2

Michael Zylinski hockte in seinem Wohngemeinschaftszimmer im dritten Stockwerk eines Hauses in Hamburg-St.Pauli auf dem Fußboden vor seinem alten Compaq-Notebook. Er korrigierte den Text einer Hausarbeit in Meeresgeografie, die er in zwei Tagen abgeben sollte. Der Arbeit galt jedoch nur ein kleiner Teil seiner Aufmerksamkeit. Mit einem Ohr kontrollierte er die summenden Geräusche der achtzig Gigabyte Festplatte seines PC-Towers, auf der gerade die neueste Version des Computerspiels Rolling Tetris aus dem Internet heruntergeladen und abgelegt wurde, mit dem anderen Ohr verfolgte er die Spätausgabe der Tagesthemen, während er mit der Nase den aktuellen Zustand seiner Fertigpizza überprüfte, die er in der Küche in den Backofen geschoben hatte.

Zwischen dem leisen, kratzenden Geräusch der Festplatte und der monotonen Fernsehstimme erklang plötzlich die Erkennungsmelodie einer englischen Fernsehserie aus den sechziger Jahren.

Michael drückte sofort auf die Empfangstaste seines Handys.

»Hallo Michael, hier ist Katja, ist Frank bei dir?«, hörte er die Stimme der Frau sagen, die er schon seit Beginn seines Studiums an der Universität Hamburg verehrte. Selbstverständlich ohne es in den letzten drei Jahren jemandem verraten zu haben.

»Nein, aber warte einen Moment«, antwortete Michael und tastete mit einer Hand nach der Fernbedienung des Fernsehers. Dabei stieß er gegen den Bildschirm des Notebooks, das sofort zuklappte und die letzten beiden Seiten seiner Hausarbeit im Nirwana verschwinden ließ. Noch bevor er den Fernseher abstellen konnte, kollidierte sein rechter großer Zeh mit dem Tischbein seines Schreibtisches, wodurch die Festplatte augenblicklich zu surren aufhörte. Michael biss sich auf die Unterlippe und fluchte leise. »Mist!« Er hielt die Fernbedienung weiter in der einen und das Handy in der anderen Hand und hüpfte auf einem Bein in die Küche, um wenigstens dort das Schlimmste zu verhindern.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«, hörte er Katja aus dem Hörer fragen.

»Ja, alles bestens«, sagte Michael, während er die Fernbedienung ins Spülbecken warf und den Schalter des Backofens ausdrehte.

Katja Albers war eine dieser strahlend schönen Frauen mit blonden Haaren und hellblauen Augen, von denen es in jedem Semester nur wenige gab. Michael fand, dass man nicht so genau einschätzen konnte, ob diese Traumfrauen tatsächlich so gut aussahen, oder ob sich in ihren strahlenden blauen Augen nur die grenzenlose Bewunderung widerspiegelte, die ihnen durch die versammelte männliche Zuhörerschaft in den ersten Vorlesungen zuteil wurde.

Katja Albers wurde schon bald in Begleitung eines Mitglieds der groß gewachsenen männlichen Sportfraktion gesehen, die zumeist ebenso blond war wie deren weibliche Eroberungen. Bei Katjas Eroberer handelte es sich im Übrigen um Michaels besten Freund, Frank Schönbeck.

Seinem Aussehen nach gehörte Michael Zylinski nicht zu den auffallend attraktiven Studenten, ohne dass er das sonderlich bedauert hätte. Er zählte eher zu den vielen normalen und unauffälligen Studenten, schlank, aber weder durchtrainiert noch muskulös. Er trug eine Brille, die nicht sehr modisch war, aber auch keine extra dicken Brillengläser hatte. Er ließ sich keinen Bart stehen, ging aber auch nicht alle drei Wochen zum Friseur, um sich die lockigen, braunen Haare nachschneiden zu lassen. Seine Professoren konnten sich nicht unbedingt sofort an sein Gesicht in der dritten Sitzreihe des Hörsaals und den dazugehörigen Namen erinnern.

Die Unauffälligkeit hatte jedoch den unwiderlegbar großen Vorteil, fand Michael, dass man notfalls bei der nächsten Vorlesung immer behaupten konnte, man sei auch bei der letzten zugegen gewesen, selbst wenn das nicht unbedingt stimmen musste.

»Ich dachte, ihr wolltet heute Abend ins Kino?«, fragte Michael und rieb sich den immer noch schmerzenden großen Zeh.

»Ja, wollten wir. Wir wollten uns auch um halb acht treffen, aber jetzt rate mal, wer nicht da war? Dein großer Kumpel Frank Schönbeck.« Katja klang hörbar genervt.

»Ich habe bis halb neun blöd in der Gegend herumgestanden, und als er dann noch nicht da war, bin ich nach Hause gefahren. Ich habe ihn gerade zum sechsten Mal angerufen, aber er geht nicht ran. Weder zu Hause noch ans Handy.«

Halb neun, und jetzt war es Viertel nach elf, rechnete Michael schnell nach. Kein Wunder, dass Katja sauer war, wenn Frank sie versetzt und sich seit fast drei Stunden nicht gemeldet hatte.

»Er ist bestimmt zu Hause und arbeitet an seiner Diplomarbeit. Ich hol dich ab, und wir fahren hin«, schlug Michael vor.

»Wahrscheinlich hockt er über seinen Tiefseekarten und hat alles andere vergessen«, sagte Michael, bevor ihm klar wurde, dass das für Katja, die eine Stunde lang vergeblich auf Frank gewartet hatte, keine besonders aufmunternde Bemerkung gewesen sein konnte.

Aber Katja war nicht auf Streit aus. »Also gut, aber bring deinen Schlüssel für seine Wohnung mit, ich habe ihm meinen letzte Woche zurückgegeben«, sagte sie.

Bevor Michael etwas sagen konnte, hatte Katja schon aufgelegt. Die letzte Bemerkung bezog sich ganz offenbar auf eine Veränderung in der Beziehung von Katja und seinem besten Freund, die er nicht mitbekommen hatte.

Das verwunderte Michael allerdings nicht besonders. Schließlich waren Frank und Katja schon drei Monate lang ein Paar gewesen, bevor er es überhaupt gemerkt hatte. Er hatte zu dieser Zeit noch halbherzig überlegt, selbst den Versuch zu wagen, Katja anzusprechen. Als die beiden ihn dann aber vor etwa einem Jahr zusammen zu einer Party abgeholt hatten, war er doch froh darüber gewesen, dass sich die Dinge mal wieder von selbst geregelt hatten. Zumeist war es ihm nur recht, wenn alles seinen geregelten Lauf nahm und man ihm ersparte, daran mitzuwirken. So hatte er auch nichts gegen die Beziehung zwischen Katja und seinem Freund Frank einzuwenden gehabt. Er stellte nur im Verlauf der Zeit überrascht fest, dass Katja Albers nicht nur strahlend schön, sondern zudem noch überaus sympathisch war.

Daher war er auch heute Abend sofort bereit, alles stehen und liegen zu lassen, um Katja abzuholen und herauszufinden, warum Frank nicht zu ihrer Verabredung erschienen war.

Der Weg von Michaels zu Katjas Wohnung dauerte zu Fuß nur fünf Minuten. Sie wohnte in einer kleinen Seiten-Straße, mitten in St. Pauli. Doch Michael benötigte fast eine Viertelstunde, um seinen Peugeot 205 aus der engen Parklücke zu rangieren, ihn durch die schlecht beleuchteten regennassen Straßen zu manövrieren und anschließend durch das komplizierte System der verzweigten Einbahnstraßen zu schlängeln.

Katja stand bereits vor ihrer Haustür und wartete, sodass Michael froh war, wenigstens nicht nach einem freien Parkplatz suchen zu müssen. Sie stieg ein, und als sie sich neben ihn auf den Beifahrersitz setzte, nahm sie die Wollmütze ab und band ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Michael starrte sie von der Seite an und ließ den Motor laufen. Hinter ihnen hupte jemand ungeduldig.

»Was ist? Fahren wir?«, Katja blickte fragend zu ihm herüber. Michael trat entschlossen auf das Gaspedal und konzentrierte sich nur noch darauf, sich in den Verkehr der Hauptstraße einzuordnen.

»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wieso Frank unsere Verabredung vergessen hat. Es war schließlich sein Vorschlag, heute Abend auszugehen.«

Michael unternahm nur einige wenig erfolgreiche Versuche, Katja zu beruhigen, als sie durch den diesigen Novemberabend an der Außenalster entlang in Richtung Winterhude fuhren. Er machte sich keine besonderen Gedanken darüber, warum Frank die Verabredung verpasst hatte. Er war zwar nicht unzuverlässig, aber im Stress einer Diplomarbeit konnte man schließlich schon mal einen Termin verschwitzen. Eine Verabredung mit Katja war andererseits nicht irgendein Termin, und Michael war überzeugt, dass ihm das mit einer Frau wie Katja auf keinen Fall passiert wäre. Je länger er darüber nachdachte, desto eher kam Michael zu dem Schluss, dass es für Franks Verhalten eine andere Erklärung geben musste.

»Siehst du, in seiner Wohnung brennt Licht. Frank ist zu Hause und beschäftigt sich brav mit seinen Klimaschwankungen«, sagte er zu Katja, als er den Peugeot einparkte. Frank Schönbeck lebte seit einem Jahr in einer 50-Quadratmeter-Wohnung in einer kleinen Nebenstraße unweit des Stadtparkes. Vorher hatte er mit Michael zusammen in der Studenten-WG in St. Pauli gewohnt. Michael war noch immer dort und hatte nicht verstanden, wieso Frank sich plötzlich nicht mehr wohlgefühlt hatte.

Katja sagte wieder nichts zu der erneuten unbedachten Äußerung von Michael, mit der er andeutete, dass Frank lieber allein vor dem Computer saß, als mit ihr einen schönen Abend zu verbringen. Sie stiegen aus, und Katja drückte lange und energisch auf den Klingelknopf. Nichts rührte sich.

»Versuch es noch einmal«, sagte Michael.

»Ach, Unsinn, entweder ist er ausgegangen und hat das Licht brennen lassen, oder er will nicht gestört werden. Du kannst jetzt entscheiden, ob wir umsonst durch halb Hamburg gefahren sind, oder ob du Franks Schlüssel benutzen willst. Hast du ihn überhaupt mitgebracht, oder liegt er noch vergraben in deinem ganzen Computerkram?«

»Nein, nein, den habe ich dabei«, sagte Michael eilig und schloss die Haustür auf. Er wollte Katja nicht verärgern, hatte er doch immerhin durch Franks Vergesslichkeit die seltene Gelegenheit erhalten, mit ihr eine nächtliche Spazierfahrt durch Hamburg zu machen.

Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf, und als Frank auf erneutes Klingeln und Klopfen nicht öffnete, schloss Michael mit dem mitgebrachten Schlüssel die Wohnungstür auf.

Ein Schwall heißer und stickiger Luft strömte ihnen entgegen.

»Was ist denn hier los?«, fragte Michael, als er Franks Stimme aus dem Wohnzimmer rufen hörte.

»Endlich, kommt rein und macht mich los, ich krieg kaum noch Luft.«

Katja war schneller als Michael im Wohnzimmer und erblickte zuerst den gekrümmt vor der Heizung kauernden und mit offenem Mund nach Luft japsenden Frank.

»Mein Gott, was ist denn hier passiert?«

Mit zwei schnellen Schritten war sie bei ihrem Freund, kniete sich hin und strich ihm die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Erst dann bemerkte sie die Handschellen.

»Was ist denn das? Wo sind die Schlüssel? Wir müssen dich losmachen.«

Michael öffnete ein Fenster und riss es auf. Frische, kalte Herbstluft strömte in den völlig überhitzten Raum. Dann drehte Michael den Thermostat bis zum Anschlag zu.

»Ich hab keinen Schlüssel, den hat der Typ mitgenommen«, keuchte Frank, während er gierig die kalte Luft einsog.

»Welcher Typ? Was ist passiert?«, fragte Michael.

»Gleich, macht erst mal diese blöden Dinger los.«

Frank zerrte an den Handschellen. Nun bemerkte auch Katja die abgeschürfte Haut und die wund gescheuerten Striemen an Franks Handgelenken. Aus der Wand hinter der Heizung waren einzelne Brocken vom Mauerputz auf den Teppichboden herabgerieselt.

»Nicht weitermachen, Frank, du hast ja schon die halbe Heizung aus der Wand gerissen. Ich rufe die Feuerwehr, die müssen irgendetwas mitbringen, um dich von den Handschellen loszumachen.«

»Nein, nicht. Lass das, nicht die Feuerwehr«, sagte Frank abwehrend, »Micha, geh in den Keller, da ist irgendwo eine Flex, mit der kannst du die Handschellen vielleicht durchtrennen, das kriegen wir selber hin.«

Michael rannte sofort los, während Katja aus dem Badezimmer ein Handtuch holte und Frank das schweißnasse Gesicht abtrocknete. Mit einer Papierschere zerschnitt sie sein T-Shirt und rieb ihm den Oberkörper ab, der über und über mit Schweiß bedeckt war.

Endlich kam Michael aus dem Keller zurück und balancierte mit der rechten Hand triumphierend einen riesigen Winkelschleifer auf seiner Schulter.

»Na, dann wollen wir mal die Nachbarn wecken.«

Nur wenige Kilometer von Franks Wohnung entfernt lag der Mann, der sich Einstein nannte, im fünften Stock eines an der Binnenalster gelegenen Hotels der gehobenen Kategorie auf seinem Bett und ließ seine Beine über die vordere Bettkante baumeln. Er hielt die Fernbedienung in der rechten Hand und zappte sich auf der Suche nach einer Eishockey-Übertragung durch die unzähligen Programme des Satellitenfernsehens. Das Zimmertelefon klingelte, und Einstein nahm den Hörer ab.

»Ja, bitte?«, meldete er sich.

»Ein Gespräch für Sie aus Kanada«, kündigte der Mann von der Hotelrezeption höflich an.

»Danke.« Einstein wartete, bis er sicher war, dass der Rezeptionist aufgelegt hatte.

»Mr. Van?«, fragte er.

Eine leise Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung:

»Hast du die Karte?«

»Nein«, sagte Einstein, »der Student hat sie nicht, ich habe ihn heute besucht. Wenn er sie gehabt hätte, hätte er sie mir gegeben, soviel ist sicher.«

»Wer hat sie dann?«, fragte die Stimme.

»Unser alter Freund, Professor Dr. Anton Pfleiderer, so nennt er sich hier jedenfalls.«

»Ein guter alter deutscher Name«, sagte der Anrufer anerkennend.

»Österreichisch«, korrigierte Einstein, als sei der Unterschied wichtig. »Pfleiderer ist aber nicht in der Stadt, er wird erst morgen an der Universität Hamburg zu seinen Vorlesungen zurückerwartet. Ich werde dafür sorgen, dass er mir begegnet.«

Einstein lauschte Sekunden ins Leere. Endlich meldete sich der Mann aus Kanada wieder.

»Einstein?«

»Ja, Mr. Van?«

»Du weißt, wie viel diese Karte unseren Familien bedeutet. Nach der langen Zeit ist sie mit Geld nicht mehr zu bezahlen. Ich will damit nur sagen, mach nicht noch einmal einen Fehler.«

»Nein, Mr. Van«, versicherte Einstein. Doch der Anrufer hatte schon aufgelegt, ohne seine Antwort abzuwarten.