Traditionelle Macht hat die Macht der Gewohnheit hinter sich; sie muss sich nicht in jedem Augenblick rechtfertigen oder ständig nachweisen, dass keine Opposition stark genug ist, sie niederzuwerfen. Sie ist außerdem fast unveränderlich mit religiösen oder scheinreligiösen Ansichten verschmolzen, die darauf hinauslaufen, jeden Widerstand als sündhaft darzustellen. Sie kann sich infolgedessen in weit größerem Maße auf die öffentliche Meinung stützen, als es für eine revolutionäre oder usurpierte Macht möglich ist. Dies hat zwei mehr oder weniger gegensätzliche Folgen: Einesteils ist die traditionelle Macht, da sie sich sicher fühlt, nicht vor Verrätern auf der Hut und vermeidet leicht aktive politische Tyrannei; andererseits sind dort, wo überkommene Einrichtungen bestehen, Ungerechtigkeiten, die Machthaber immer begehen können, durch den Brauch seit undenklichen Zeiten sanktioniert und können daher viel günstiger erscheinen, als es unter einer neuen Regierungsform möglich wäre, die auf die Unterstützung des Volkes zählt. Das Terrorregiment in Frankreich zeigt die revolutionäre Gattung der Tyrannei, die corvee die traditionelle Gattung.

Macht, die sich nicht auf Tradition oder Zustimmung stützt, nenne ich »nackte« Gewalt. Ihre Wesenszüge unterscheiden sich in

erheblichem Maße von denen traditioneller Macht. Und wo traditionelle Macht besteht, hängt der Charakter des Regimes in beinahe unbegrenztem Ausmaß von seinem Gefühl der Sicherheit oder Unsicherheit ab.

Nackte Gewalt ist gewöhnlich von militärischer Art und kann entweder das Gesicht innerer Tyrannei oder äußerer Eroberung annehmen. Ihre Bedeutung, besonders im zweiten Fall, ist allerdings sehr groß – größer, glaube ich, als manche moderne »wissenschaftliche« Historiker zugeben wöllen. Alexander der Große und Julius Cäsar änderten mit ihren Schlachten den ganzen Lauf der Geschichte. Was den ersteren betrifft, so würden ohne ihn die Evangelien nicht in griechischer Sprache geschrieben und das Christentum nicht im ganzen römischen Reich gepredigt worden sein. Ohne den anderen sprächen die Franzosen nicht eine vom Lateinischen kommende Sprache, und die katholische Kirche wäre kaum in Erscheinung getreten. Die militärische Überlegenheit des weißen Mannes über den Indianer ist ein noch unwiderlegbareres Beispiel von der Macht des Schwertes. Eroberung durch Waffengewalt hat mit der Ausbreitung der Zivilisation mehr zu tun gehabt als irgendeine andere Handlung. Nichtsdestoweniger ist die militärische Macht in den meisten Fällen auf eine andere Machtform, wie etwa Reichtum oder technische Kenntnis oder Fanatismus, gegründet. Ich behaupte nicht, dass dies immer der Fall ist; zum Beispiel war im spanischen Erbfolgekrieg Marlboroughs Genius für den Ausgang entscheidend. Aber das muss man als Ausnahme von der allgemeinen Regel betrachten.

Wenn eine traditionelle Machtform ihr Ende findet, kann ihr unter Umständen nicht nackte Gewalt, sondern eine revolutionäre Autorität folgen, die sich auf die willige Zustimmung der Mehrheit oder einer großen Minderheit der Bevölkerung stützt. Das traf für Amerika zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges zu. Washingtons Autorität hatte nichts von nackter Gewalt. Ähnlich wurden während der Reformation neue Kirchen gegründet, um den Platz der katholischen Kirche einzunehmen, und ihr Erfolg leitete sich weit mehr von der Zustimmung ab, die sie fanden, als von Gewalt. Wenn eine revolutionäre Autorität ihre Herrschaft ohne größere Anwendung nackter Gewalt aufrichten soll, so braucht sie eine viel kräftigere und aktivere Unterstützung durch das Volk als eine traditionelle Autorität. Als im Jahre 1911 die chinesische Republik proklamiert wurde, dekretierten Leute, die eine ausländische Erziehung genossen hatten, eine parlamentarische Verfassung, aber die Massen blieben apathisch, und das Regime entwickelte sich schnell zu einem solchen nackter Gewalt unter kriegführenden Tuchuns (Militärgouverneuren). Eine Einheit, wie sie später von der Kuomintang hergestellt wurde, hing vom Nationalismus, nicht vom Parlamentarismus ab. Das gleiche ereignete sich häufig in Lateinamerika. In allen diesen Fällen wäre die Autorität des Parlaments revolutionär gewesen, wenn es ihm gelungen wäre, sich eine ausreichende Unterstützung im Volke zu sichern; aber die rein militärische Gewalt, die tatsächlich Sieger blieb, war nackt.

Die Unterschiede zwischen traditioneller, revolutionärer und nackter Gewalt sind psychologischer Natur. Ich nenne Macht nicht einfach traditionell, weil sie überlieferte Formen aufweist; es muss ihr auch Respekt entgegengebracht werden, der vom Brauch herstammt. Wenn dieser Respekt verfällt, entwickelt sich traditionelle Macht allmählich in nackte Gewalt. Diesen Prozess konnte man in Russland beobachten, in dem allmählichen Wachstum der revolutionären Bewegung bis zum Augenblick ihres Sieges im Jahre 1917.

Ich nenne Macht revolutionär, wenn sie von einer größeren Gruppe abhängt, die durch einen neuen Glauben, durch ein neues Programm oder eine neue Gesinnung zusammengeschlossen ist, wie etwa Protestantismus, Kommunismus oder den Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit. Ich nenne Macht nackt, wenn sie lediglich aus dem Machttrieb von Personen und Gruppen hervorgeht und von ihren Bürgern nur Unterwerfung durch Furcht, nicht aber aktive Mitarbeit erlangt. Man wird sehen, dass die Nacktheit der Macht Abstufungen besitzt. In einem demokratischen Land ist die Regierungsgewalt nicht nackt in Bezug auf oppositionelle politische Parteien, sondern in Bezug auf einen überzeugten Anarchisten. Ähnlich ist dort, wo religiöse Verfolgung besteht, die Macht der Kirche nackt gegenüber Ketzern, nicht aber gläubigen Sündern gegenüber.

Eine weitere Teilung unseres Gegenstandes ist die zwischen der Macht von Organisationen und der Macht von Personen. Die Art und Weise, wie eine Organisation sich Macht aneignet, ist eine Sache, die Art und Weise, wie ein Individuum sich innerhalb einer Organisation Macht erwirbt, eine ganz andere Sache. Die beiden sind natürlich miteinander verknüpft: Wenn man Ministerpräsident werden will, muss man in seiner Partei Macht erwerben, und diese Partei muss innerhalb der Nation Macht erhalten. Aber wenn man vor dem Verfall des Prinzips der Erblichkeit gelebt hätte, hätte man der Erbe eines Königs sein müssen, um die politische Kontrolle über eine Nation zu bekommen; das hätte einen allerdings nicht befähigt, andere Nationen zu erobern, denn dazu braucht man Eigenschaften, die Königssöhnen oftmals fehlen. Gegenwärtig gibt es eine ähnliche Situation noch auf wirtschaftlichem Gebiet, wo die Plutokratie in hohem Maße erblich ist. Betrachten wir die zweihundert plutokratischen Familien in Frankreich, gegen die die französischen Sozialisten arbeiten. Plutokratische Dynastien haben nicht dieselbe Beständigkeit, wie sie die regierenden einst besaßen, weil sie nicht vermochten, der Doktrin göttlichen Rechts verbreitete Annahme zu verschaffen. Kein Mensch hält einen aufsteigenden Finanzmagnaten für gottlos, weil er jemanden auspowert, der der Sohn seines Vaters ist, vorausgesetzt, dass dies dem üblichen Brauch gemäß geschieht und ohne die Einführung störender Erneuerungen.

Verschiedene Organisationstypen bringen verschiedene Typen von Persönlichkeiten an die Spitze, und das gleiche ist bei verschiedenen Gesellschaftszuständen der Fall. Ein Zeitalter trägt in der Geschichte die Züge seiner hervorragenden Persönlichkeiten und leitet seinen angeblichen Charakter von den Eigenschaften dieser Menschen her. Da die zur Auserlesenheit erforderlichen Eigenschaften wechseln, wechseln auch die hervorragenden Männer. Man kann annehmen, dass Lenin ähnliche Menschen im zwölften Jahrhundert lebten und dass es gegenwärtig Menschen in der Art von Richard Löwenherz gibt; die Geschichte aber kennt sie nicht. Wir wollen für einen Moment die Arten von Persönlichkeiten betrachten, die von verschiedenen Machtformen hervorgebracht werden.

Erbliche Macht hat unseren Begriff des »gentleman« geprägt. Das ist die etwas entartete Form einer Vorstellung, die eine lange Geschichte hinter sich hat, von den magischen Kräften des Stammeshäuptlings angefangen, über den göttlichen Charakter der Könige zum Rittertum und dem blaublütigen Aristokraten. Die in der erblichen Macht bewunderten Qualitäten sind das Resultat von Muße und fragloser Überlegenheit. Wo Macht eher aristokratisch als monarchisch ist, schließen die guten Manieren höfliches Auftreten gegenüber Gleichgestellten ein wie freundliche Selbstbehauptung gegenüber Niederen. Welche Konzeption guter Manieren aber auch gültig sein mag – nur dort, wo Macht erblich ist oder noch kürzlich war, wird man Menschen nach ihrem Benehmen beurteilen. Der Bourgeois gentilhomme ist nur lächerlich, wenn er in eine Gesellschaft von Männern und Frauen gerät, die niemals besseres zu tun hatten, als gesellschaftliche Nettigkeiten zu studieren. Was in der Bewunderung des »gentleman« heute noch überlebt, hängt von erblichem Reichtum ab und muss schnell verschwinden, wenn wirtschaftliche Macht so gut wie politische Macht aufhört, vom Vater auf den Sohn überzugehen.

Ein ganz anderer Charakter tritt zutage, wenn Macht durch Studium oder Weisheit erworben wird, sei sie nun wirklich oder angenommen. Zwei Hauptbeispiele für diese Machtform sind das aus der Überlieferung bekannte China und die katholische Kirche. In der Moderne ist diese Form seltener zu finden als in den meisten Zeitabschnitten der Vergangenheit; von der Kirche abgesehen, bleibt in England wenig von diesem Machttypus übrig. Merkwürdig genug, dass die Macht dessen, was man Studium nennt, in wilden Gemeinschaften am stärksten ist, während sie sich in dem Grade ständig verringert, in dem die Zivilisation zunimmt. Wenn ich »Studium« sage, so schließe ich selbstverständlich anerkanntes Lernen, wie das der Magier und Medizinmänner, ein. Zwanzig Jahre Studium waren erforderlich, um den Grad eines Doktors an der Universität von Lhasa zu erwerben, einen Grad, der für alle höheren Posten, ausgenommen den des Dalai Lama, notwendige Voraussetzung ist. Dieser Zustand ähnelt stark dem Zustand Europas im Jahre 1000. Damals wurde Papst Silvester II. als Magier angesehen, weil er Bücher las. Er war infolgedessen imstande, die Macht der Kirche zu vergrößern, indem er übersinnliche Furcht um sich verbreitete.

Der Intellektuelle, so wie wir ihn kennen, ist ein geistiger Nachkomme des Priesters, aber die Ausbreitung der Bildung hat ihn der Macht beraubt. Die Macht des Intellekts beruht auf Aberglauben: hier ist die Reverenz, die man einem traditionellen Gesang oder einem heiligen Buch erweist. Davon ist noch manches in Ländern englischer Sprache lebendig, wie man es aus der englischen Haltung gegenüber dem Krönungszeremoniell und der amerikanischen Verfassungsverehrung ersehen kann. Dementsprechend haben der Erzbischof von Canterbury und die Richter des Obersten Gerichtshofes noch etwas von der traditionellen Macht gelehrter Männer. Das ist allerdings nur ein schwacher Schatten der Gewalt ägyptischer Priester oder chinesischer konfuzianischer Scholaren.

Während die hervorstechende Tugend des »gentleman« Ehre ist, heißt die des Mannes, der Macht durch Studium erlangt, Weisheit. Um einen Ruf als Weiser zu bekommen, muss man den Anschein haben, dass man einen bedeutenden Vorrat tiefer Kenntnisse besitzt, seine Leidenschaften meistern kann und eine lange Erfahrung in menschlichen Angelegenheiten sein eigen nennt. Alter an sich wird schon als etwas betrachtet, was diese Eigenschaften verleiht; daher verbindet sich Respekt mit den Begriffen des Kirchenvorstands (presbyter), des »seigneur«, des Stadtrats, des »Ältesten«. Ein chinesischer Bettler redet Vorbeigehende mit »großer alter Herr« an. Aber wo die Macht weiser Männer organisiert ist, besteht ein Zusammenschluss von Priestern und Literaten, bei denen alle Weisheit versammelt zu sein scheint. Der Weise ist ein vom ritterlichen Krieger ganz verschiedener Charakter und schafft eine ganz andere Gesellschaft, wo er die Herrschaft innehat. China und Japan zeigen diesen Gegensatz.

Wir haben bereits die merkwürdige Tatsache zur Kenntnis genommen, dass, obwohl Wissen in der Zivilisation heute eine größere Rolle spielt als je zuvor, kein entsprechendes Anwachsen der Macht unter den des Wissens Teilhaftigen festzustellen ist. Obwohl der Elektriker und der Telefonarbeiter seltsame Dinge tun, die zu unserem Behagen (oder Unbehagen) beitragen, sehen wir sie nicht für Medizinmänner an oder stellen wir uns nicht vor, dass sie Gewitter verursachen könnten, wenn wir sie ärgern. Der Grund dafür liegt darin, dass wissenschaftliche Kenntnisse, obwohl schwierig zu erwerben, nichts von Geheimnis an sich haben, sondern dass sie allen erreichbar sind, die sich der notwendigen Arbeit unterziehen. Der moderne Intellektuelle flößt daher keine Furcht ein, sondern bleibt lediglich ein Angestellter; mit wenigen Ausnahmen – der Erzbischof von Canterbury sei hier genannt – ist der strahlende Glanz, der seinen Vorgängern Macht verlieh, nicht auf ihn übergegangen.

Die Wahrheit verhält sich so, dass die gelehrten Männern gezollte Hochachtung niemals dem eigentlichen Wissen galt, sondern dem angenommenen Besitz zauberischer Kräfte. Die Wissenschaft, die eine gewisse reale Bekanntschaft mit Naturvorgängen vermittelt, hat den Glauben an die Magie zerstört und damit den Respekt für den Intellektuellen. So ist es gekommen, dass Wissenschaftler, die in entscheidendem Maße die unsere Zeit von früheren Zeiten unterscheidenden Züge geprägt und durch ihre Entdeckungen und Erfindungen einen unmessbaren Einfluss auf die gesamte Entwicklung gehabt haben, als Personen einen geringeren Ruf besitzen als ein nackter Fakir in Indien oder ein Medizinmann in Melanesien. Die Intellektuellen wurden mit der modernen Welt unzufrieden, da sie ihr Prestige als Ergebnis ihrer eigenen Tätigkeit schwinden sahen. Die mit der geringsten Unzufriedenheit gehen zum Kommunismus über; die anderen schließen sich in ihren elfenbeinernen Turm ein.

Das Wachstum großer wirtschaftlicher Organisationen hat einen neuen Typ der machtvollen Persönlichkeit hervorgebracht: den »executive«, wie man ihn in Amerika nennt. Der typische »executive« beeindruckt andere als ein Mann schneller Entscheidungen, sofortiger Einsicht in den Charakter seines Gegenübers und als ein Mensch von eisernem Willen. Er muss einen starken Unterkiefer, zusammengepresste Lippen und die Gewohnheit kurzer und eindringlicher Rede besitzen. Er muss fähig sein, Gleichgestellten Achtung und Untergebenen, die keineswegs Nullen sind, Vertrauen einzuflößen. Er muss die Eigenschaften eines großen Feldherrn und eines großen Diplomaten in sich vereinigen: Rücksichtslosigkeit im Kampf, aber die Fähigkeit zu geschickter Konzession in der Verhandlung. Durch solche Eigenschaften erlangen Menschen die Kontrolle wichtiger wirtschaftlicher Organisationen.

In einer Demokratie gehört die politische Macht gewöhnlich einem Mann, dessen Art sich beträchtlich von den drei bisher betrachteten unterscheidet. Wenn ein Politiker Erfolg haben will, muss er imstande sein, das Vertrauen der Maschinerie zu gewinnen und dann ein gewisses Maß von Begeisterung in der Mehrheit der Wählerschaft zu erwecken. Die für diese beiden Abschnitte auf dem Weg zur Macht erforderlichen Eigenschaften sind keineswegs identisch, und viele Leute besitzen die eine ohne die andere. Nicht selten sind Männer Präsidentschaftskandidaten in den Vereinigten Staaten, die die Einbildungskraft des großen Publikums nicht anregen können, obwohl sie die Kunst verstehen, sich bei Parteiführern ins rechte Licht zu setzen. Solche Männer werden meistens geschlagen, aber die Parteiführer sehen ihre Niederlage nicht voraus. Manchmal allerdings gelingt es der Maschinerie, den Sieg eines Mannes ohne »Magnetismus« zu sichern; in derartigen Fällen beherrscht sie ihn nach der Wahl, und er erlangt niemals wirkliche Macht. Manchmal dagegen ist ein Mann imstande, seine Maschinerie selber zu schaffen; Napoleon III., Mussolini und Hitler sind dafür Beispiele. Üblicherweise vermag ein wirklich erfolgreicher Politiker, obgleich er einen bereits existierenden Apparat benützt, diesen schließlich zu beherrschen und seinem Willen dienstbar zu machen.

Die Eigenschaften, die einen erfolgreichen Politiker in einer Demokratie ausmachen, wechseln den Zeitläufen entsprechend. Sie sind nicht dieselben in ruhigen Zeiten und in kriegerischen oder revolutionären Epochen. In ruhigen Zeiten kann sich ein Mann durchsetzen, der einen Eindruck von Solidität und Urteilsfähigkeit hinterlässt, aber in Zeiten der Erregung wird mehr verlangt. Dann ist es notwendig, ein eindrucksvoller Redner zu sein – nicht notwendigerweise beredt im konventionellen Sinn, denn Robespierre und Lenin waren nicht beredt, aber entschlossen, leidenschaftlich und kühn. Die Leidenschaft mag kühl und unter Kontrolle sein, aber sie muss existieren und spürbar sein. In aufgeregten Zeiten braucht ein Politiker nicht die Macht von Vernunftsgründen, kein Verständnis für unpersönliche Tatsachen und kein bisschen Weisheit. Was er haben muss, ist die Fähigkeit, die Masse davon zu überzeugen, dass ihre leidenschaftlichen Wünsche erfüllbar sind und dass er durch seine mitleidlose Entschlossenheit der Mann ist, sie zu erfüllen.

Die erfolgreichsten demokratischen Politiker sind jene, die es fertig bekommen, die Demokratie abzuschaffen und Diktatoren zu werden. Dies ist natürlich nur unter gewissen Umständen möglich; niemandem wäre es im England des 19. Jahrhunderts gelungen. Aber wenn es möglich ist, verlangt es nur einen hohen Grad der Eigenschaften, die im allgemeinen bei demokratischen Politikern vorauszusetzen sind, auf jeden Fall in aufgewühlten Epochen. Lenin, Mussolini und Hitler verdankten ihren Aufstieg der Demokratie.

Wenn einmal eine Diktatur errichtet ist, so sind die Qualitäten, dank welcher ein Mann einem verstorbenen Diktator nachfolgt, gänzlich von jenen verschieden, durch die die Diktatur eigentlich gegründet wurde. Drahtzieherei, Intrige und Gunst sind die wichtigsten Methoden, wenn die Erblichkeit abgeschafft ist. Aus diesem Grunde ist es sicher, dass eine Diktatur ihr Wesen nach dem Tode ihres Gründers erheblich ändern muss. Und da die Eigenschaften, denen ein Mann die Nachfolge in einer Diktatur verdankt, im allgemeinen weniger eindrucksvoll sind als die, durch welche das Regime ins Leben gerufen wurde, besteht die Möglichkeit von Unsicherheit, Palastrevolutionen und schließlicher Umkehr zu einem anderen System. Man hofft zwar, dass moderne Propagandamethoden dieser Tendenz erfolgreich begegnen mögen, indem sie dem Staatsoberhaupt eine Popularität verschaffen, ohne dass seinerseits eine Entfaltung populärer Eigenschaften erforderlich wird. Inwieweit derartige Methoden sich durchzusetzen vermögen, kann man aber noch gar nicht sagen.

Es gibt eine Form persönlicher Macht, die wir bisher nicht in Rechnung gestellt haben, wir meinen die Macht hinter den Kulissen: Macht von Höflingen, Intriganten, Spionen und Drahtziehern. In jeder großen Organisation, in der die Leute am Steuer über beträchtliche Gewalt verfügen, gibt es weniger hervorragende Männer (oder Frauen), die durch persönliche Mittel Einfluss auf die Führer gewinnen Drahtzieher und Parteibonzen gehören zur gleichen Art, obwohl ihre Technik eine andere ist. Sie schieben ruhig ihre Freunde in die Schlüsselstellungen und kontrollieren auf diese Weise mit der Zeit die Organisation. In einer nicht erblichen Diktatur können solche Leute hoffen, die Nachfolge des Diktators anzutreten, wenn er stirbt; aber gewöhnlich ziehen sie vor, nicht im Rampenlicht zu stehen. Es sind Menschen, die Macht mehr als Herrlichkeit lieben; oft sind sie, gesellschaftlich gesehen, schüchtern. Manchmal sind sie aus dem einen oder anderen Grunde von titularer Führerschaft ausgeschlossen, wie die Eunuchen in orientalischen Monarchien oder königliche Mätressen in anderen Ländern. Ihr Einfluss ist da am größten, wo die nominelle Macht erblich ist, und da am geringsten, wo die Macht die Belohnung für persönliches Können und Energie darstellt. Derartige Menschen haben unvermeidlich, selbst in den modernsten Regierungsformen, eine bedeutende Macht in Ämtern, die vom Durchschnittsmenschen für mysteriös angesehen werden. In unserer Zeit betreffen die wichtigsten dieser Ämter Währung und Außenpolitik In den Tagen Kaiser Wilhelms II. verfügte Baron Holstein (der ständige Chef des deutschen Außenministeriums) über immense Macht, obwohl er nicht in der Öffentlichkeit erschien. Wie groß die Macht der ständigen Beamten im britischen Außenministerium heutzutage ist, können wir überhaupt nicht wissen; die notwendigen Dokumente werden vielleicht unseren Kindern bekannt werden. Die für die Macht hinter den Kulissen erforderlichen Eigenschaften unterscheiden sich durchaus von allen übrigen Arten, und meistenteils, wenn auch nicht immer, handelt es sich dabei um unerwünschte Eigenschaften. Ein System, das dem Höfling oder dem Drahtzieher viel Macht einräumt, ist daher im allgemeinen kein System, das geeignet wäre, das Wohl des Volkes zu fördern.