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Das Klingeln an der Wohnungstür überraschte Frank. Katja konnte es nicht sein, mit ihr hatte er sich erst für später am Abend verabredet.

Er ließ die Arbeitspapiere für seine Diplomarbeit auf dem Fußboden liegen und öffnete arglos die Tür. Seine Hand lag noch auf der Klinke, als sich schon ein schwarzer Lederhandschuh um sein Handgelenk schloss. Bevor er reagieren konnte, wurde ihm der Arm auf den Rücken gedreht, und ihm entfuhr ein Schmerzensschrei, als sein Körper herumgewirbelt wurde. Sein Oberkörper knickte nach vorn, während ein kalter, harter Gegenstand gegen seine Stirn drückte.

»Keinen Ton«, zischte der Eindringling auf Englisch, während Frank hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Frank ebenfalls auf Englisch und drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite. Er wollte seinen Gegner sehen. Doch der Druck auf seinen Arm erhöhte sich nur.

»Erst mal die Klappe halten.«

Der Unbekannte, der sein Gesicht hinter einer schwarzen Motorrad-Stoffmaske verbarg, war mindestens genauso groß wie Frank, was bemerkenswert war. Immerhin spielte Frank im Basketball-Auswahlteam der Hamburger Universität.

Als der Druck auf seinen verrenkten Arm nicht nachließ, dachte er daran, sich zu wehren, ließ es dann aber sein. Er hatte Respekt vor dem unbekannten kalten Gegenstand, den ihm der Fremde gegen die Stirn presste.

»Da rüber«, kommandierte der Maskenmann und zerrte Frank durch den kleinen Flur in sein Arbeitszimmer. Er bewegte Franks verdrehten Arm nur leicht nach oben und dirigierte ihn damit in jede gewünschte Richtung. Frank gehorchte mit zusammengepressten Zähnen.

Er stolperte vorwärts und fiel fast über seinen Staubsauger und die auf dem Boden verstreuten Bücherstapel, bevor er sich plötzlich kniend auf dem Wohnzimmerboden vor dem Heizkörper wiederfand.

»So, jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten«, sagte der Fremde. Mit einer Hand sicherte er weiterhin Franks Arm auf dem Rücken, doch Frank spürte, wie der Druck gegen seine Stirn nachließ.

Auch jetzt blieb ihm keine Zeit, an Gegenwehr zu denken, denn als der Eindringling ihn schließlich freigab, hatte er ihn, ohne dass Frank seine hockende Haltung auf dem Boden aufgeben konnte, mit Handschellen an den Heizkörper gekettet.

»Was soll das?«, beschwerte sich Frank lautstark, als er endlich genug Luft bekam, um seine Wut und Überraschung zu äußern. »Was habt ihr euch denn jetzt ausgedacht? Ihr bekommt euer Geld schon zurück!«

»Dein Geld interessiert mich nicht«, sagte der Unbekannte und machte es sich in Franks Ledersessel bequem. Er legte den kalten harten Gegenstand zur Seite, den Frank an seiner Stirn gespürt hatte. Frank erschrak nicht einmal mehr darüber, dass es tatsächlich eine Pistole war. Dank der Handschellen benötigte sein Peiniger die Waffe nicht mehr. Er legte sie auf die rechte Sessellehne, zog seine Lederhandschuhe aus und faltete sie sorgsam übereinander, um sie dann auf der linken Sessellehne abzulegen. Was Frank sah, gefiel ihm nicht. Die Geste machte den Eindruck, als richte der Eindringling sich auf einen längeren Aufenthalt in seiner Wohnung ein. Versuchsweise ließ er die Handschelle an der Rippe des Heizkörpers rauf- und runterlaufen. Für Frank klang es wie die Blechdosen an den Stoßstangen eines Hochzeitskonvois, doch den groß gewachsenen Mann, dessen Oberkörper den Ledersessel komplett ausfüllte, schien das nicht zu interessieren. Er wartete ab, bis Frank damit aufhörte. Dann stellte er sich vor.

»Mein Name ist Einstein«, sagte er, noch immer die Motorradmaske tragend, sodass Frank aus seinen Gesichtszügen nicht ablesen konnte, ob das ernst gemeint war.

»Sehr witzig«, entgegnete Frank trotzig. Wut und Überraschung wichen einer beträchtlichen Unsicherheit. Er konnte den Fremden weder als Schuldeneintreiber noch als Teil eines schlechten Halloweenscherzes einordnen.

Wenigstens wollte er seinem ungebetenen Besucher keine Schwäche zeigen. Er gab seine kniende Haltung auf, soweit die Handschellen das zuließen, setzte sich auf den Boden und versuchte, möglichst lässig zu wirken, als er sich gegen die harten Rippen des Heizkörpers lehnte und dem Mann, der sich Einstein genannt hatte, das Gesicht zuwandte.

»Ich glaube, Einstein war viel kleiner als du«, setzte er noch einen drauf, »kannst du dich ausweisen?«

»Oh, Verzeihung«, entschuldigte sich der Unbekannte übertrieben und rollte den Rand seiner Motorradmaske so weit nach oben, dass sie zwar immer noch sein Gesicht bedeckte, die Innenseite aber nun nach außen zeigte.

In leuchtend roten Kursivbuchstaben erschien darauf deutlich lesbar eine weltberühmte physikalische Formel: e = mc2.

»Das glaube ich nicht, was soll diese miese Show?«, rief Frank und zerrte verärgert an den Handschellen. Auf die Art konnte er immerhin ausprobieren, wie viel Bewegungsspielraum ihm verblieben war und wie fest seine Heizung in der Wand verankert war.

»Das reicht jetzt«, herrschte ihn der Mann barsch an.

»Hör auf, an der Heizung zu reißen. Halt still und beantworte meine Fragen. Je schneller du mir sagst, was ich wissen will, desto schneller sind wir hier fertig, und ich kann dich losmachen. Dir wird es sowieso nicht gelingen, die Heizung aus der Wand zu reißen.«

»Was für Fragen?«

Frank lehnte sich wieder zurück und zog seine langen Beine an sich.

»Ich suche eine Landkarte, ziemlich alt, eine Karte von Neuschottland, von Kanada und dem nordwestlichen Teil des Atlantiks. Du bist Geografîe-Student, du weißt, wovon ich rede. Du benutzt die Karte doch für deine Diplomarbeit. Sie gehört mir. Ich will sie zurückhaben«, erklärte Einstein.

Er beugte seinen breiten Oberkörper nach vorne und griff wieder nach der Pistole. Durch den Sehschlitz der Maske konnte Frank jetzt die dunkle Iris seiner Augen erkennen.

Die Pistole zielte auf sein linkes Knie.

»Geht es nicht wenigstens ein bisschen genauer?«, wollte Frank wissen. »Mit so einer schwammigen Beschreibung kann ich dir Hunderte von Karten ausdrucken lassen. Und in der Universität gibt es Tausende über den Atlantik«, fügte er hinzu.

»Ich rede nicht von irgendwelchen modernen Computerkarten. Es geht um eine alte Seekarte, etwa einen halben Meter breit und dreißig Zentimeter hoch. Du kennst sie, sie gehört zu der Sammlung, die du für deine Diplomarbeit benutzt. Stell dich also nicht dümmer an, als du bist, wo ist die Karte?«

Einstein bewegte seine Hand leicht nach rechts, sodass der Pistolenlauf jetzt auf Franks Bauchgegend zeigte. Instinktiv zog Frank seine Knie an seinen Körper.

»Für meine Arbeit habe ich jede Menge Karten zusammengesucht«, sagte er ausweichend, »ich schreibe über die klimatischen Auswirkungen, die beim Ausbleiben des Golfstroms für das Festland in Nordamerika und in Europa …«

»Verschone mich bloß mit deinem Wissenschaftsgequatsche. Ich will nur diese eine Karte, und wenn dir nicht ziemlich bald einfällt, wo sie ist, dann sorge ich dafür, dass deine Diplomarbeit ein anderer zu Ende schreiben muss.«

Einstein legte die Pistole wieder auf die Sessellehne und zog ein weiteres Paar Handschellen aus seiner Tasche. Er stand auf und ging auf Frank zu. Erneut packte er seinen Arm und riss ihn mit einem kräftigen Ruck nach oben. Frank schrie auf vor Schmerz und warf Kopf und Oberkörper nach vorne, sodass sein Gesicht jetzt knapp über dem Fußboden schwebte.

Wenn Einstein seinen Arm noch weiter im Schultergelenk nach oben drehte, würde er Franks Kopf unweigerlich immer weiter gegen den Boden pressen, bis die Halswirbel dem Druck nachgeben und brechen würden.

»Hör auf, ich sag dir ja, wo sie ist. Die Karte ist bei meinem Professor. Keine Ahnung, wo der sie aufbewahrt. Ich habe die Karte nicht.«

Frank spürte erleichtert, wie der Druck etwas nachließ.

»Bei deinem Professor? Bei Pfleiderer? Das kann nicht stimmen, seine Sekretärin hat mir gesagt, er hat sie dir gegeben, für deine Arbeit. Ich warne dich, versuch nicht, mich zu belügen. Noch einmal: Wo ist die Karte?«

Wieder presste Einstein Franks Gesicht mit voller Kraft auf den Fußboden. Panik überkam Frank.

»Ich habe die Karte nicht, ich habe sie ihm zurückgegeben. Wirklich. Ich konnte sie für meine Arbeit nicht brauchen, seine Sekretärin weiß das nicht, lass mich los!«, presste Frank verzweifelt hervor.

Unter dem Druck von Einsteins Griff hatte er Mühe, sich zu artikulieren. Er bekam es jetzt ernsthaft mit der Angst zu tun. Wenn er diesem durchgedrehten Spinner nicht klarmachen konnte, dass er die Karte nicht hatte, würde der ihn glatt umbringen.

Einstein lockerte den Griff und zog Franks Kopf an den langen, blonden Haaren nach oben. Eine kleine Ewigkeit blickte Frank aus kürzester Entfernung in die dunkelbraunen Augen, die ihn anstarrten, ohne dass sich die Augenlider auch nur ein einziges Mal schlossen.

»O. K.«, sagte Einstein endlich, »heute ist dein Glückstag. Wenn du lügst, komme ich wieder. Ich finde dich, das weißt du.«

Einstein nahm das zweite Paar Handschellen, griff nach Franks linkem Arm, legte die eine Schelle um sein Handgelenk und schloss ihn dann mit der anderen ebenfalls an die Heizung an.

»Ich lüge nicht, durchsuch doch meine Wohnung, du wirst hier nichts finden. Die Karte, die du suchst, ist bei Professor Pfleiderer«, sagte Frank.

Einstein blickte im Zimmer umher, sah die überall verstreuten Papiere, Zeitschriften und Bücher. Auf dem Fußboden, in den Regalen, auf Franks Schreibtisch, auf dem Fensterbrett, alles war mit Papierstapeln übersät.

»Ich glaube kaum, dass ich das tun werde. Wenn ich die Karte bei Pfleiderer nicht finde, komme ich zurück. Wie versprochen. Und dann wirst du sie mir geben, denn sonst werde ich dir richtig wehtun.«

Einstein griff nach seinen Lederhandschuhen und richtete sich auf. Die Handschellen, mit denen er an die Heizung gekettet war, zwangen Frank, auf dem Fußboden kauernd, zu Einstein aufzusehen. In voller Körpergröße aufgerichtet stand Einstein über ihm und ließ ihm einige Sekunden lang Zeit, um seine Worte wirken zu lassen. Er war ein riesiger, schwarzer Koloss. Selbst wenn er Frank erlaubt hätte aufzustehen, hätte er ihn noch um einen halben Kopf überragt, er musste größer als zwei Meter sein. Abrupt wandte sich Einstein ab.

Als Frank sah, dass er gehen wollte, unternahm er einen letzten, verzweifelten Versuch.

»Wenn ich es doch sage, die Karte ist hier nicht, du kannst mich genauso gut losmachen, ich werd ganz bestimmt nicht hinter dir herlaufen«, rief er ihm nach.

Einstein, der bereits die Wohnungstür erreicht hatte, drehte sich um, kam wieder zurück und stellte sich vor Frank auf.

»Es ist besser, wenn du mich nicht so schnell vergisst«, sagte er und näherte sich seinem Gesicht. Frank kam es vor, als habe Einstein hinter seiner Maske ein spöttisches Krächzen von sich gegeben.

Dann wandte er sich ab, machte zwei Schritte zum anderen Ende des Heizkörpers hin und drehte den Thermostat bis zum Anschlag auf.

»He, bist du bescheuert? Hast du eine Ahnung, wie heiß das hier in der engen Wohnung wird?«, protestierte Frank.

Aber Einstein stand schon wieder in der Tür. Er drehte sich nicht mehr um, sondern hob nur noch die rechte Hand und schwenkte zum Abschied die Pistole, bevor er so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war.