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Hauptkommissarin Christine Keller war stinksauer. Nicht so sehr auf die zwei smarten blonden Studenten, von denen sie ausgetrickst worden war, sondern hauptsächlich auf sich selbst. Wie hatte sie sich nur darauf verlassen können, dass die beiden ihr Versprechen halten würden und ihr die Landkarte, das allem Anschein nach entscheidende Motiv für den Mord an Professor Pfleiderer, übergeben würden?
Wütend warf sie die wenigen Kleidungsstücke, die sie für den Kurzaufenthalt in London auf die Schnelle zusammengesucht hatte, zurück in ihren Reisekoffer, der aufgeklappt auf dem Hotelbett lag.
Wenn sie doch gestern Abend nur darauf bestanden hätte, Frank Schönbeck und Peter Adams ins Institut an der Universität zu begleiten, um sich die Karte gleich geben zu lassen. Was für ein ärgerlicher, blöder Fehler, der den gesamten Ablauf der Ermittlungen in Frage stellte! Da war sie zum ersten Mal damit beauftragt worden, der bedeutendsten Spur in einer Mordermittlung selbstständig, auf sich allein gestellt und dazu noch im Ausland nachzugehen, und dann das.
Schuld daran war eigentlich nur dieser Frank Schönbeck, das hatte sie schon an dessen nachdenklicher Zurückhaltung bei ihrer gestrigen Befragung gemerkt. Er hatte nur zögernd und mit Bedacht auf ihre Fragen geantwortet. Zwar war er nicht unkooperativ gewesen, aber sie hätte an seinem Grübeln bei jeder Frage, die sie ihm gestellt hatte, sehen müssen, dass er irgendwas ausbrütete. Möglicherweise lag es auch daran, dass er sich die Schuld am Tod des Professors gab. Ziemlich weit hergeholt, dieser Gedanke. Sie hätte ihm erklären können, dass Menschen, die bereit waren, aus Habgier einen Mord zu begehen, bestimmt keine Rücksicht auf die Schuldgefühle eines unbedeutenden Geografiestudenten nahmen. Das Motiv für diesen Mord stand für sie von vornherein fest: Geldgier. Die Karte war in der Vorstellung des Mörders der Schlüssel zum Reichtum. Aber die unbekannte Landkarte hatte der Mörder nicht bekommen. Auf irgendeine geheimnisumwobene Weise musste die Karte dem Mörder den Weg zu sehr viel Geld ebnen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, und sie hatte sich die Gelegenheit, schneller als der Mörder an die Karte zu kommen, durch die Lappen gehen lassen, weil sie die beiden Männer gestern hatte laufen lassen.
Mit aufloderndem Ärger knallte sie Zahnpastatube, Zahnbürste und Waschlappen auf die oberste Kleidungsschicht im Koffer und ließ den Deckel hinuntersausen. Dann setzte sie sich auf das Bett und versuchte, sich zu beruhigen. Sie bemühte sich, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
Nach dem Telefonat mit Peter Adams hatte sie noch mehrmals angerufen und vergeblich darauf gehofft, dass einer der beiden ans Telefon gehen würde. Dann war sie mit einem Kollegen von Scotland Yard zum Institutsgebäude auf dem Universitätsgelände gefahren und hatte das Arbeitszimmer von Peter Adams aufgesucht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dort jemanden anzutreffen, aber es war die einzige Spur, die sie in London noch hatte. Im ganzen Gebäude war ihnen kein Mensch begegnet. Die Tür zu Adams Zimmer war nicht einmal abgeschlossen gewesen, und auf dem Schreibtisch hatte der englische Brief gelegen, den sie sich jetzt noch einmal durchlas:
Liebe Frau Keller,
nachdem wir gestern gemeinsam mein Haus so verwüstet vorgefunden haben, habe ich lieber gleich die Tür zu diesem Raum unverschlossen gelassen, um zu vermeiden, dass erneut Schaden angerichtet wird. Keinesfalls möchte ich damit andeuten, dass etwa Sie oder die hochverehrten Kollegen von Scotland Yard in die Versuchung kommen könnten, auch nur annähernd ein solches Chaos in meinen Arbeitsmaterialien anzurichten, wie wir es bei mir zu Hause vorgefunden haben. Nur so viel: Die Karte ist nicht hier. Wir haben sie mitgenommen, und gerne würde ich sie Ihnen sofort persönlich übergeben, allerdings müssen wir noch einige dringende wissenschaftliche Überprüfungen an ihr vornehmen. Einstweilen bitte ich Sie, falls Sie mein Arbeitszimmer dennoch untersuchen lassen, den Raum so zurückzulassen, wie Sie ihn vorfinden. Auf ein baldiges Wiedersehen freut sich
Ihr ergebenster Peter Adams
Charmant war er ja, dieser Peter Adams. Sie hatte gestern auch gar nicht ausgeschlossen, dass sie ihn dazu hätte überreden können, ihr die Karte zu geben. Aber nun war es dafür zu spät. Sie steckte den Brief ein und überlegte, welche Möglichkeiten ihr blieben.
In London würde sie unter diesen Umständen nichts mehr erreichen. Sie konnte zurück nach Hamburg fahren, zugeben, dass sie es mehr oder weniger verbockt hatte, und dann dabei helfen, ein Täterprofil zu erstellen: Deckname Einstein, an die zwei Meter groß, dunkle Augen, ließ am Tatort eine Motorradmaske zurück, auf der die physikalische Formel e = mc2 aufgedruckt war. Sie schüttelte den Kopf. Das hatten die Kollegen erstens alles schon überprüft, und zweitens war Schreibtischarbeit gar nicht gut für ihre schlanke Linie.
Ihr blieb nur eine einzige Möglichkeit: Sie musste den Weg des Toten zurückverfolgen und dahin gehen, wo vielleicht der Schlüssel zu dem ganzen Durcheinander zu finden war. In die Schweiz. Sie musste Franz Felgendreher befragen, den Mann, den Professor Pfleiderer vor seinem Tod besucht hatte und der ihr möglicherweise auch Aufschluss über die seltsame Karte geben konnte.
Vielleicht würde sie dort ja auch die Karte selbst und ihre Detektiv spielenden Besitzer wiedertreffen. Schließlich hatte sie genau registriert, mit welchem nur mühsam verborgenen Interesse Frank Schönbeck reagiert hatte, als sie gestern den Namen Franz Felgendreher erwähnt hatte. Seine Reaktion war einwandfrei gewesen, und sie glaubte nicht, dass er gelogen hatte, als er sagte, er höre den Namen zum ersten Mal. Doch allem Anschein nach hatte sie damit seinem unsinnigen persönlichen Rachefeldzug und seinem kindischen Jagdeifer nur ungewolltes Futter geliefert.
Zwar konnte sie sich nicht erklären, wie zwei Studenten mit beschränkten Mitteln auf Mörderjagd gehen wollten, aber das war jetzt auch zweitrangig. Sie musste ihre Aufgabe erfüllen und den Mörder von Professor Dr. Anton Pfleiderer fassen.
Sie prüfte mit einem abschließenden Blick, ob sie auch alles eingepackt hatte, sah sich in ihrem Hotelzimmer um und griff dann zum Telefonhörer, um noch für heute Abend einen Flug in die Schweiz zu buchen. Nach mehreren Versuchen suchte man ihr eine passende Verbindung heraus, mit der sie am gleichen Abend zumindest noch bis Zürich kommen würde.