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Christine Keller reagierte als Erste auf die Geiselnahme und nahm die Verfolgung auf. Frederic Ross folgte ihr. Sergeant Bill Grimsby blieb zurück und sicherte die Gefangennahme von Gloria McGinnis, die er mit angelegten Handschellen zum Landrover zurückführte.

Als Christine Keller an Frank Schönbeck und Kenneth McCully vorbeistürmte, warf sie Frank nur einen kurzen Blick zu, verzichtete aber darauf, ihm oder McCully irgendwelche Anweisungen zuzurufen. Sie würden sie ohnehin nicht befolgen. Das hatten sie ihr in der vergangenen Woche ausreichend bewiesen.

Sie hörte Frederic Ross neben sich keuchen. Schon nach wenigen Metern hatte er sie eingeholt, obwohl er stark erkältet war. Vor allem kam er mit dem unebenen Gelände weit besser zurecht als die deutsche Kommissarin. Er war an die Naturwege gewöhnt. Sie dagegen musste immer wieder ihr Tempo drosseln, um nicht in eine Steinsenke zu stolpern oder auf dem nassen Gras wegzurutschen.

»Er will zum Damm«, sagte Frederic Ross zwischen zwei schweren Atemzügen, »und dann mit dem Wagen zurück. Aber das wird er nicht schaffen. Das Wasser steht schon zu hoch.«

Sie liefen zum nahen Ufer hinunter, überquerten einen kurzen Kieselstrand und erklommen eine grasbewachsene Klippe, bis nach einigen Kurven der Verbindungsdamm zur Cruden Bay in Sicht kam. Christine Keller atmete schwer, und Frederic Ross schnappte mit offenem Mund nach Luft. Gar nicht weit von ihnen entfernt sahen sie, wie Mr. Van auf einen Mercedes-Geländewagen zu rannte, der direkt neben der Auffahrt zum Damm abgestellt war.

Doch damit hatten sie gerechnet. Nach ihrer ersten morgendlichen Umrundung der Insel mit dem Landrover hatten sie bei der Rückkehr zum Damm den dort abgestellten Mercedes entdeckt. Sergeant Bill Grimsby hatte sofort gewusst, wem er gehörte. Es gab auch nur diese eine Möglichkeit, denn Mr. Van und seine Begleiter waren die Einzigen, die ohne besondere Genehmigung die Insel betreten durften. Bob, der den ganzen Tag über an der Kontrollstation am Dammeingang ausharrte, wusste, dass Mr. Van der Inhaber der letzten Grabungslizenz für Wavy Island war, und hatte, ohne nachzufragen, die Überfahrt gestattet.

Sie waren noch etwa zweihundert Meter von Mr. Van und Peter entfernt, als Mr. Van sie herankommen sah. Sofort hob er die Pistole und zielte demonstrativ auf den vor ihm stolpernden Peter.

Christine Keller und Frederic Ross näherten sich jetzt langsamer, um Peter nicht zu gefährden. Sie sahen, wie Mr. Van mit der einen Hand die Waffe auf Peter gerichtet hielt und mit der anderen nach den Wagenschlüsseln suchte.

»Bleiben Sie stehen, Christine, er kommt nicht weit«, sagte Frederic Ross.

»Ich weiß, aber wir müssen ihn doch stellen, bevor er Adams gefährdet.«

Sie wusste, dass sich zwischen all den benutzten und unbenutzten Papiertaschentüchern, die Frederic Ross im Innenfutter seiner Pilotenjacke mit sich rumschleppte, vier Autoreifenventile befanden, die ursprünglich zu dem Mercedes-Geländewagen von Mr. Van gehört hatten.

Christine Keller verkürzte weiter den Abstand zwischen sich und den beiden Flüchtenden, während Mr. Van Peter in den Wagen zerrte. Als sie den startenden Motor hörte, hatte sie sich so weit herangepirscht, dass sie sich sicher war, ihre Pistole benutzen zu können. Auch Frederic Ross tauchte neben ihr auf. Sie knieten sich ins Gras, um Mr. Van möglichst wenig Zielfläche zu bieten. Der Mercedes fuhr rumpelnd ein, zwei Meter und blieb dann im Sand vor der Dammauffahrt hängen. Der Wagen ruckelte, als Mr. Van die Schaltung des Vierradgetriebes quälte, um das Fahrzeug voran zu zwingen, doch er konnte das Auto nicht einmal durch den Sand in die Kurve hineinlenken, die zum Damm hinaufführte. Die platten Reifen stoben protestierend Sandfontänen vor sich her, aber der Wagen bewegte sich kein Stück vorwärts.

Mr. Van hatte bemerkt, dass mit dem Auto etwas nicht stimmte.

Christine Keller sah, wie er aus dem Fahrzeug kletterte und die bis zur Felge im Sand feststeckenden Räder musterte.

»Bleiben Sie stehen, und werfen Sie die Waffe weg!« Sie schrie so laut sie konnte. Der Regen ließ zwar langsam nach, dafür machte es ihr der Wind, der auf dieser Inselseite wesentlich stärker wehte als auf dem Felsplateau, um so schwerer, sich verständlich zu machen.

Mr. Van hatte anscheinend verstanden. Er blickte auf. Und er sah die auf sich gerichtete Waffe.

Er drehte sich um, um Peter, der auf dem Beifahrersitz saß, zum Aussteigen zu zwingen.

Da eröffnete Christine Keller das Feuer. Ihre Kugel schlug in die Fahrertür des Mercedes ein, und Mr. Van duckte sich. Als er sich wieder aufrichtete, winkte er mit der Waffe in das Fahrzeug hinein.

Aber offenbar gehorchte Peter nicht. Frederic Ross erfasste die Situation und schoss zwei Mal rasch hintereinander. Wieder knallten die Kugeln in das Fahrzeugblech. Mr. Van wich zuerst zurück, richtete dann aber wieder seine Waffe mit beiden Händen in einer gefährlich langen Sekunde, in der gar nichts passierte, in das Fahrzeuginnere auf Peter.

Dann traf ihn ein Schuss aus Christine Kellers Dienstwaffe in den Oberarm.

Sie sah, wie er zusammenzuckte und mit der Hand, in der er die Waffe hielt, nach seinem verletzten Oberarm griff. Ohne sich weiter um Peter zu kümmern, drehte er sich um und lief, hinter dem Heck des Mercedes Feuerschutz suchend, um das Auto herum und die kurze Böschung zum Damm hinauf.

»Was hat der vor? Ist er wahnsinnig?«

Frederic Ross sprang auf und rannte mit großen Schritten zu dem abgestellten Wagen hinunter. Christine Keller folgte dicht hinter ihm. Mr. Van erreichte, immer noch seinen angeschossenen Arm festhaltend, die holprige Fahrbahn und schickte sich an, über den Damm zu laufen, als die Polizisten den Wagen erreichten.

Im Fahrzeuginneren war niemand zu sehen. Christine Keller riss die Beifahrertür auf und blickte auf den im Fußraum kauernden Peter Adams hinunter, der sich noch immer schützend die Arme über den Kopf hielt. Sie erfasste schnell, dass er zwar unverletzt, aber total verängstigt war, konnte sich aber trotzdem ein Lächeln nicht verkneifen, als sie die Waffe sinken ließ.

»So, reicht Ihnen das jetzt an Abenteuern, Mr. Adams?«

Peter ließ die Arme sinken und stieg langsam aus dem Wagen. Noch war er zu geschockt, um etwas zu sagen. Es kam zwar selten vor, doch die letzte halbe Stunde hatte ihm die Sprache verschlagen. Sie stiegen zum Damm hinauf und sahen, wie etwa hundert Meter vor ihnen Captain Ross mit langen Schritten hinter dem flüchtenden Mr. Van herhetzte, der offenbar wirklich vorhatte, den vier Kilometer langen Fahrdamm zu Fuß zu überqueren. Doch er hatte keine Chance. Christine Keller konnte jetzt erkennen, was Captain Ross gemeint hatte. Es war Mittag geworden, und die zurückkehrende Flut hatte längst den gesamten mittleren Teil des Fahrdamms überspült.

Sie sahen die in der Ferne kleiner werdende Gestalt von Mr. Van den Damm entlanglaufen. Sie sahen, wie er das Wasser erreichte, das den Damm überspülte. Dann, wie er sich umblickte und wie Captain Ross stehen blieb und die Waffe auf Mr. Van richtete. Der Wind brauste über die Bucht. Sie waren viel zu weit weg, um hören zu können, was Captain Ross ihm zurief, aber Mr. Van ließ sich nicht zum Umkehren bewegen. Mit langsamen, tastenden Schritten auf den unter Wasser liegenden Steinen Halt suchend, wagte er sich auf den überspülten Fahrdamm. Captain Ross lief ihm nach, erreichte aber die Stelle, an der der Damm im Meer verschwand, erst, als Mr. Van schon vierzig, fünfzig Meter vor ihm durch das immer stärker fließende Wasser watete.

Er konnte es nicht schaffen. Der vor ihm liegende Damm war mindestens noch fünfhundert Meter lang, und Mr. Van hatte noch lange nicht die tiefste Stelle erreicht. Das Wasser lief weiter auf. Ohne etwas tun zu können, sahen sie zu, wie die Strömung der Bucht Mr. Van von hinten packte und von den Beinen riss. Er stürzte in die Flut, und der Wind trug seine Schreie mit sich fort. Es dauerte nur Sekunden, und von Mr. Van war nichts mehr zu sehen.

»Das war Absicht«, waren die ersten Worte, die sie Captain Ross sagen hörten, als er ihnen auf dem Verbindungsdamm entgegenkam. »Er wusste genau, wie stark die Strömung ist. Er wusste, dass er dabei draufgehen würde.«

Captain Ross war perplex, erteilte aber gleich Anweisungen über sein Handy. Dann wandte er sich ihnen wieder zu.

»Ich habe die Küstenwache losgeschickt. Es hat zwar fast keinen Sinn mehr, aber wir müssen es immerhin versuchen. Wer hier in die Strömung gerät, für den gibt es keine Rettung mehr. Der Sog ist viel zu stark. Er wird ertrinken, weil er sich nicht an der Oberfläche halten kann. Wir können nur noch abwarten, bis er irgendwo angespült wird.«

Captain Ross stand unter Schock, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, dass jemand sich freiwillig der Strömung der Bay of Fundy aussetzte.

»Wenn er auf der anderen Seite des Dammes reingefallen wäre, hätte er vielleicht eine kleine Chance gehabt, aber so treibt ihn die Flut in die Fundy Bay hinaus. Das ist die größte Trichtermündung der Welt. Die Flutwelle hat einen solchen Druck, dass Sie gar nicht so schnell gucken können, wie jemand runtergezogen wird.«

Captain Ross schüttelte noch einmal ungläubig den Kopf, dann kehrten sie auf die Insel zurück. Sie würden bis zum Abend hier gefangen sein, erst dann würde ihnen die eintretende Ebbe erlauben, Wavy Island wieder zu verlassen.