VIERTES
KAPITEL
PRIESTERLICHE
MACHT
In diesem und im nächsten Kapitel habe ich vor, die beiden Formen traditioneller Macht zu untersuchen, die in vergangenen Zeiten die höchste Bedeutung besessen haben, nämlich die priesterliche und königliche Autorität. Beide stehen heute etwas im Schatten, und obgleich es übereilt wäre, zu behaupten, dass keine von beiden wieder aufleben wird, lässt es ihr ständiger oder vorübergehender Verfall zu, beide Einrichtungen so vollständig zu studieren, wie es für noch in Blüte befindliche Machtformen unmöglich wäre.
Priester und Könige gibt es, wenn auch in unausgebildeter Form, in den primitivsten Gesellschaftsbildungen, die den Anthropologen bekannt sind. Manchmal vereint eine Person die Funktionen beider in sich. Das finden wir nicht nur unter Wilden, sondern in hochzivilisierten Staaten. Augustus war in Rom Pontifex Maximus und in den Provinzen ein Gott. Der Kalif war sowohl das Haupt der mohammedanischen Religion wie das des Staates. Der Mikado hatte lange eine ähnliche Stellung im Shintoismus. Könige neigten dazu, um ihrer Heiligkeit willen irdische Funktionen zu verlieren und sich zu Priestern zu entwickeln. Nichtsdestoweniger bestand in den meisten Epochen und Ländern eine klare und deutliche Scheidung zwischen Priester und König.
Die primitivste Form des Priesters ist der Medizinmann, dessen Macht auf zwei Gebieten liegt – Anthropologen unterscheiden sie als religiöse und magische Macht. Religiöse Gewalt hängt vom Beistand
übermenschlicher Wesen ab, während magische Kräfte für natürlich angesehen werden. Für unsere Zwecke jedoch ist diese Unterscheidung nicht wesentlich. Wichtig ist, dass der Medizinmann für fähig gehalten wird, anderen Gutes oder Böses zu tun, sei es durch Magie oder durch Religion, und dass nicht jedermann seine Fähigkeiten besitzt. Eine gewisse Magie, nimmt man an, kann von Laien ausgeübt werden, aber die Magie des Medizinmannes ist stärker. Wenn ein Mensch krank wird oder von einem Unfall betroffen wird, ist das gewöhnlich der bösartigen Magie eines Feindes zuzuschreiben, aber der Medizinmann kennt Mittel, durch die der böse Bann zu brechen ist. So nimmt auf der Duke-of-York-Insel der Medizinmann, wenn er durch Eingebung die Ursache der Krankheit seines Patienten entdeckt hat, ein Stück Kalkerde und spricht eine Zauberformel:
»Kalk der Austreibung. Ich treibe den Polypen aus; ich treibe die Teo-Schlange aus; ich treibe den Geist Ingiets (eine Geheimgesellschaft) aus; ich treibe den Krebs aus; ich treibe die Wasserschlange aus; ich treibe die Balivoschlange aus; ich treibe den Python aus; ich treibe den Kajahund aus. Kalk der Austreibung. Ich treibe die schleimige Flüssigkeit aus; ich treibe die kriechende Kete-Pflanze aus; ich treibe To Pilana aus; ich treibe To Wuwu-Tawur aus; ich treibe Tumbal aus. Man hat sie tief im Meer versenkt. Rauch soll steigen, um sie fernzuhalten; Wolken sollen sich erheben, um sie fernzuhalten; Dunkelheit soll herrschen, um sie fernzuhalten; sie sollen sich hinwegheben in die Tiefen des Meeres.«(4)
Man darf nicht
glauben, dass diese Formel gewöhnlich ohne
Wirkung bliebe. Wilde unterliegen der
Suggestion in viel höherem
Maße als zivilisierte Menschen, und ihre
Krankheiten können auf
diese Weise oftmals sowohl hervorgerufen
wie auch geheilt werden.
Nach Rivers ist in den meisten Gegenden
Melanesiens der Mann,
der Krankheiten heilt, der Zauberer oder
Priester. Es gibt dort
offenbar keine sehr klare Unterscheidung
zwischen Medizinmännern und anderen, und einige der einfacheren
Heilmittel können von jedermann angewendet werden. Aber:
»Jene, die ärztliche Praxis mit magischen oder religiösen Riten verbinden, erwerben ihre Fähigkeit durch einen besonderen Vorgang, entweder durch Einweihung oder Unterricht, und in Melanesien müssen diese Kenntnisse immer erkauft werden. Die vollständigste Unterweisung in einem Zweig der medizinisch-magischen oder der medizinisch-religiösen Kunst nützt dem Schüler nicht, wenn er dem Lehrer nicht Geld gegeben hat.«(5)
Aus solchen Anfängen ist die Entwicklung einer festumrissenen Priesterkaste leicht vorzustellen. Sie besitzt das Monopol für die wesentlichen zauberischen und religiösen Kräfte und damit eine große Autorität über die Gemeinschaft. In Ägypten und in Babylonien erwies ihre Macht sich als stärker als die des Königs, als beide in Konflikt gerieten. Sie besiegten den atheistischen Pharao Echnaton und scheinen dem Cyrus verräterisch geholfen zu haben, Babylon zu erobern, weil ihr eingeborener König einen Hang zum Antiklerikalismus zeigte.
Griechenland und Rom nahmen im Altertum eine Sonderstellung ein durch ihre fast völlige Unabhängigkeit von priesterlicher Macht. In Griechenland konzentrierte sich eine derartige religiöse Macht vor allem in den Orakeln, in erster Linie in Delphi, wo, wie man glaubte, die Pythia in Verzückung geriet und Eingebungen Apollos offenbarte. Es war immerhin zu Herodots Zeiten wohlbekannt, dass das Orakel bestochen werden konnte. Herodot und Aristoteles erzählen beide, dass die Alkmäoniden, eine vornehme Familie aus Athen, die von Pisistratus (gestorben 527 v. Chr.) verbannt worden waren, sich auf korrupte Weise die Unterstützung Delphis gegen die Söhne des Genannten verschafften. Was Herodot berichtet, ist merkwürdig: die Alkmäoniden, erzählt er uns, »wenn wir den Athenern Glauben schenken dürfen, brachten die Pythia durch Bestechung dazu, den Spartanern zu sagen – wann immer einer von ihnen das Orakel in eigenen oder in Staatsangelegenheiten um Rat zu fragen kam –, dass sie Athen befreien müssten (von der Tyrannei der Söhne des Pisistratus). So schickten die Lakedämonier, als sie immer nur diese Antwort erhielten, schließlich den Anchimolius, des Aster Sohn, an der Spitze eines Heeres gegen Athen mit dem Befehl, die Söhne des Pisistratus aus der Stadt zu vertreiben, obgleich sie mit diesen in engster Freundschaft verbunden waren. Denn sie hielten die himmlischen Dinge weiter als das Menschliche.« (5. Buch, Kapitel 63.)
Obwohl Anchimolius geschlagen wurde, hatte eine spätere größere Expedition Erfolg, die Alkmäoniden und andere Verbannte kamen wieder an die Macht, und Athen erfreute sich wieder sogenannter »Freiheit«.
In dieser Erzählung begegnen uns einige bemerkenswerte Züge. Herodot ist ein frommer, jedem Zynismus abgeneigter Mann, der die Spartaner wohlwollend beurteilt, weil sie dem Orakel gehorcht haben. Aber er zieht Athen Sparta vor, und in Athener Angelegenheiten ist er gegen die Söhne des Pisistratus eingestellt. Nichtsdestoweniger sind es die Athener, die er als Zeugen für die Bestechung nennt, und weder die erfolgreiche Partei noch die sündige Pythia wurden von der Strafe ereilt. Noch in den Tagen Herodots nahmen die Alkmäoniden eine hervorragende Stellung ein; tatsächlich war der berühmteste unter ihnen sein Zeitgenosse Perikles.
Aristoteles stellt den Handel in seinem Buch über die Verfassung von Athen in noch ungünstigerem Licht dar. Der Tempel von Delphi war im Jahre 548 vor Christi Geburt von einer Feuersbrunst zerstört worden, und in ganz Griechenland wurden von den Alkmäoniden Geldmittel für den Wiederaufbau gesammelt. Sie benützten einen Teil des Geldes – so berichtet Aristoteles –, um die Pythia zu bestechen und machten die Verwendung des übrigen vom Sturz des Hippias, des Sohnes des Pisistratus, abhängig, wodurch sie Apollo für ihre Sache gewannen.
Trotz derartigen skandalösen Fällen blieb das Orakel von Delphi weiter von so hoher politischer Bedeutung, dass es einen heftigen Krieg auslöste, den man, wegen seiner Beziehung zur Religion, den »heiligen« Krieg nannte. Aber auf die Dauer muss die offene Anerkennung der Tatsache, dass das Orakel politischer Kontrolle unterworfen war, die Ausbreitung freien Denkens ermutigt haben, was schließlich den Römern ermöglichte, griechische Tempel ihres Reichtums und ihres Glanzes zu berauben, ohne in den Ruf von Tempelschändern zugeraten. Es ist das Schicksal der meisten religiösen Einrichtungen, von wagemutigen Männern früher oder später für profane Zwecke missbraucht zu werden und auf diese Weise die Ehrfurcht einzubüßen, von der ihre Macht abhängt. In der griechisch-römischen Welt geschah das stiller und weniger aufsehenerregend als sonstwo, weil dort die Religion niemals die gleiche Stärke besaß wie in Asien und Afrika und im mittelalterlichen Europa. Das einzige Land, das man in dieser Beziehung mit Griechenland und Rom vergleichen kann, ist China.
Bisher haben wir uns lediglich mit Religionen befasst, die aus unausdenlicher Vergangenheit auf uns überkommen sind, ohne dass wir ihren geschichtlichen Ursprung kennen. Diese Religionen sind jedoch fast überall von anderen entthront worden, die sich von Stiftern herleiten; die einzigen wichtigen Ausnahmen sind Shinto und Brahmanentum. Die Ursprünge älterer Religionen, wie jene, die von Anthropologen unter heute lebenden Wilden gefunden wurden, bleiben völlig im Dunkel. Wir haben bereits gesehen, dass es unter den primitivsten Wilden keine deutlich herausgebildete Priesterkaste gibt; man könnte meinen, dass zunächst einmal priesterliche Funktionen den Alten zufallen und besonders jenen, denen man Weisheit oder manchmal besondere Kenntnisse in schwarzer Magie zutraut.(6)
Mit der fortschreitenden Zivilisation wächst in den meisten Ländern die Kluft zwischen Priestern und der übrigen Bevölkerung, und die ersteren werden immer mächtiger. Aber als die Hüter einer alten Tradition sind sie konservativ und neigen als Inhaber von Reichtum und Macht dazu, persönlichem religiösem Gefühl gegenüber feindlich oder gleichgültig zu werden. Früher oder später wird ihr ganzes System von den Jüngern eines revolutionären Propheten niedergeworfen. Buddha, Christus und Mohammed sind die bedeutendsten historischen Beispiele dafür. Die Macht ihrer Nachfolger war zuerst revolutionärer Natur und wurde erst allmählich traditionell. Sie nahm im Laufe dieser Entwicklung viel von der alten Überlieferung auf, die sie dem Namen nach gestürzt hatte.
Sowohl religiöse wie weltliche Erneuerer – auf jeden Fall jene, die den nachhaltigsten Erfolg aufwiesen – beriefen sich soweit wie möglich auf die Tradition und machten die größten Anstrengungen, um die Elemente der Neuheit in ihrem System als gering darzustellen. Der übliche Plan besteht im Erfinden einer mehr oder weniger legendären Vergangenheit und in der vorgeblichen Wiederherstellung ihrer Einrichtungen. Im zweiten Buch der Könige wird erzählt, wie die Priester das Buch des Gesetzes »fanden« und der König eine »Rückkehr« zum Gehorsam gegenüber seinen Vorschriften veranlasste. Das Neue Testament berief sich auf die Autorität der Propheten, die Wiedertäufer auf das Neue Testament. Die englischen Puritaner beriefen sich in weltlichen Dingen auf die angeblichen Institutionen vor der Eroberung durch die Normannen. Die Japaner »erneuerten« im Jahre 645 die Macht des Mikado und im Jahre 1868 die Verfassung von 645. Eine ganze Reihe von Rebellen »erneuerte« das ganze Mittelalter hindurch und bis zum 18. Brumaire die republikanischen Einrichtungen des alten Rom. Napoleon »errichtete wiederum« das Reich Karls des Großen, nur wurde das als ein wenig zu theatralisch empfunden und verfehlte seinen Eindruck selbst in dieser rhetorisch gesinnten Zeit. Hier haben wir nur einige wenige zufällig zusammengestellte Beispiele für die Achtung, die selbst die größten Erneuerer für die Macht der Überlieferung empfunden haben.
Die mächtigste und bedeutendste von allen priesterlichen Organisationen ist in der Geschichte die katholische Kirche gewesen. Ich befasse mich in diesem Kapitel mit der Macht der Priester nur insofern, als sie traditioneller Art ist; ich will daher im Moment nicht die frühe Periode untersuchen, als die Macht der Kirche revolutionär war. Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches war die Kirche in der günstigen Lage, zwei Traditionen zu vertreten: außer der christlichen war auch die römische in ihr beschlossen. Die Barbaren verfügten über die Macht des Schwertes, aber die Kirche stand in Zivilisation und Bildung auf höherer Stufe, sie vertrat eine beständige, unpersönliche Idee, sie konnte religiöse Hoffnung und abergläubische Furcht erwecken und sie war vor allem die einzige Organisation, die sich über ganz Westeuropa erstreckte. Die griechische Kirche, die sich mit den verhältnismäßig stabilen Reichen von Konstantinopel und Moskau auseinanderzusetzen hatte, geriet in völlige Abhängigkeit vom Staat; aber im Westen ging der Kampf mit wechselndem Erfolg bis zur Reformation weiter und ist in Deutschland, Mexiko und Spanien noch heute nicht beendet.
Sechs Jahrhunderte hindurch nach der Völkerwanderung war die westliche Kirche nicht imstande, mit den unruhigen und leidenschaftlichen germanischen Königen und Fürsten, die in England und Frankreich, in Norditalien und im christlichen Spanien herrschten, auszukommen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Justinians Eroberungen in Italien hatten das Papsttum für eine gewisse Zeit zu einer byzantinischen Einrichtung gemacht und seinen Einfluss im Westen erheblich verringert. Der höhere Klerus kam mit wenigen Ausnahmen aus der feudalen Aristokratie, mit der man sich mehr verbunden fühlte als mit einem fernen und fremden Papst, dessen Einmischung mit Unwillen hingenommen wurde. Die niederen Geistlichen waren unwissend und meistens verheiratet mit dem Ergebnis, dass sie sich mehr darum sorgten, ihre Einkünfte ihren Nachkommen zu übermitteln als die Schlachten der Kirche zu schlagen. Reisen war eine so schwierige Sache, dass die römische Autorität in entfernten Königreichen nicht zur Geltung gebracht werden konnte. Die erste wirkliche Regierung über ein großes Gebiet war nicht die des Papstes, sondern jene Karls des Großen, den alle seine Zeitgenossen fraglos als den Vorgesetzten des Papstes betrachteten.
Nach dem Jahre 1000 kam es zu einem raschen Aufschwung der Zivilisation, nachdem man gesehen hatte, dass das erwartete Ende der Welt nicht gekommen war. Die Berührung mit den Mauren in Spanien und Sizilien förderte den Aufstieg der scholastischen Philosophie. Nachdem die Normannen für Jahrhunderte nur die Geißel des Piratentums gewesen waren, erwarben sie in Frankreich und in Sizilien alle Kenntnisse, die die damalige Welt zu bieten hatte, und wurden aus Vertretern der Unordnung zu Trägern der Ordnung und der Religion. Sie fanden außerdem die päpstliche Autorität nützlich für die Legitimierung ihrer Eroberungen. Durch sie wurde zum ersten Mal das kirchliche England vollständig unter die Herrschaft Roms gebracht. Inzwischen hatten sowohl der Kaiser wie der König von Frankreich die größten Schwierigkeiten, ihre Vasallen unter Aufsicht zu halten. Unter diesen Umständen begann mit der staatsmännischen Klugheit und mitleidlosen Energie Gregors VII. (Hildebrands) die Zunahme päpstlicher Macht, die die nächsten zwei Jahrhunderte hindurch anhalten sollte. Da diese Zeit das höchste Beispiel priesterlicher Macht bietet, will ich sie im einzelnen behandeln.
Die großen Tage des Papsttums, die mit dem Regierungsantritt Gregors VII. (1073) beginnen, erstrecken sich bis zur Einrichtung des päpstlichen Hofes in Avignon (1306) durch Clemens V. Die päpstlichen Siege wurden in diesem Zeitabschnitt vermittels sogenannter »geistiger« Waffen gewonnen, das heißt durch Aberglauben, nicht durch wirkliche Waffen. Während dieser ganzen Zeit waren die Päpste äußerlich auf Gnade und Ungnade dem vom unruhigen Stadtadel geführten römischen Pöbel ausgeliefert – denn, was auch der Rest der Christenheit immer denken mag, Rom hatte niemals irgendwelche Ehrfurcht vor seinem Pontifex. Der große Hildebrand selbst starb in der Verbannung. Er erwarb und übermittelte allerdings die Macht, selbst die größten Monarchen zu demütigen. Obwohl die unmittelbaren politischen Folgen Canossas Kaiser Heinrich IV. gelegen kamen, wurde es für die kommenden Jahrhunderte zum Symbol. Bismarck sagte während des Kulturkampfes: »Nach Canossa gehen wir nicht!«, aber er prahlte zu früh. Heinrich IV, der exkommuniziert worden war, brauchte die Absolution zur Verfolgung seiner Pläne, und Gregor, wenn er auch einem Reuigen die Absolution nicht versagen konnte, demütigte ihn, um ihn den Preis der Wiederversöhnung mit der Kirche zahlen zu lassen. Als Politiker konnten Männer vielleicht dem Papst Widerstand leisten, aber nur Ketzer stellten die Macht der Schlüssel in Frage, und nicht einmal Kaiser Friedrich II. auf der Höhe seines Kampfes mit dem Papsttum entschloss sich zur Ketzerei.
Gregors VII. Pontifikat war der Höhepunkt einer bedeutenden Periode kirchlicher Reformen. Bis zu diesem Tage war der Kaiser unbedingt dem Papst übergeordnet gewesen und hatte nicht selten die oberste Entscheidung bei seiner Wahl verlangt. Heinrich III., der Vater Heinrichs IV., hatte Gregor VI. wegen Simonie abgesetzt und einen Deutschen, Clemens II., zum Papst gemacht. Heinrich III. lag keineswegs mit der Kirche im Streit; er war im Gegenteil ein heiliger Mann, mit den frömmsten Kirchenleuten seiner Zeit im Bunde. Die von ihm unterstützte und von Gregor VII. zum Siege geführte Reform war im Wesentlichen gegen die Tendenz der Kirche gerichtet, dem Feudalismus zu verfallen. Könige und Edelleute ernannten Erzbischöfe und Bischöfe, die im Allgemeinen selber der Feudalaristokratie angehörten, und betrachteten ihre eigene Stellung von einem sehr weltlichen Standpunkt aus. Im Reich waren die wichtigsten Männer nach dem Kaiser ursprünglich Beamte gewesen, die Ländereien dank ihrer offiziellen Stellung besagen, aber gegen Ende des elften Jahrhunderts waren sie erblicher Adel geworden, deren Besitztümer sich weiter vererbten. Die Gefahr einer ähnlichen Entwicklung in der Kirche war gegeben, besonders unter den niederen Schichten der Laiengeistlichen. Die Partei der Reformer in der Kirche griff die verwandten Übel der Simonie und des Konkubinats an (so nannte sie die Heirat der Priester). Die Reformer zeigten in der Durchführung ihrer Kampagne Eifer, Mut, Ergebenheit und viel weltliche Weisheit. Ihre Heiligkeit sicherte ihnen die Unterstützung der Laien, und durch ihre Beredsamkeit gewannen sie ursprünglich feindliche Versammlungen für ihre Sache. St. Peter Damian rief zum Beispiel in Mailand im Jahre 1058 die Priesterschaft auf, den reformerischen Anweisungen Roms zu gehorchen; zunächst rief er damit einen solchen Grimm hervor, dass sein Leben in Gefahr war, aber schließlich setzte er sich durch, und man fand, dass jeder Mailänder Priester, vom Erzbischof angefangen, sich der Simonie schuldig gemacht hatte. Alle beichteten und versprachen für die Zukunft Gehorsam. Sie wurden daraufhin nicht ihrer Ämter enthoben, aber es wurde ihnen klargemacht, dass Verfehlungen in Zukunft mitleidslos bestraft werden würden.
Das kirchliche Zölibat gehörte zu Hildebrands Sorgen. Indem er es erzwang, verpflichtete er die Laien, die sich oftmals brutaler Grausamkeit gegenüber Priestern und ihren Frauen schuldig machten. Die Kampagne war natürlich kein voller Erfolg – bis zu diesem Tage hat sie sich in Spanien nicht durchgesetzt –, aber eines ihrer Hauptziele wurde durch das Dekret erreicht, dass Priestersöhne nicht geweiht werden konnten, was verhinderte, dass das örtliche Priestertum erblich wurde.
Einer der größten Siege der Reformbewegung war die Festlegung der Methoden der Papstwahl durch den Erlass vom Jahre 1059. Vor diesem Erlass hatten der Kaiser und der römische Pöbel gewisse wenig bestimmte Rechte, die Schismen und umstrittene Wahlen häufig machten. Der neue Erlass setzte es durch – allerdings nicht sogleich und nicht kampflos –, dass das Wahlrecht den Kardinälen übertragen wurde.
Diese Reformbewegung, die die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts erfüllte, vermochte in erheblichem Maße Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe vom Feudaladel zu trennen und dem Papst bei ihrer Ernennung eine Stimme zu verschaffen – denn wenn er keine Stimme bekommen hätte, konnte er meistens eine Beeinflussung durch Simonie vornehmen. Das beeindruckte die Laien und vergrößerte ihre Verehrung für die Kirche beträchtlich. Als es der Reformbewegung gelang, das Zölibat zu erzwingen, trennte sie die Priester nachdrücklicher von der übrigen Welt und regte ohne Zweifel ihren Machttrieb an, was die Askese in den meisten Fällen bewirkt. Die Reformbewegung erfüllte die führenden Kirchenmänner mit moralischer Begeisterung für eine Sache, an die jeder glaubte, diejenigen ausgenommen, welche aus der traditionellen Korruption Gewinn zogen, und als Hauptmittel zur Förderung dieser Sache verursachte jener Enthusiasmus eine große Erweiterung der päpstlichen Macht.
Von Propaganda abhängige Macht verlangt gewöhnlich, wie in diesem Fall, zu Anfang außerordentlichen Mut und Selbstaufopferung. Wenn man aber durch diese Eigenschaften erst einmal Achtung gewonnen hat, so können sie beiseite gelegt und die Achtung als Mittel zu weltlichem Aufstieg gebraucht werden. Mit der Zeit nimmt der Respekt ab, und die Vorteile, die er einem gesichert hat, werden verloren. Dieser Prozess erfordert manchmal nur wenige, manchmal Tausende von Jahren, aber im Wesen handelt es sich immer um dasselbe.
Gregor VII. war kein Pazifist. Seine Lieblingsworte waren: »Fluch dem Manne, der sein Schwert rein hält von Blut.« Aber er erklärte das als Verbot, sterblichen Menschen das Wort der Lehre vorzuenthalten, was die Richtigkeit seines Blicks hinsichtlich der Macht der Propaganda beweist.
Nikolaus Breakspear, der einzige Engländer, der je den Heiligen Stuhl einnahm (1154 bis 1159), zeigt die theologische Gewalt des Papstes in etwas anderer Beziehung. Arnold von Brescia, ein Schüler Abälards, predigte die Lehre, dass »Scholaren, die Güter haben, Bischöfe, die Ländereien besitzen, Mönche, die Reichtum ihr eigen nennen, nicht gerettet werden können«. Diese Lehre war natürlich nicht orthodox. St. Bernhard sagte von ihm: »Ein Mann, der weder isst noch trinkt, hungert und dürstet allein, gleich dem Teufel, nach dem Blut der Seelen.« St. Bernhard gab nichtsdestoweniger seine musterhafte Frömmigkeit zu, die ihn zu einem nützlichen Verbündeten für die Römer in ihrem Konflikt mit dem Papst und den Kardinälen machte – es war ihnen gelungen, diese im Jahre 1143 in die Verbannung zu treiben. Arnold unterstützte die wiederbelebte römische Republik, die in seiner Lehre eine moralische Sanktion suchte. Aber Hadrian IV. (Breakspear) zog Vorteil aus der Ermordung eines Kardinals und belegte Rom mit dem Kirchenbann für das Osterfest. Als Karfreitag herankam, befielen den Senat theologische Ängste, und er unterwarf sich auf widerliche Weise. Mit Hilfe des Kaisers Friedrich Barbarossa wurde Arnold gefangen. Man hing ihn auf, verbrannte seinen Körper und warf die Asche in den Tiber. So bewies man, dass Priester reich sein durften. Der Papst krönte den Kaiser in der Peterskirche, um ihn zu belohnen. Die kaiserlichen Truppen waren nützlich gewesen, nicht so nützlich allerdings wie der katholische Glaube, dem, mehr als jeglicher weltlichen Unterstützung, die Kirche sowohl Macht wie Reichtum verdankte.
Die Lehren des Arnold von Brescia waren geeignet, Papst und Kaiser miteinander zu versöhnen, denn jeder erkannte, dass beide für die errichtete Ordnung notwendig seien. Aber als man sich Arnolds entledigt hatte, brach der unvermeidliche Streit bald wieder aus. In dem langen Kriege, der folgte, hatte der Papst einen neuen Verbündeten, nämlich die lombardische Liga. Die Städte der Lombardei, Mailand an der Spitze, waren reich und dem Handel ergeben. Sie bildeten in jener Zeit einen Vortrupp in der wirtschaftlichen Entwicklung, eine Tatsache, die für Engländer in dem Namen »Lombard Street« festgehalten ist. Der Kaiser vertrat den Feudalismus, dem der bürgerliche Kapitalismus bereits feindlich gesinnt war. Obwohl die Kirche »Wucher« verbot, borgte der Papst. Er fand das Kapital der norditalienischen Bankiers so nützlich, dass theologische Strenge gemildert werden musste. Der Streit Barbarossas mit dem Papsttum, der etwa zwanzig Jahre währte, endete mit einem Rückzug, und es war vor allem den lombardischen Städten zuzuschreiben, dass der Kaiser aus ihm nicht siegreich hervorging.
In dem langen Kampf zwischen Papsttum und Kaiser Friedrich II. ist der schließliche Sieg des Papstes hauptsächlich zwei Ursachen zuzuschreiben: der Opposition der kommerziell gesinnten Städte Norditaliens, der Toskana wie der Lombardei, gegenüber dem Feudalsystem und der frommen Begeisterung, die die Franziskaner weckten. Der heilige Franziskus predigte apostolische Armut und weltumfassende Liebe, aber innerhalb weniger Jahre nach seinem Tode wirkten seine Jünger als werbende Feldwebel in einem heftigen Krieg, der den Besitz der Kirche verteidigen sollte. Der Kaiser wurde zu einem großen Teil geschlagen, weil er nicht vermochte, seine Sache in das Gewand von Frömmigkeit und Moralität zu hüllen.
Gleichzeitig ließen die von den Päpsten während dieses Kampfes angewendeten Kriegsmaßnahmen viele Menschen aus moralischen Gründen dem Papsttum gegenüber kritisch werden. Über Innozenz IV., den Papst, mit dem Friedrich um die Zeit seines Todes im Kampf lag, sagt die Cambridge Medieval History (Bd. VI, S. 176):
»Seine Auffassung vom Papsttum war weltlicher als die irgendeines anderen Papstes vor ihm. Er betrachtete seine Schwäche als politische, und seine Gegenmittel waren politischer Art. Er benutzte ständig seine geistliche Macht, um Geld zusammenzubringen, Freunde zu kaufen, Feinden zu schaden, und erweckte durch seine Skrupellosigkeit überall Feindschaft ohne Achtung gegen das Papsttum. Seine Handlungsweise war skandalös. Im Widerspruch zu seinen geistlichen Pflichten und zum Landesrecht gebrauchte er die Einkünfte der Kirche als päpstlichen Gewinn und Mittel politischer Belohnung: vier päpstliche Kandidaten warteten einer nach dem anderen auf einen Vorteil. Schlechte Ernennungen waren eine natürliche Folge dieses Systems; und weiterhin waren zu Kriegs-und diplomatischen Zwecken ausgesuchte Gesandte viel eher von völlig weltlichem Wesen als nicht ... Des Verlustes an Prestige und geistlichem Einfluss, den er verursachte, war sich Innozenz nicht im Mindesten bewusst. Er hatte gute Absichten, aber keine guten Grundsätze. Mit Mut, unbesieglicher Entschlossenheit und Schlauheit begabt, wurde seine kalte Gelassenheit selten durch Katastrophen oder Glück erschüttert, und geduldig verfolgte er seine Ziele mit verschlagener Treulosigkeit, die die kirchlichen Sitten lockerte. Sein Einfluss auf die Ereignisse war gewaltig. Er zerstörte das Reich; er lenkte das Papsttum auf die Bahn des Verfalls; er formte das Geschick Italiens.«
Der Tod Innozenz IV. ergab keinen Wechsel in der päpstlichen Politik. Sein Nachfolger Urban IV. führte den Kampf gegen Friedrichs Sohn Manfred mit großem Erfolg weiter und gewann die Unterstützung des noch wachsenden italienischen Kapitalismus, überall dort, wo er schwankte, durch einen interessanten Gebrauch seiner Autorität in moralischen Angelegenheiten, was ein klassisches Beispiel für die Umformung von propagandistischer in wirtschaftliche Macht darstellt. Die meisten Bankiers waren bereits, infolge ihrer beträchtlichen Transaktionen beim Zusammenbringen der päpstlichen Revenue, auf der Seite des Papstes, aber in einigen Städten, wie etwa in Siena, war die ghibellinische Stimmung so stark, dass die Bankiers zunächst sich auf die Seite Manfreds stellten. Wo dies geschah, wurden die Schuldner der Bank vom Papst unterrichtet, es sei ihre Christenpflicht, nicht ihre Schulden zu bezahlen, welcher Aufforderung als einer autoritativen die Schuldner bereitwillig nachkamen. Siena verlor als Folge den englischen Handel. In ganz Italien waren die Bankiers, die dem Ruin entkamen, durch dieses päpstliche Manöver gezwungen, Welfen zu werden (7).
Solche Mittel konnten zwar dem Papst die politische Unterstützung der Bankiers sichern, kaum aber ihre Achtung für den päpstlichen Anspruch auf göttliche Autorität stärken.
Die ganze Zeit vom Fall des westlichen Reiches bis ans Ende des sechzehnten Jahrhunderts kann als Wettstreit zwischen zwei Traditionen betrachtet werden: der des kaiserlichen Roms und jener der teutonischen Aristokratie, von denen die erstere in der Kirche, die letztere im Staat verwurzelt war. Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches versuchten, die Tradition des imperialen Roms zu übernehmen, was ihnen misslang. Sie waren, mit Ausnahme Friedrichs II., zu unwissend, um die römische Tradition zu verstehen, während die politische Einrichtung des Feudalismus, die ihnen vertraut war, germanischen Ursprungs war. Die Sprache der Gebildeten – jene eingeschlossen, die den Kaisern dienten war pedantisch von den Alten übernommen worden. Das Recht war römisch, die Philosophie griechisch, aber die Gebräuche, die teutonischen Ursprungs waren, waren nicht so beschaffen, dass man sie in wohlerzogener Rede erwähnen konnte. Es gab ähnliche Schwierigkeiten, wie sie heute ein Student der Klassik empfinden würde, wenn er die Vorgänge in der modernen Industrie auf lateinisch beschreiben sollte. Erst mit der Reformation und der Einführung moderner Sprachen an Stelle des Lateinischen fand das teutonische Element in der Zivilisation Westeuropas entsprechenden literarischen und geistigen Ausdruck.
Nach dem Fall der Hohenstaufen schien die Kirche für einige Jahrzehnte die Herrschaft Italiens über die westliche Welt wiederhergestellt zu haben. Vom Finanziellen aus gesehen war diese Herrschaft mindestens so sicher errichtet wie in den Tagen der Antonine im zweiten Jahrhundert – die Gewinne, die aus England und Deutschland nach Rom flossen, überstiegen weit, was die römischen Legionen herauszuholen vermocht hatten. Aber die Gelder wurden durch das Mittel der Verehrung, die man für das Papsttum fühlte, aufgebracht, nicht mit Waffengewalt.
Sobald die Päpste nach Avignon übersiedelten, begannen sie allerdings den Respekt zu verlieren, den sie während der drei vorausgegangenen Jahrhunderte gewonnen hatten. Das ließ sich nicht nur auf ihre völlige Willfährigkeit dem König von Frankreich gegenüber zurückführen, sondern auch auf ihre Teilnahme an furchtbaren Greueln, wie etwa anlässlich der Unterdrückung der Templer. König Philipp IV., der sich in finanziellen Schwierigkeiten befand, wollte die Ländereien dieses Ordens haben. Man entschied sich dafür, sie ganz ohne Grund der Ketzerei zu bezichtigen. Mit Hilfe des Papstes wurden jene, die sich in Frankreich befanden, ergriffen, so lange gefoltert, bis sie bekannten, dem Satan gedient, auf das Kruzifix gespien zu haben und dergleichen, und schließlich in großer Zahl verbrannt, während der König ihren Besitz übernahm, nicht, ohne dass auch für den Papst etwas abfiel. Mit solchen Handlungen begann die moralische Degeneration des Papsttums.
Das große Schisma machte es noch schwieriger, dem Papst gehorsam zu sein, da niemand wusste, wer von den Ansprucherhebenden der legitime war, und jeder von beiden den anderen verdammte. Während des großen Schismas zeigte jeder der beiden Rivalen einen unerfreulichen Willen zur Macht, der bis zur Verleugnung der feierlichsten Eide ging. In einigen Ländern kündigten Staat und Landeskirche gemeinsam beiden Päpsten den Gehorsam. Mit der Zeit wurde es klar, dass nur eine allgemeine Konferenz die Verwirrung beenden konnte. Die Konferenz von Pisa schuf misslicherweise nur einen dritten Papst, ohne die beiden anderen wirklich loszuwerden, obwohl sie ihre Absetzung als Ketzer verkündete. Die Tagung von Konstanz brachte es schließlich zuwege, alle drei zu entfernen und die Einigkeit wiederherzustellen. Der Kampf hatte jedoch die traditionelle Achtung vor dem Papsttum zerstört. Am Ende dieser Zeit der Verwirrung war es einem Wycliff möglich geworden, von den Päpsten zu sagen:
»Einen solchen Dämon loszuwerden, würde der Kirche keinen Schaden zufügen, sondern für sie von Nutzen sein; für seine Zerstörung zu wirken, hieße für die Kirche, der Sache Gottes eifervoll zu dienen.«
Das Papsttum des fünfzehnten Jahrhunderts sagte Italien zu, war aber zu weltlich und offensichtlich zu unmoralisch, um die Frömmigkeit nordischer Länder zu befriedigen. Schließlich wurde in den germanischen Ländern die moralische Revolte stark genug, um wirtschaftliche Motive wirksam werden zu lassen: Es kam zu einer allgemeinen Weigerung, Tribute an Rom zu entrichten, und Fürsten und Adlige bemächtigten sich des Grundbesitzes der Kirche. Das wäre jedoch nicht ohne die Umwälzung des Protestantismus möglich gewesen, die niemals ohne das große Schisma und den Skandal des Papsttums der Renaissance stattgefunden hätte. Wäre die moralische Kraft der Kirche nicht von innen geschwächt worden, so hätten die Angreifer nicht das moralische Übergewicht auf ihrer Seite gehabt; sie wären geschlagen worden, wie Friedrich II. geschlagen worden war.
In dieser Hinsicht ist interessant, was Machiavelli zum Thema der kirchlichen Fürstentümer im neunten Kapitel des »Fürsten« zu sagen hat:
»Es bleibt uns nun noch die Aufgabe, von kirchlichen Fürstentümern zu sprechen. Was diese betrifft, so ist die geringste Schwierigkeit ihre Inbesitznahme, denn sie werden durch Fähigkeit oder Glück erworben und können ohne das eine oder andere gehalten werden. Sie erhalten nämlich ihre Kraft durch alte Verordnungen der Religion, die so allmächtig und von derartigem Charakter sind, dass die Fürstentümer beherrscht werden können ohne Ansehen des Verhaltens und der Lebensweise ihrer Fürsten. Diese Fürsten allein besitzen Staaten und verteidigen sie nicht, sie haben Untertanen und regieren sie nicht; und die Staaten, wenn sie auch unbewacht sind, werden ihnen nicht genommen, und die Untertanen, obwohl nicht regiert, kümmern sich nicht darum, und sie haben weder den Wunsch noch die Fähigkeit, aus diesem Gefüge auszubrechen. Solche Fürstentümer allein sind gesichert und glücklich. Da sie jedoch von Mächten aufrecht gehalten werden, zu denen menschlicher Verstand nicht hinreicht, werde ich nicht weiter von ihnen sprechen, da sie, von Gott groß gemacht und erhalten, nur von einem voreingenommenen und voreiligen Mann behandelt werden könnten.«
Diese Worte wurden unter dem Pontifikat Leos X. geschrieben, also zu Anfang der Reformation. Frommen Deutschen wurde es allmählich unmöglich, zu glauben, dass der uneingeschränkte Nepotismus Alexanders VI. oder die Geldgier Leos »von Gott groß gemacht und erhalten« sein konnten. Luther, ein »voreingenommener und voreiliger Mann«, war durchaus willens, die Diskussion über die päpstliche Macht zu eröffnen, vor der Machiavelli zurückschreckte. Und sobald moralische und theologische Unterstützung für die Opposition gegen die Kirche in Erscheinung trat, brachten Gründe der Selbsterhaltung die Opposition zu schnellem Wachstum. Da die Macht der Kirche auf die Macht der Schlüssel gegründet war, war es natürlich, dass die Opposition sich mit einer neuen Rechtfertigungslehre verband. Luthers Theologie machte es Laienfürsten möglich, die Kirche ohne Furcht vor Verdammung in ihren Mitteln einzuschränken, ohne dass sie auch dadurch moralischer Verurteilung von Seiten der eigenen Untertanen verfallen wären.
Während wirtschaftliche Gründe in hohem Maße zur Verbreitung der Reformation beitrugen, sind sie offenbar nicht deren einzige Voraussetzung, denn sie waren Jahrhunderte hindurch wirksam gewesen. Viele Kaiser versuchten, dem Papst Widerstand zu leisten, ebenso handelten andere Staatsoberhäupter, zum Beispiel Heinrich II; und König Johann in England. Ihre Versuche wurden jedoch als bösartig betrachtet und daher zum Scheitern verurteilt. Erst nachdem das Papsttum eine lange Zeit hindurch seine traditionelle Macht in einem Grade missbraucht hatte, dass es zur moralischen Revolte kam, wurde ein erfolgreicher Widerstand möglich.
Aufstieg und Niedergang der päpstlichen Macht sollten jedem der Betrachtung wert erscheinen, der Machtaneignung durch Propaganda zu verstehen sucht. Es genügt nicht, zu sagen, dass Menschen abergläubisch sind und an die Macht der Schlüssel glauben. Das ganze Mittelalter hindurch gab es Häresie, die wie der Protestantismus an Ausdehnung gewonnen hätte, hätten die Päpste nicht, alles in allem, Achtung verdient. Und ohne Häresie machten weltliche Herrscher kraftvolle Versuche, die Kirche in Untertänigkeit gegenüber dem Staat zu halten, Versuche, die im Westen fehlschlugen, wenn sie sich auch im Osten durchsetzten. Dafür gab es verschiedene Gründe.
Zunächst einmal war das Papsttum nicht erblich und daher nicht durch Erbstreitigkeiten beunruhigt wie weltliche Königtümer. Ein Mann konnte in der Kirche nicht leicht zu hohem Range kommen, außer durch Frömmigkeit, Studium oder staatsmännisches Können; infolgedessen waren die meisten Päpste in einer oder mehreren Hinsichten Männer weit über dem Durchschnitt. Weltliche Oberhäupter konnten fähige Menschen sein, waren aber sehr oft gerade das Gegenteil; dazu hatten sie nicht die Übung in der Beherrschung ihrer Leidenschaften, die die Männer der Kirche besaßen. Wiederholt kamen Könige in Schwierigkeiten, weil sie eine Ehescheidung erstrebten, die als Angelegenheit der Kirche sie der Gnade des Papstes auslieferte. Manchmal beschritten sie den Weg Heinrichs VIII., um diese Schwierigkeit zu überwinden, aber ihre Untertanen waren empört, ihre Lehensleute wurden ihres Eides entbunden, und schließlich hatten sie sich zu unterwerfen oder sie mussten untergehen.
Eine andere große Stärke des Papsttums war seine unpersönliche Dauer. Im Streit mit Friedrich II. ist es erstaunlich, in wie geringem Maße der Tod eines Papstes sich bemerkbar macht. Es gab einen Block von Doktrinen und eine Tradition der Staatskunst, denen Könige nichts Gleichwertiges gegenüberzustellen hatten. Erst mit dem Aufstieg des Nationalismus erwarben weltliche Regierungen eine vergleichbare Dauerhaftigkeit oder Zielstrebigkeit.
Im elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert waren Könige im Allgemeinen unwissend, während die Päpste sowohl gelehrt wie auch wohlunterrichtet waren. Dazu waren die Könige mit dem feudalistischen System verbunden, das zu Störungen neigte, ständig der Gefahr der Anarchie ausgesetzt und den neuen wirtschaftlichen Kräften feindlich gesinnt war. Im Ganzen vertrat die Kirche in diesen Jahrhunderten eine höhere Zivilisation als der Staat.
Die bei weitem größte Kraft der Kirche war die moralische Achtung, die sie einflößte. Sie erbte als eine Art moralischen Kapitals den Ruhm der in früheren Zeiten erduldeten Verfolgungen. Ihre Siege waren, wie wir gesehen haben, mit der Durchsetzung des Zölibats verbunden, und die mittelalterliche Betrachtungsweise fand das Zölibat sehr eindrucksvoll. Sehr viele Männer der Kirche, unter denen sich nicht wenige Päpste befanden, ertrugen lieber schwere Entbehrungen, als dass sie in einem Punkt des Prinzips nachgegeben hätten. Es war für gewöhnliche Leute klar, dass in einer Welt entfesselter Raubgier, Verworfenheit und Selbstsucht hervorragende Würdenträger der Kirche nicht selten für unpersönliche Ziele lebten, denen sie willig ihr Schicksal unterordneten. In mehreren aufeinanderfolgenden Jahrhunderten beeindruckten heilige Männer, wie Hildebrand, St. Bernhard und St. Franziskus, die öffentliche Meinung und verhinderten den moralischen Misskredit, der sonst durch die Untaten anderer verursacht worden wäre.
Einer Organisation, die ideale Ziele und damit eine Entschuldigung für Machtliebe hat, kann jedoch der Ruf ungewöhnlicher Tugend gefährlich werden. Auf die Dauer muss ein solcher Ruf nur ungewöhnliche Skrupellosigkeit mit sich bringen. Die Kirche predigte Verachtung für die Dinge dieser Welt und gewann dadurch Herrschaft über Monarchen. Die Bettelmönche leisteten das Gelübde der Armut, was die Welt so beeindruckte, dass sie den bereits ungeheuren Reichtum der Kirche weiter vermehrte. Indem der heilige Franziskus brüderliche Liebe predigte, rief er die zur siegreichen Fortführung eines langen und grausamen Krieges erforderliche Begeisterung hervor. Schließlich verlor die Renaissancekirche jeden moralischen Sinn, dem sie Reichtum und Macht verdankte, und der Stoß der Reformation war zu ihrer Erneuerung notwendig.
All das ist unvermeidlich, wann immer höhere Tugend als Mittel zur Gewinnung tyrannischer Macht für eine Organisation gebraucht wird.
Außer wenn durch fremde Eroberung verursacht, ist der Zusammenbruch traditioneller Macht immer das Ergebnis ihres Missbrauchs durch Menschen, die, wie Machiavelli, glauben, dass ihre Herrschaft über den menschlichen Verstand zu fest ist, als dass sie selbst durch die gröbsten Verbrechen erschüttert werden könnte.
In den Vereinigten Staaten wird heutzutage die Verehrung, die die Griechen den Orakeln und das Mittelalter dem Papst entgegenbrachten, dem Obersten Gerichtshof gezollt. Wer den Mechanismus der amerikanischen Verfassung studiert hat, weiß, dass der Oberste Gerichtshof ein Teil jener Kräfte ist, die dem Schutz der Plutokratie dienen. Aber von den Menschen, die das wissen, ist ein Teil auf der Seite der Plutokratie. Sie werden daher nichts tun, was geeignet wäre, die traditionelle Verehrung des Obersten Gerichtshofes herabzumindern. Die anderen hingegen werden in den Augen des durchschnittlichen ruhigen Bürgers diskreditiert, indem man sie zersetzend und bolschewistisch nennt. Eine beträchtliche Weiterentwicklung parteimäßigen Charakters wird notwendig sein, bevor ein Luther imstande sein wird, erfolgreich die Geltung offizieller Interpreten der Verfassung anzugreifen.
Theologische Macht wird durch eine militärische Niederlage viel weniger betroffen als weltliche Macht. Es ist wahr, dass Russland und die Türkei nach dem Weltkrieg sowohl eine theologische wie auch eine politische Revolution durchlebten, aber in beiden Ländern war die traditionelle Religion engstens mit dem Staat verknüpft. Das wichtigste Beispiel für theologisches Überleben trotz militärischer Niederlage ist der Sieg der Kirche über die Barbaren im fünften Jahrhundert. Der heilige Augustin erklärte im »Gottesstaat«, der durch die Plünderung Roms inspiriert wurde, dass es nicht zeitliche Macht war, die dem wahren Gläubigen versprochen worden war, und dass sie daher nicht als Ergebnis festen Glaubens erwartet werden konnte. Die überlebenden Heiden im Reich behaupteten, dass Rom besiegt worden war, weil es die Götter verlassen hatte, aber trotz der einleuchtenden Wahrscheinlichkeit der Auslegung fand diese keinerlei breitere Unterstützung; die höhere Zivilisation der Besiegten gewann die Eroberer, und die Sieger nahmen den christlichen Glauben an. So lebte durch das Medium der Kirche der Einfluss Roms auf die Barbaren weiter, von denen es keinem vor Hitler gelang, die Überlieferung alter Kultur abzuwerfen.