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Am Eingang zu Madame Tussaud’s staute sich die tägliche Menge Touristen, die dort bis zu drei Stunden in der geraden Warteschlange ausharren mussten. Hätte man sie gefragt, wie sie das aushielten, hätte es wohl keiner erklären können. Tatsächlich entsprang die dafür notwendige Geduld einer unerklärlichen, aber bei jedem von ihnen vorhandenen unbewussten Furcht vor der unbekannten drakonischen Strafe, die einem blühte, wenn man gegen das heilige englische Gebot des disziplinierten Schlangestehens verstieß. Doch je näher sich die Menschen dem Eingang näherten, umso mehr verwandelte sich der Kopf der Schlange in einen unkontrollierten Ameisenhaufen, der sich im Rhythmus der sich dagegen anwerfenden Türsteher vor- und zurückbewegte.

Frank kämpfte sich auf dem Gehsteig an ein paar wild gestikulierenden Italienern vorbei, die gerade versuchten, drei in bunte Saris gekleideten indischen Frauen den Spitzenplatz vor der Eingangstür abzunehmen.

Durch das Menschenknäuel hindurch hatte er bald eines der hochrädrigen und dickbäuchigen Londoner Taxis entdeckt, das auf der Seitentür die Aufschrift Quiz-Cabs trug. Erst hatte er ja gedacht, Peter würde mit der Geschichte einen Witz machen, aber hier war der eindeutige Gegenbeweis. Ohne lange abzuwarten, bis das letzte Familienmitglied der mehrköpfigen Samstagsnachmittags-Ausflugsgruppe den Rücksitz verlassen hatte, schob sich Frank auf der anderen Seite ins Taxi. Seine Eile trug ihm einen bösen Blick des Vaters ein, der gerade eben noch das letzte seiner Kinder aus dem Auto herauspflückte.

»Sind Sie frei?«, fragte er in unbeholfenem Englisch.

»Jetzt nicht mehr, du sitzt ja schon drin.«

Von seinem Platz auf der Rückbank aus sah er einen schmalen Streifen brauner Haut, der nach oben hin ziemlich rasch von kurz geschnittenen schwarzen Haaren abgelöst wurde. Auf dem dazugehörigen Kopf thronte eine hellblaue Baseballmütze.

»So wird das nichts, Großer, wenn ich dir etwas erzählen soll, musst du entweder rüberrutschen oder dich auf den Beifahrersitz setzen«, hörte er wieder die Frauenstimme, die sehr jung klang. Er schätzte die Sprecherin auf Anfang zwanzig. Frank gehorchte und rutschte schnell auf den Platz hinter dem Beifahrersitz.

»So ist’s besser, Mikrofone haben wir leider noch nicht.«

Jetzt konnte Frank noch drei ziemlich dicke Silberringe im rechten Ohr erkennen und das schmatzende Geräusch eines Kaugummis hören. Die Frau drehte ihm endlich das Gesicht zu, und Frank blickte in ein Paar wunderschöne dunkelbraune Augen, die leider von den darüber hängenden Haarsträhnen fast ganz verdeckt wurden.

»Oje, der Selbstmörder von heute Morgen! Tja, man sieht sich im Leben eben immer zwei Mal. Du fühlst dich im Auto wohl sicherer als zu Fuß, was?«

Frank sah sie verdutzt an, doch sie lächelte ihn nur an und wartete. Dann sah er auf ihre zierlichen Hände, die auf dem breiten Holzlenkrad lagen, und erkannte sie wieder.

»Du hast mich vorhin fast über den Haufen gefahren«, sagte er dann, weil ihm nichts Besseres einfiel. Doch er bereute es sofort und hoffte, dass er nicht zu vorwurfsvoll geklungen hatte.

»Und du bist vom Kontinent und gerade erst angekommen.«

Sie musterte ihn schräg über die Schulter nach hinten blickend.

»Holland oder Deutschland schätze ich, ich finde, alle Touristen sollten ein Warnschild um den Hals tragen. Sie sind eine der größten Gefahren im Straßenverkehr. Sie sind nicht an den Linksverkehr gewöhnt und schauen beim Überqueren der Straße immer zuerst in die falsche Richtung. Das hast du heute Morgen auch getan. Ich habe aber nicht damit gerechnet, dass du mit so einem Tempo durchstarten würdest.«

»Stimmt schon, es war mein Fehler, ich war … ich meine, ich hatte es wirklich eilig«, versuchte er zu erklären.

»Das sah eher aus wie auf der Flucht«, sagte sie. »Kann ich dich jetzt irgendwo hinbringen? Wenn du den Quiz-Cabs-Service in Anspruch nehmen willst, berechnen wir pauschal zehn Pfund extra. Du gibst mir mindestens drei Stichworte, und ich erzähle dir, was ich dazu weiß. Es gibt keine Garantie für die Richtigkeit, der Service ist die Information, keine Preisverhandlungen und kein Geld zurück, alles verstanden?«

Frank hatte verstanden, auch wenn er nur mit einem Ohr zugehört hatte, da er noch immer in den Anblick ihrer Hände vertieft war. Als er sie jetzt das mächtige Lenkrad drehen sah, fiel ihm wieder ein, weshalb er eigentlich in das Taxi gestiegen war.

»Ja klar, fahr Richtung Bloomsbury zur Universität, ich komme übrigens aus Hamburg. Aber das war noch nicht das Stichwort.«

Der Witz war ihm komplett misslungen. Doch als höfliche Engländerin sah seine Taxifahrerin glücklicherweise darüber hinweg.

»Und welches ist das Stichwort? Es ist sowieso besser, wenn es mehrere sind. Du bist bestimmt Student, du kennst das System: Je mehr Infos du mir gibst, desto besser und genauer sind die Auskünfte.«

»Ja, also ich dachte an …«, Frank versuchte, sich verzweifelt daran zu erinnern, was er mit Peter vor ein paar Minuten besprochen hatte. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er nicht mehr an die Landkarte gedacht.

Dann fiel ihm alles wieder ein. »Ich nehme Schiff, Atlantik und 1912.«

»Schiff, Atlantik und 1912, du meinst die Jahreszahl, ja?«, fragte seine Fahrerin, während sie das schwerfällige Taxi wendete, sodass sie auf der Marylebone Road in Richtung Bloomsbury hinunterfuhren.

»Stimmt, 1912, kannst du was damit anfangen?«

»Aber klar doch, geht sofort los.«

Wie eine Märchenerzählerin, die abwartete, bis all ihre Zuhörer ihr aufmerksam folgten, lenkte sie das Taxi zuerst in die linke Geradeausspur, verringerte dann die Geschwindigkeit und vergewisserte sich mit einem Blick in den Rückspiegel, dass Frank auch nicht aus dem Fenster sah und sich von den Sehenswürdigkeiten Londons ablenken ließ. Sie nahm den Kaugummi aus dem Mund, klebte ihn hinter die Sichtblende über der Windschutzscheibe und begann:

»Im Frühjahr des Jahres 1912 schifften sich 16 Spieler des Fußballvereins Club Atletico Boca Juniors in Buenos Aires auf dem Dampfer Hermosa ein, um eine Reise nach Europa zu unternehmen. In Europa sollten sie eine dreimonatige Rundtour durch Spanien, Frankreich und Deutschland machen, während der sie gegen die besten Fußballklubs Europas spielen würden. Es war die erste Überseereise eines Fußballvereins überhaupt, und nach einer dreiwöchigen Atlantiküberfahrt, auf der sie wegen Platzmangel nur wenig trainieren konnten, erreichten sie endlich Spanien. Obwohl sie die anstrengende Reise noch in den Knochen hatten, und die meisten von ihnen zudem noch seekrank waren, traten sie trotzdem gleich am nächsten Tag gegen das Team von Atletico Bilbao an und gewannen 3:1. In der folgenden Zeit spielten sie gegen zwanzig europäische Mannschaften, darunter die heute so berühmten Clubs wie Real Madrid, FC Barcelona und das Team von FC Bayern München, gegen das sie ihre beste Vorstellung gaben und 7:0 gewannen. Da sie sich bei der finanziellen Planung stark verkalkuliert hatten, war das Reisebudget leider schnell erschöpft, sodass sie zuletzt darauf angewiesen waren, von ihren Gastgebern Hotel- und Essenseinladungen anzunehmen. Doch die unerwarteten Ausgaben bereiteten den gastgebenden Vereinen keinerlei Probleme, weil Tausende von Menschen in die Stadien Europas strömten, um die argentinischen Ballzauberer zu bewundern. Als sie nach der langen Rückreise mit dem Schiff wieder in den Hafen von Buenos Aires einliefen, wurden sie von einer riesigen Menschenmenge jubelnd begrüßt. Die Menschen daheim hatten all ihre Auftritte in Europa an den Radios mitverfolgt, und die sechzehn Spieler wurden von den begeisterten Leuten auf den Händen durch die ganze Stadt bis in den Stadtteil La Boca getragen. Nach dem einzigen Fan, der die Mannschaft auf ihrer Reise begleitet hatte, heißt noch heute die Fankurve im Stadion der Boca Juniors Der zwölfte Mann.«

Sie machte eine Pause.

»So, das war’s, das war alles, was mir zu deinen Stichworten eingefallen ist, ich hoffe, dir hat die kleine Geschichte gefallen, und wir sind ja auch schon an deinem Ziel angelangt.«

Frank war verblüfft. Er hatte gebannt zugehört, musste sich aber eingestehen, dass ihn der Klang ihrer Stimme so fasziniert hatte, dass er der Erzählung selbst kaum gefolgt war. Abgesehen davon, hatte er ziemlich schnell gemerkt, dass er mit der Geschichte rein gar nichts anfangen konnte, da sie nichts mit dem Rätsel der Landkarte von Neuschottland zu tun hatte.

»Ja, danke, wirklich eine sehr interessante Geschichte, leider interessiere ich mich nicht so sehr für Fußball, ich spiele Basketball.«

»Das passt ja auch viel besser zu dir«, erwiderte sie liebenswürdig.

»Ah, was macht das?«, fragte er.

»Zehn Pfund für die Story und sieben für die Fahrt.«

Er gab ihr einen Zwanzig-Pfund-Schein.

»Und der Rest ist für den Schrecken, den ich dir heute Morgen eingejagt habe«, sagte er.

»Vielen Dank, endlich mal ein netter Grund für ein Trinkgeld.« Sie lächelte ihn an, als er ausstieg.

»Ich heiße Frank«, sagte er.

»Tracy«, sagte sie und lächelte dabei noch immer, »und wenn du wieder mal ein Taxi brauchst, meine Nummer ist 1 : 5.«

»Fünfzehn?«, fragte er.

»Nein, 1 : 5, sag die Nummern der Zentrale, und frag nach Tracy. Die wissen dann Bescheid.« Frank schlug die Wagentür zu, und das alte Londoner Taxi fuhr davon.

Er schulterte seinen Rucksack und stieg die Treppen zum fünften Stock des Gebäudes des Physikalischen Instituts hinauf.

»Boca Juniors, Buenos Aires«, murmelte er kopfschüttelnd. Wenn irgendwas garantiert nichts mit der alten Seekarte zu tun hatte, dann war es die Geschichte, die er soeben gehört hatte.