DREIZEHNTES KAPITEL
ORGANISATIONEN UND DAS INDIVIDUUM

Menschliche Wesen finden es vorteilhaft, in Gemeinschaften zu leben, aber im Gegensatz zu den Bienen in einem Bienenstock bleiben ihre Wünsche in großem Maße individuell bestimmt; daraus erwachsen die Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Lebens und die Notwendigkeit einer Regierung. Denn einesteils ist eine Regierung notwendig: Ohne sie könnte nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung zivilisierter Länder weiterzuleben hoffen, und zwar in einem Zustand erbärmlicher Armut. Aber andererseits bedeutet Regierung Ungleichheit in der Machtverteilung, und die am meisten Macht besitzen, werden sie zur Förderung ihrer eigenen Ziele gebrauchen, die denen der durchschnittlichen Bürger entgegengesetzt sind. So sind Anarchie und Despotismus gleichermaßen verderblich, und ein Kompromiss ist notwendig, wenn die Menschen glücklich sein sollen.

In diesem Kapitel möchte ich die Organisationen untersuchen, die sich auf ein gegebenes Individuum beziehen – nicht Individuen in Zusammenhang mit einer gegebenen Organisation. Diese Angelegenheit ist natürlich in demokratischen und totalitären Staaten durchaus verschieden, denn in den letzteren sind mit wenigen Ausnahmen alle betreffenden Organisationen Abteilungen des Staates. So weit wie möglich will ich aber diesen Unterschied in einem einleitenden Überblick beiseite lassen.

Sowohl öffentliche wie private Organisationen wirken auf zweierlei Weise auf das Individuum. Es gibt solche, die ihm die Verwirklichung seiner Wünsche, oder was man für seine Interessen hält, erleichtern sollen, und es gibt solche, die es daran hindern sollen, die legitimen Interessen anderer zu schädigen. Die Unterscheidung ist nicht fest umrissen: Die Polizei ist da, um die Interessen ehrlicher Menschen zu fördern, wie auch, um Einbrechern entgegenzutreten, aber ihr Einfluss auf das Leben von Einbrechern ist viel nachdrücklicher als ihre Verbindung zu jenen, die auf dem Boden des Gesetzes stehen. Ich werde auf diese Unterscheidung zurückkommen; für den Augenblick wollen wir die wichtigsten Umstände im Leben von Individuen zivilisierter Gemeinwesen betrachten, in denen eine Organisation eine entscheidende Rolle spielt.

Um mit der Geburt zu beginnen: Die Dienste eines Arztes oder einer Hebamme werden als wesentlich angesehen, und obwohl man früher eine völlig ungeschulte Mrs. Gamp für ausreichend hielt, wird nun ein gewisses Maß an Erfahrung gefordert, über das eine öffentliche Behörde entscheidet. Das ganze Säuglings-und Kindheitsalter hindurch kümmert sich der Staat in gewissen Grenzen um die Gesundheit; das Maß an staatlicher Überwachung wird in den verschiedenen Ländern ziemlich genau von der Kurve der Säuglings-und Kindersterblichkeit wiedergegeben. Wenn die Eltern ihre elterlichen Pflichten zu offenkundig verletzen, können ihnen die Behörden das Kind wegnehmen und der Pflege eines Vormunds oder einer Einrichtung übergeben. Im Alter von fünf oder sechs Jahren kommt das Kind unter die Obhut der Unterrichtsbehörden und muss von diesem Moment an einige Jahre lang jene Dinge lernen, von denen die Regierung glaubt, dass jeder Bürger sie wissen müsse. Bei Abschluss dieses Prozesses sind in den meisten Fällen die meisten Ansichten und geistigen Gewohnheiten für das ganze Leben festgelegt.

Inzwischen wird in demokratischen Ländern das Kind anderen Einflüssen ausgesetzt, die nicht vom Staat ausgehen. Wenn die Eltern religiös oder politisch eingestellt sind, werden sie ihren Nachkommen einen Glauben oder eine Parteiansicht beibringen. Wenn das Kind älter wird, interessiert es sich in steigendem Maße für organisierte Vergnügungen, wie zum Beispiel Kino oder Fußball. Wenn es ziemlich, aber nicht sehr intelligent ist, kann es von der Presse beeinflusst werden. Wenn es eine Schule besucht, die nicht staatlich ist, erwirbt es eine Anschauung, die in mancher Weise eine besondere ist – in England handelt es sich gewöhnlich um eine Anschauung, die auf gesellschaftlicher Überlegenheit über die Masse beruht. Gleichzeitig nimmt es eine Moral an, die seinem Alter, seiner Klasse und Nation entspricht. Die Moral ist wichtig, aber nicht leicht zu definieren, weil ihre Regeln von dreierlei, voneinander nicht scharf abgegrenzter Art sind: erstens solche, denen man wirklich folgen muss bei Strafe allgemeiner Verachtung; zweitens solche, gegen die man nicht offen handeln darf; und drittens solche, die als vervollkommnende Ratschläge gewertet werden und eigentlich nur von Heiligen befolgt werden können. Moralvorschriften, die man auf die ganze Bevölkerung anwenden kann, sind hauptsächlich, wenn auch keineswegs gänzlich, das Ergebnis religiöser Tradition und wirken durch religiöse Organisationen. Sie können ihren Niedergang für längere oder kürzere Zeit überleben. Es gibt auch einen Berufskodex: Dinge, die beispielsweise ein Offizier, ein Arzt oder ein Anwalt nicht tun darf. Solche Vorschriften werden in neuerer Zeit in der Regel von Berufsverbänden formuliert. Sie sind sehr nachdrücklich: Während die Kirche und die Armee sich dem Duell entgegenstellen, blieb der Heereskodex unter Offizieren erhalten; das medizinische oder das Beichtgeheimnis bestehen selbst gegenüber dem Gesetz.

Sobald ein junger Mann oder eine junge Frau Geld verdient, beginnen verschiedene Organisationen seine oder ihre Handlungen zu beeinflussen. Der Unternehmer ist in der Regel eine Organisation; und dazu besteht wahrscheinlich noch ein Unternehmerverband. Die Gewerkschaft und der Staat kontrollieren beide wichtige Aspekte der Arbeit; und abgesehen von solchen Dingen wie Versicherung und Betriebsvorschrift, kann der Staat durch Zölle und Regierungsverordnungen mit darüber entscheiden, ob der Beruf, den ein Mann sich ausgesucht hat, florieren oder von Krisen bedrängt sein soll. Die Prosperität einer Industrie kann durch alle möglichen Umstände bestimmt werden, durch die Währung etwa, die internationale Lage oder die japanischen Ambitionen.

Heirat und Pflichten gegenüber Kindern bringen wiederum einen Menschen in Beziehungen zum Gesetz und ebenso zu einem Moralkodex, der in der Hauptsache von der Kirche herkommt. Wenn er lange genug lebt und arm genug ist, kann er sich schließlich einer Altersrente erfreuen; und sein Tod wird vom Gesetz und der Zunft der Mediziner sorgfältig überwacht, auf dass man sicher sei, dass er nicht durch eigenen oder fremden Willen eingetreten ist.

Gewisse Dinge bleiben, die durch persönliche Initiative entschieden werden. Ein Mann kann zu seinem Vergnügen heiraten, vorausgesetzt, dass die Braut dazu bereit ist; er hat möglicherweise in seiner Jugend eine gewisse Freiheit in der Wahl seiner Lebensumstände; er kann seine Freizeit verbringen, wie er will, innerhalb der Grenzen, die ihm sein Einkommen vorschreibt; wenn er sich für Religion oder Politik interessiert, kann er der Sekte oder Partei beitreten, die ihn am meisten anzieht. Außer in Ehesachen hängt er noch von Organisationen ab, selbst wenn er frei wählen kann: Sofern er nicht ein ganz ungewöhnlicher Mensch ist, kann er keine Religion stiften, keine Partei gründen, keinen Fußballklub organisieren noch seine eigenen Drinks mixen. Was er kann, ist, eine Wahl unter fertigen Alternativen zu treffen; aber der Wettbewerb lässt alle diese Alternativen so anziehend wie möglich erscheinen, innerhalb der von den wirtschaftlichen Bedingungen gesetzten Grenzen.

Soweit gesehen ist also die Wirkung der für zivilisierte Gesellschaftsformen bezeichnenden Organisationen die Erweiterung der Freiheit eines Menschen, verglichen mit der – sagen wir eines Bauern in einer verhältnismäßig unentwickelten Gemeinschaft. Betrachten wir das Leben eines chinesischen Bauern im Vergleich zu dem eines westlichen Lohnempfängers. Er muss zwar als Kind nicht zur Schule gehen, aber von einem sehr frühen Alter an muss er arbeiten. Es ist mindestens so wahrscheinlich wie nicht, dass er in früher Kindheit aus Not stirbt, und weil ihm ärztliche Hilfe fehlt. Wenn er am Leben bleibt, kann er seinen Lebensunterhalt nicht wählen, sofern er nicht bereit ist, Soldat oder Bandit zu werden oder das Wagnis auf sich zu nehmen, in eine große Stadt überzusiedeln. Der Brauch lässt ihm nur ein Mindestmaß an Freiheit in Bezug auf die Ehe. Er verfügt praktisch über keine Freizeit, und wenn er welche hätte, könnte er nichts Erfreuliches mit ihr anfangen. Er lebt immer auf der Grenze der Existenz, und in Zeiten der Hungersnot stirbt ein großer Teil seiner Familie mit großer Wahrscheinlichkeit. Und so schwer das Leben für den Mann ist – es ist noch viel schwerer für seine Frau und seine Töchter. Selbst die Ärmsten unter den Arbeitslosen in England führen ein Leben, das im Vergleich zu dem des durchschnittlichen chinesischen Bauern paradiesisch ist.

Wir kommen zu einer anderen Kategorie von Organisationen, nämlich zu solchen, die einen Menschen verhindern sollen, anderen Böses zuzufügen, die wichtigsten davon sind Polizei und Strafrecht. Soweit sie sich mit gewaltsamen Verbrechen, also mit Mord, Raub und überfall abgeben, vermehren sie Freiheit und Glück aller – eine kleine Minderheit besonders wüster Individuen ausgenommen. Wo die Polizei nicht auf dem Posten ist, errichten Räuberbanden sehr schnell eine Terrorherrschaft, die die Freuden des zivilisierten Lebens allen, außer den Gangstern, unzugänglich macht. Es gibt da natürlich eine Gefahr: Die Polizisten können selber Gangster werden oder jedenfalls eine Art Tyrannei aufrichten. Diese Gefahr ist keineswegs imaginär, aber die Methoden zu ihrer Bekämpfung sind wohlbekannt. Es besteht auch die Gefahr, dass die Polizei von den Machthabern benützt wird, um Bewegungen zugunsten wünschenswerter Reformen zu verhindern oder zu stören. Dass dies bis zu einem gewissen Grade geschehen muss, scheint beinahe unvermeidlich. Es gehört zu der fundamentalen Schwierigkeit, dass notwendige Maßnahmen zur Verhinderung der Anarchie es schwierig machen, den Status quo zu ändern, wo er geändert werden müsste. Trotz dieser Schwierigkeit würden wenige Mitglieder zivilisierter Gemeinwesen es für möglich halten, ganz ohne Polizei auszukommen.

Bisher haben wir Krieg oder Revolution oder die Furcht vor beiden nicht in Rechnung gestellt. Sie haben mit dem Selbsterhaltungstrieb des Staates zu tun und führen zu den drastischsten Formen der Kontrolle über das Leben des einzelnen. In fast allen kontinentalen Ländern besteht die allgemeine Wehrpflicht. überall kann bei Ausbruch des Krieges jeder Mann in militärpflichtigem Alter zum Kampf gerufen werden, und jedem Erwachsenen kann befohlen werden, die Arbeit zu tun, die die Regierung als besonders notwendig zur Erringung des Sieges betrachtet. Jene, deren Handlungen als Hilfe für den Feind gewertet werden, sind der Todesstrafe ausgesetzt. In Friedenszeiten ergreifen alle Regierungen Maßnahmen – und zwar mehr oder weniger drastische –, um im gegebenen Moment Kampfesbereitschaft und jederzeit Loyalität gegenüber der nationalen Sache zu sichern. Was die Revolution angeht, so hängen die Maßnahmen der Regierung von den revolutionären Möglichkeiten ab. Bei einem Gleichstand der übrigen Faktoren wird die Gefahr der Revolution größer sein, wenn die Regierung sich wenig um das Wohlergehen der Bürger kümmert. Wo aber, wie in totalitären Staaten, die Regierung ein Monopol nicht nur über den physischen Druck, sondern auch über moralische und wirtschaftliche Überzeugung verfügt, kann sie in der Missachtung ihrer Bürger weiter gehen als eine weniger nachdrückliche Regierung, weil das revolutionäre Fühlen weniger leicht verbreitet und organisiert werden kann. Man kann daher erwarten, dass, insofern jeder Staat sich von der Masse der Bürger abhebt, jeder Machtzuwachs ihn gleichgültiger gegenüber ihrem Wohlergehen machen wird.

Aus dem vorausgegangenen kurzen Überblick scheint man folgern zu können, dass die hauptsächliche Wirkung von Organisationen, wenn man von denen absieht, die den Selbsterhaltungswillen der Regierung als Ausgangspunkt haben, in der Richtung einer Zunahme des individuellen Glücks und Wohlseins geht. Erziehung, Gesundheit, Arbeitsproduktivität, Maßnahmen gegen Verarmung sind Dinge, über die es im Prinzip keinen Streit geben dürfte, und sie alle beruhen auf einem hohen Organisationsstandard. Wenn wir aber zu Maßnahmen kommen, die Revolution oder militärische Niederlage verhindern sollen, ist es anders. Für wie notwendig solche Maßnahmen auch gehalten werden mögen – ihre Wirkungen sind unerfreulich, und sie können nur mit dem Argument verteidigt werden, dass Revolution oder Niederlage noch unerfreulicher sein würden. Der Unterschied ist vielleicht ein geringer. Man könnte sagen, dass Impfung, Erziehung und Straßenbau unerfreulich sind, aber in geringerem Maße als Pocken, Unwissenheit und unpassierbare Moräste. Der graduelle Unterschied ist jedoch so bedeutend, dass er fast einem Unterschied im Wesen gleichkommt. Außerdem braucht die Unerfreulichkeit von Maßnahmen in Friedenszeiten nur vorübergehend zu sein. Die Pocken könnten zum Verschwinden gebracht und die Impfung damit überflüssig werden. Erziehung und Straßenbau könnten beide einigermaßen angenehm gemacht werden durch die Anwendung fortschrittlicher Methoden. Aber jeder technische Fortschritt macht den Krieg schmerzlicher und zerstörender und die Verhütung der Revolution mit totalitären Methoden schlimmer für die Humanität und Intelligenz.

Es gibt noch eine Art, um die Beziehungen des Individuums zu verschiedenen Organisationen zu klassifizieren: Es kann Kunde, freiwilliges Mitglied, unfreiwilliges Mitglied oder Feind sein.

Die Organisationen, deren Kunde ein Mensch ist, müssen von ihm seiner Bequemlichkeit für zuträglich angesehen werden, tragen aber nicht viel zu seinem Machtgefühl bei. Er kann sich natürlich in seiner Meinung von ihren Möglichkeiten irren: Die Pillen, die er kauft, können nutzlos, das Bier kann schlecht, das Rennen eine Gelegenheit sein, Geld an die Buchmacher zu verlieren. Nichtsdestoweniger erhält er selbst in solchen Fällen etwas von den Organisationen, denen er angehört: Hoffnung, Vergnügen und den Sinn persönlicher Initiative. Der Plan, einen neuen Wagen zu kaufen, gibt einem Menschen etwas zu denken und zu besprechen. Alles in allem ist die Freiheit der Wahl, wie man Geld ausgibt, eine Quelle des Vergnügens – das Interesse für eine eigene Einrichtung ist zum Beispiel ein sehr starkes und weit verbreitetes Gefühl, das nicht existierte, wenn der Staat uns alle mit möblierten Wohnungen ausrüsten würde.

Die Organisationen, denen der Mensch als freiwilliges Mitglied angehört, umfassen politische Parteien, Kirchen, Klubs, wohltätige Gesellschaften, Unternehmungen, in denen er Geld investiert hat, und so weiter. Vielen von diesen stehen gegnerische Organisationen gegenüber, die den gleichen Kategorien angehören: rivalisierende politische Parteien, dissidente Kirchen, Konkurrenzunternehmen. Der sich ergebende Wettkampf gibt denen, die sich an ihm interessieren, das Gefühl dramatischen Geschehens und ist ein Ventil für ihren Machttrieb. Überall, wo der Staat nicht schwach ist, wird ein derartiger Wettbewerb in gesetzlichen Grenzen gehalten, die Strafen für Gewalt oder Betrug vorsehen, wenn es sich nicht um einen geheimen Vorgang handelt. Die Kämpfe zwischen gegnerischen Organisationen sind im ganzen, wenn die Behörden Blutvergießen nicht zulassen, ein nützliches Ventil für Kampfgeist und Machtliebe, die sonst leicht schlimmere Formen der Befriedigung suchen können. Immer besteht die Gefahr, dass politischer Wettbewerb, wenn der Staat schwach oder parteiisch ist, in Unruhe, Mord und Bürgerkrieg ausartet. Wenn aber diese Gefahr ausgeschaltet ist, ist der Wettbewerb ein gesundes Element im Leben des einzelnen und der Gemeinschaft.

Die wichtigste Organisation, deren unfreiwilliges Mitglied der Mensch ist, ist der Staat. Soweit das Prinzip nationaler Zugehörigkeit bestehen geblieben ist, hat es jedoch dazu geführt, dass die Zugehörigkeit zu einem Staat im allgemeinen mit dem Willen des Bürgers übereinstimmt, wenn sie auch nicht von seinem Willen abhängt.

 

Wäre er nicht leicht ein Reuße,
Türk, Franzose oder Preuße?
Als ein Römer könnt er's treiben.
Wenn ihn Stimmen auch beschwören,
Anderm Volk anzugehören –
Engländer nur will er bleiben.

 

Die meisten Menschen würden, wenn man ihnen die Gelegenheit gäbe, ihr Land zu wechseln, es nicht tun, außer wenn der Staat eine fremde Nationalität vertritt. Nichts hat den Staat mehr gestärkt als der Erfolg des Nationalitätenprinzips. Wo Patriotismus und Staatsbürgertum Hand in Hand gehen, übertrifft die Ergebenheit eines Menschen gegenüber seinem Staat in der Regel seine Loyalität gegenüber freiwilligen Organisationen wie Kirchen und Parteien.

Ergebenheit für den Staat hat sowohl positive wie negative Ursachen. Es gibt da ein Element, das mit Anhänglichkeit an Heimat und Familie verbunden ist. Aber das würde nicht die der Loyalität gegenüber dem Staat gemäße Form annehmen, wenn es nicht von dem Doppeltrieb der Machtliebe und der Furcht vor dem fremden Angreifer Nahrung erhielte. Der Wettbewerb der Staaten, ungleich jenem unter politischen Parteien, geht ums Ganze. Die ganze zivilisierte Welt war erschüttert, als man das eine Lindbergh-Baby entführte und ermordete, aber derartige Dinge werden in großem Maßstab im nächsten Krieg an der Tagesordnung sein.(23) Keine andere Organisation bringt etwas Ähnliches hervor wie die durch den nationalen Staat erweckte Loyalität. Und die wichtigste Tätigkeit des Staates ist die Vorbereitung des Massenmords. Es ist die Ergebenheit dieser Todesorganisation gegenüber, die Menschen veranlasst, den totalitären Staat zu ertragen und lieber die Zerstörung von Heim und Kindern und unserer ganzen Zivilisation zu riskieren, als sich einer Fremdherrschaft zu unterwerfen. Individualpsychologie und Regierungsorganisation haben eine tragische Synthese hervorgebracht, unter der wir und unsere Kinder leiden müssen, solange wir machtlos einen Ausweg in der Katastrophe suchen.