31
Der Beginn des Tages gestaltete sich einfacher, als sie es sich vorgestellt hatten. Passend zum morgendlichen Sonnenschein, der sie geweckt hatte, telefonierte Frank zuerst mit einer freundlichen Angestellten, die ihn ohne großes Nachfragen oder Warteschlangen-Musik zu Direktor Dr. Dufner durchstellte.
»Franz Felgendreher wollen Sie besuchen? Ja, der ist schon lange hier, ein freundlicher Patient. Aber Sie sind jetzt schon der Zweite innerhalb einer Woche, der von außerhalb kommt … Sie sind auch aus Hamburg? Na ja, bei einer so weiten Anreise können Sie selbstverständlich so bald wie möglich mit ihm sprechen. Aber melden Sie sich doch bitte vorher bei mir an, damit ich mehr über den Anlass erfahren kann. Und vorbereiten muss ich Sie natürlich auch noch auf den guten Franz. Nein, ganz so einfach dürfte es nicht werden … Aber kommen Sie doch gleich vorbei, damit wir das persönlich besprechen können … Nein, es ist nicht weit von der Altstadt, natürlich können Sie zu Fuß gehen. Machen Sie einen schönen Morgenspaziergang, ich erwarte Sie, bis gleich.«
Der Vorschlag entsprach genau dem, wonach Professor McCully der Sinn stand. Ein Morgenspaziergang durch die Berner Altstadt. Sie machten einen kleinen Abstecher zum berühmten Berner Münster und schauten beim Rathaus vorbei. Im Vorbeigehen besahen sie sich die wichtigsten touristischen Attraktionen und gelangten an der Spitze der Halbinsel, auf der die Altstadt lag, zur Untertorbrücke, eine der beiden Brücken, die über die Aare führten. Der Fluss wand sich unterhalb der Brücken in einem engen Halbkreis um die Altstadt herum und schien sie wie ein mittelalterlicher Festungsgraben zu beschützen. Am anderen Ufer des Flusses bogen die drei nach links ab und gelangten bald zum Krankenhausgelände des Johanniter-Spitals. Den Hinweisschildern auf dem Gelände entnahmen sie, dass die Psychiatrische Abteilung in einem der vielen einzeln stehenden Gebäude untergebracht war. Gleich hundert Meter rechts, am Ende der frisch geteerten Straße, erblickten sie den Eingang, der an einem überdimensionalen Steinbogen leicht zu erkennen war. Das Portal war das einzig aus dem Rahmen fallende architektonische Element des ansonsten unauffälligen Hauses. Zweistöckig, weder eingezäunt noch mit vergitterten Fenstern versehen, stand es inmitten eines parkähnlichen Bereichs, umsäumt von einzelnen Bäumen und zahlreichen Sitzbänken, an denen es als Krankenhausgebäude dann doch wieder zu erkennen war.
Nachdem sie das Portal durchschritten hatten, führte sie eine Krankenschwester aus dem Empfangsbereich zum Leiter der Psychiatrischen Abteilung, Herrn Dr. Friedrich Dufner, der nicht weit davon entfernt, zwei oder drei Zimmer den Gang hinauf, sein Büro hatte. Wie schon das Telefongespräch gestaltete sich auch die Begrüßung überraschenderweise wenig förmlich, hatte Frank doch, vorurteilsbehaftet, den Schweizern eine beträchtliche Portion Umständlichkeit zugeschrieben. Dass sie zu dritt kommen würden, hatte er dem Direktor bereits angekündigt, und als alle in seinem Büro Platz genommen hatten, wiederholte er seinen Wunsch, Franz Felgendreher zu einer alten Seekarte befragen zu dürfen.
»Sehen Sie, es handelt sich um diese Karte hier«, erklärte er Dr. Dufner und entrollte die Karte. Dr. Dufner warf nur einen kurzen Blick darauf, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse, wie es Frank schien, sodass er die Karte schnell wieder in der Pappröhre verstaute und dann an Peter zurückreichte.
»Mein Freund hier«, er deutete auf Peter, »und ich arbeiten beide an einer ähnlichen Diplomarbeit, bei der es um Meeresströmungen im Nordatlantik geht, nur dass Peter in London studiert und ich in Hamburg. Professor Kenneth McCully …«, McCully nickte Herrn Dr. Dufner freundlich zu, »… betreut die Abschlussarbeit von Peter und ist noch wegen einiger anderer geophysikalischer Forschungen in der Schweiz unterwegs. Er hat die Gelegenheit genutzt, uns zu begleiten. Die Karte steht im Mittelpunkt unserer Arbeiten, auch wenn sie für Außenstehende vielleicht nicht danach aussieht. Mein Hamburger Professor, Professor Pfleiderer, war ja schon letzte Woche bei Franz Felgendreher. Er sagte, dass Herr Felgendreher der ursprüngliche Besitzer der Karte sei, und riet mir, mit ihm zu sprechen.«
Den Mord an Professor Pfleiderer erwähnte Frank lieber nicht, in der Hoffnung, dass Dr. Dufner davon noch nichts gehört hatte. Gespannt wartete er jetzt auf dessen Antwort.
»Es freut mich sehr, Sie im Johanniter-Spital begrüßen zu dürfen, meine Herren, seien Sie alle drei herzlich willkommen. Als Sie heute Morgen angerufen haben, hatte ich zunächst große Bedenken, dass eine so große Anzahl von Besuchern Franz vielleicht überfordern könnte, aber ich glaube nun, ich kann Sie alle drei zu ihm lassen. Er ist mittlerweile auch schon über siebzig und hat in seinem Leben schon alles gesehen. Und die ärgsten Ängste hat er ja sowieso längst hinter sich.« Als er die fragenden Blicke seiner Besucher sah, fügte er hinzu. »Ja, dann muss ich Ihnen wohl ein paar vorbereitende Worte sagen. Zunächst einmal wünsche ich Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer Forschungen und Ihrer Diplomarbeiten.« Er zögerte einen kurzen Moment, weil ihm etwas einzufallen schien. »Nein, ich glaube, extra eine schriftliche Genehmigung für eine Befragung einzuholen, muss ich von Ihnen nicht verlangen, das wäre wohl nur der Fall, wenn Sie Franz zu medizinischen Forschungszwecken besuchen wollen würden. Ha, welch ein Gedanke!« Er lachte kurz auf.
»Nein, dafür ist Franz gänzlich ungeeignet. Aber um zum Wesentlichen zu kommen. Ich darf Ihnen selbstverständlich nichts über seine Krankheit erzählen, denn es gibt ja auch in der Schweiz eine ärztliche Schweigepflicht«; als er sah, dass Frank ihn unterbrechen wollte, winkte er mit einem kurzen Lächeln ab und sprach weiter, »aber wenn jemand solche Symptome hat wie Franz Felgendreher, ich sage ausdrücklich wenn, nicht dass er sie hat, wenn Sie verstehen, was ich meine, dann sprechen wir in der Psychiatrie von einer endogenen Psychose in Form eines schizophrenen Krankheitsbildes. Wahrscheinlich wissen Sie im Groben, was das ist, aber ich möchte es noch ein wenig erläutern. Schließlich müssen Sie ja vorbereitet sein. Eine klassische Schizophrenie äußert sich in den verschiedensten Formen von Phobien, in zwanghaften Handlungen oder wie bei unserem guten Franz …«
Bei diesen Worten schien es Frank, als hätte er ihm verschwörerisch zugezwinkert. Er hatte allen Ernstes ›bei unserem guten Franz‹ gesagt. Aber Dr. Dufner kam jetzt erst richtig in Fahrt. »… bei unserem guten Franz äußert sich die Schizophrenie vor allem in zwanghaften Ideen und Wahnvorstellungen. Anders als bei vielen anderen Patienten, die unter der gleichen Krankheit leiden, wird er nicht aggressiv. Franz ist mehr der ruhige, der ängstlich verstimmte Typ, ansonsten sieht man bei ihm alle Spielarten, tief greifende Beeinträchtigungen beim Denken, Wahnvorstellungen und so weiter, um es auf den Punkt zu bringen: Er redet wirres Zeug, und manchmal hört er Stimmen. Der Matto hat ihn, sagte man hier früher, aber der herrscht schon lange nicht mehr. Wie alle seine Mitpatienten ist auch Franz sehr ruhig, hier herrschen jetzt Neuroleptika und Psychopharmaka, nicht der Matto. Aber nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Selbstverständlich arbeiten wir hier mit einer umfassenden, auf die Wiederherstellung der Gesundheit gerichteten, begleitenden Therapie, nachmittags Spaziergang im Park, zahlreiches gut ausgebildetes Pflegepersonal, eine vierundzwanzigstündige Rundumversorgung, na, Sie wissen schon.«
Die letzten Sätze hatte Dr. Dufner gesprochen, als hätte er sie auswendig gelernt oder aus der Krankenhausbroschüre abgelesen, dachte Frank.
»Ich glaube, das reicht als kleine Einführung. Oder haben Sie noch Fragen? Sonst werde ich Sie jetzt einfach zu ihm bringen.« Er stand auf und nahm einen Schlüsselbund aus seiner Schreibtischschublade.
Doch Frank hielt ihn auf: »Er hört Stimmen? Was für Stimmen?«
Dr. Dufner hatte nicht mit einer Frage gerechnet, so sehr war er mit seinem routinierten Vortrag beschäftigt gewesen, und schien jetzt aus dem Konzept gebracht.
»Stimmen? Ja, natürlich, Franz hört Stimmen«, er zögerte einen Moment, als versuche er, sich an mehr Details zu erinnern.
»Richtig, ja, Franz hört seinen Vater sprechen. Ich hatte es schon vergessen, ist schon fast selbstverständlich für uns. Sein Vater war übrigens auch hier. Er war sogar mal für kurze Zeit eine lokale Berühmtheit, der Georg Felgendreher, hat mit dem berühmten Albert Einstein zusammengearbeitet, haben Sie von ihm gehört? Ich meine von Georg Felgendreher, nicht Einstein«, er lachte kurz über seinen eigenen ungewollten Witz.
»Nein, bestimmt nicht, das ist ja auch alles schon so lange her.«
Er stand wieder auf, öffnete die Tür und machte eine weit ausholende Bewegung mit seiner Hand. »Bitte gehen Sie vor, ich muss nur noch hinter uns abschließen.«
Auf dem Gang warteten sie, bis Dr. Dufner seine Bürotür hinter sich abgeschlossen hatte, dann trat er zu ihnen, und sie gingen zusammen den langen Flur hinunter. An der letzten Tür auf der linken Seite hielt Dufner an, suchte nach dem passenden Schlüssel und steckte ihn in das Schloss der alten klobigen Holztür.
»Franz, du hast Besuch! Ist von weit her angereist. Ich bringe dir drei Herren aus Deutschland und aus England«, rief er in den Raum hinein, während er die Tür öffnete.
Frank, Peter und Kenneth McCully traten nacheinander in das Krankenzimmer ein. An einem schmalen Tisch am Fenster saß auf einem der drei Stühle ein kleiner Mann, bekleidet mit einer Jogginghose und einem rot-weiß karierten Hemd. Er blickte kurz zu ihnen auf, als sie eintraten.
»Ich lasse dich mit deinem Besuch allein, Franz, benimm dich anständig«, sagte Dufner laut, und zu Frank gewandt fügte er verschwörerisch flüsternd hinzu: »Ich lasse die Tür offen. Wenn Sie gehen, sagen Sie bitte vorne der Schwester Bescheid. Sie wird dann die Tür wieder verschließen. Und ich wünsche Ihnen allen noch einen angenehmen Aufenthalt in der Schweiz.«
Sie verabschiedeten sich von Dr. Dufner und gingen dann vorsichtig und respektvoll auf den alten Mann zu, der sie zwar zur Kenntnis genommen zu haben schien, dem aber ansonsten keine weitere Reaktion anzumerken war. Franz Felgendreher sah nicht älter und nicht jünger aus als siebzig, genau das Alter, das Dr. Dufner genannt hatte. Er hatte dünnes, graues Haar, das gleichmäßig verteilt auf seinem hageren Kopf wuchs, aber schon über den Kragenrand reichte. Sein schmales Gesicht wurde in Richtung Kinn immer spitzer. Seine Augen waren kaum zu erkennen, da er den Blick wieder auf das vor ihm liegende Kreuzworträtsel gerichtet hatte. Mit der linken Hand hielt er das Rätselheft auf dem Tisch fest, und mit der rechten schrieb er langsam und sorgfältig große Druckbuchstaben in die Kästchen. Sie beobachteten Franz Felgendreher schweigend, und Frank erkannte, dass der alte Mann nicht nur langsam, sondern auch sehr bedacht schrieb. Er setzte den Kugelschreiber erst zu einem neuen Wort an, wenn er es mit den Lippen schon leise für sich formuliert und auf diese Art zwei oder drei Mal ausprobiert hatte. Währenddessen hüstelte er mehrmals. Der kurze, rote Wollschal, den er um den Hals trug, schien darauf hinzudeuten, dass er sich im beginnenden Herbst die erste Erkältung zugezogen hatte.
Frank hatte ausreichend Zeit für seine Beobachtungen, denn eine gewisse Verlegenheit hatte sich ihrer gegenüber dem fremden alten Mann bemächtigt, die sich bei Peter darin äußerte, dass er sich nun in angemessenem Abstand auf die Bettkante setzte. Kenneth McCully wagte sich mit dem ihm gebührenden geringeren Abstand des beinahe Gleichaltrigen weiter an Franz Felgendreher heran und nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz. Er lächelte ihm freundlich zu, während Frank, der im Gegensatz zu seinen Begleitern keinen Platz fand, der ihm der Situation angemessen erschien, einfach stehen blieb und mit lauter, langsamer Stimme fragte: »Sind Sie erkältet, Herr Felgendreher?«
»Ein wenig, ja«, sagte Franz Felgendreher, ohne aufzublicken.
Frank war froh über die direkte Antwort. Peter stieß ihn an.
»Er ist doch nicht schwerhörig.«
»Ich bin Frank Schönbeck aus Hamburg, Herr Felgendreher«, fuhr Frank etwas leiser fort, »das sind meine Freunde, Peter Adams und Professor Kenneth McCully aus London. Wir wollen uns mit Ihnen unterhalten, dürfen wir das, ist es Ihnen recht, Herr Felgendreher?«
»Hamburg.«
»Ja, aus Hamburg, wie der Besucher von letzter Woche, Herr Professor Pfleiderer. Der war auch bei Ihnen, können Sie sich erinnern, Herr Felgendreher?«
»Pfleiderer.«
»Ja, Herr Professor Pfleiderer, er ist … ein guter Bekannter von mir, erinnern Sie sich an ihn?«
Schweigen.
Mit einem ersten Anflug von Hilflosigkeit blickte Frank erst Peter und dann Kenneth McCully an.
Der Professor kam ihm zu Hilfe.
»Herr Felgendreher, wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir sind von weit her angereist, weil wir hoffen, dass Sie uns vielleicht helfen können. Wir wollen Ihnen etwas zeigen. Wollen Sie es sich einmal anschauen?«, fragte er in deutlichem Englisch.
Schweigen. Bedachtsame Lippenbewegungen. Ein erster Buchstabe in einem Kästchen.
»So wird das nichts.« Peter war wie immer direkt und unverblümt. Er griff nach seinem Rucksack, den er neben sich auf Felgendrehers Bett gestellt hatte, und zog die Pappröhre hervor. Dann öffnete er die Rolle und zog die Karte heraus. Er rollte sie auseinander und hielt sie ausgebreitet vor sich, sodass Franz Felgendreher sie betrachten konnte.
»Hier, Herr Felgendreher, das ist die Karte. Kennen Sie sie, können Sie uns etwas dazu …«
Peter kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn das Geräusch des wild hin und her ruckenden Stuhls, auf dem Franz Felgendreher saß, übertönte seine Worte.
Felgendreher starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Karte und klammerte sich mit beiden Händen am Rand der schmalen Tischplatte fest. Nervös scharrte er mit seinen Füßen auf dem Boden hin und her, sodass der Stuhl befremdlich knarrte. Alle vorherige Bedächtigkeit und Langsamkeit waren wie weggeblasen. Die Worte kamen jetzt abgehackt aus seinem Mund, waren aber trotzdem deutlich zu verstehen:
»Zwei große Männer, nicht ein großer Mann, zwei Männer, es sind zwei, zwei fragen mich, nicht einer, zwei wollen die Karte, nicht einer, zwei.«
Felgendreher redete ohne Pause. Frank, Peter und McCully sahen sich entgeistert an. Keiner hatte mit dieser Situation gerechnet. Frank erinnerte sich, dass Dr. Dufner etwas von einer Vorbereitung auf so eine Reaktion gefaselt hatte. Aber was sie tun sollten, wenn sich Felgendreher so verhielt, wie er es gerade tat, hatte er vergessen, oder hatte Dr. Dufner etwa überhaupt nichts darüber gesagt?
»Beruhigen Sie sich doch, Herr Felgendreher, regen Sie sich nicht auf, wir wollen Sie nicht beunruhigen. Peter, pack endlich die Karte weg!«
Peter hatte Felgendreher die ganze Zeit über völlig perplex angesehen und nicht bemerkt, dass er ihm immer noch die Karte in etwa einem Meter Entfernung direkt vor die Nase hielt. Auf Franks Aufforderung hin rollte er das Papier schnell wieder ein und steckte es in die Rolle zurück.
Doch Felgendreher ließ sich davon nicht beruhigen. »Es sind zwei Männer gekommen, zwei große Männer, nicht ein Mann. Vater hat gesagt, es kommt ein Mann, nicht zwei! Die Karte! Ein Mann kommt sie holen, hat er gesagt, nicht zwei.«
»Herr Felgendreher! Was hat Ihr Vater gesagt, wieso kommt ein Mann, um die Karte zu holen?«
»Ein Mann kommt, ein Riese, nicht zwei, die Zeichen, die Zeichen auf der Karte, ein Mann kennt sie, nicht zwei!«
»Der Mann? Er kennt die Zeichen? Herr Felgendreher, was bedeuten die Zeichen?«
»Die Zeichen, die Pfeile, das Zeichen, Gott kommt, Gott, er kommt, die Zeichen, ein Mann kommt mich holen, die Karte, nicht zwei Männer. Ogottogottogott. Die Zeichen sind da!«
Noch immer hielt sich Felgendreher krampfhaft an der Tischplatte fest, nur seine Fußbewegungen waren nicht mehr ganz so ruckartig. Er sprach noch immer unverändert schnell: »Ein Mann kommt sie holen, nicht zwei«, wiederholte er unaufhörlich.
Frank versuchte es noch einmal in ruhigem Tonfall. »Wir holen die Karte doch nicht, wir haben sie gebracht. Hier ist sie, wir haben sie mitgebracht, nicht geholt.« Das schien zu Felgendreher durchzudringen.
»Zwei Männer haben die Karte mitgebracht, nicht geholt«, wiederholte er. »Ein großer Mann holt sie. Zwei große Männer bringen sie.«
»Ja, richtig, wir haben die Karte doch schon, sie gehört uns. Wir wollen nur etwas darüber von Ihnen wissen. Die Zahlen dort unten in der Ecke, kennen Sie die, Herr Felgendreher?«
»Ein Mann holt sie, sie gehört zwei Männern, die Karte, eine zweite Karte gehört zwei Männern.«
Die Befragung schien immer weniger Sinn zu machen, aber Frank wollte nicht aufgeben. Noch nicht.
»Nein, die Zahlen in der Ecke, sehen Sie sich doch die Zahlen an, die Titanic, das Schiff ist dort versunken. Kennen Sie die Geschichte?«
Leichte Veränderungen machten sich bei Felgendreher bemerkbar. Die Augen waren nicht mehr ganz so ängstlich aufgerissen, seine Hand, mit der er die Tischplatte umklammert hielt, lockerte sich ein wenig.
»Das stimmt nicht!«, rief er laut. »Die Titanic ist nicht gesunken, Kapitän Smith war ein guter Mann, sie ist angekommen in New York. Die Karte und die Zeichen, alles falsch.«
Frank wollte aufgeben, doch McCully drängte ihn weiterzumachen: »Ich glaube, er weiß etwas darüber. Fragen Sie ihn noch mal nach der Titanic und den Zahlen.«
Aber Frank kam gar nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen. Felgendreher war in seinem Monolog gefangen:
»Ein gütiger Mann, Kapitän Smith, alles ist angekommen, die Titanic ist angekommen. Im Hafen, in New York. Alle Menschen sind da, Kapitän Smith hat sie gerettet. Mein Vater weiß es, er hat es gesagt. Alles ist angekommen, die Karte, ein großer Mann holt sie, sie ist da, im Schiff, alles ist da. Sie ist nicht gesunken. Alle gerettet. Mein Vater weiß es, das Schiff, das unsinkbar ist für ewig, alles noch da im Schiff, ein neuer Rekord, hat er gesagt, mit einem neuen Rekord in New York angekommen, alles dabei, die Karte, Einstein holt sie!«
»Einstein, Sie kannten Einstein?« Frank nutzte eine Atempause, um die Frage zu stellen.
Felgendreher ging tatsächlich darauf ein: »Einstein, ein guter Mann, wie mein Vater, was erzählt ihr da? Untergegangen? Ha, die Titanic ist unsinkbar! Mein Vater wusste es, eingelaufen im Hafen von New York, am 16, April 1912, ein neuer Rekord, das schnellste Schiff, die Titanic, gesunken, ha, ein Witz! Ein unsinkbares Schiff sinkt nicht, das schnellste der Zeit, die Zeit läuft schneller und schneller. Einstein ist hier, er hat es gesagt, die Zeit, sie läuft rückwärts und vorwärts zugleich.« Felgendrehers Füße begleiteten rhythmisch scharrend seine ohne Unterbrechung herausgestoßenen Wortfetzen. »Einstein weiß es, aber mein Vater kennt die Titanic, gesunken ha! Von wegen, sie ist angekommen in New York, alle gerettet, alle Sachen sind da, die Karte und die Pfeile bringen den Tod.«
»Was wissen Sie über die Pfeile, Herr Felgendreher?« Professor McCully hatte sich eingeschaltet und bat Frank zu übersetzen.
»Tod und Pest und Krieg, das Ende, es ist das Ende, der große Mann will die Karte, und Hunger, ich habe Hunger! Zwei große Männer bringen eine Karte, einer holt sie.«
Plötzlich brach er ab.
Er atmete schwer, und Peter, Frank und McCully merkten, dass er völlig erschöpft war. Peter erhob sich vom Bett, und Frank sagte:
»Legen Sie sich doch hin, Herr Felgendreher, Sie zittern ja, kommen Sie, ruhen Sie sich aus, wir gehen jetzt.«
Zwar hatten sie es nicht miteinander besprochen, aber es war ihnen allen klar, dass sie den alten Mann in Ruhe lassen mussten. Sie hatten ihn lange genug belästigt, und das, was er andauernd wiederholte, würde in einer Endlosschleife weitergehen, egal wie lange sie blieben und was sie ihn noch fragten.
Franz Felgendreher ließ sich, ohne sich zu wehren, von Frank dabei helfen, sich auf das Bett zu legen.
»Zwei Männer bringen eine Karte, einer holt sie«, murmelte er jetzt nur noch leise vor sich hin.
Nachdem Franz Felgendreher ausgestreckt auf seinem Bett lag, atmeten auch seine drei Besucher tief durch und verließen mit einem letzten Blick auf den alten, erschöpften Mann das Krankenzimmer. Sie schlossen die Tür hinter sich und gingen nebeneinander mit langsamen Schritten in Richtung Ausgang.
»He, Kartenspieler, wartet!«, hörten sie eine gedämpfte Stimme.
Unvermittelt blieben sie stehen. Franz Felgendreher hatte gerufen.
»Kartenspieler, Ihr zwei Großen! Wollt Ihr einen Tausch?«
Alle drei hörten gebannt zu.
»Kartenspieler! Ein Tausch! Eine Karte gegen eine andere! Zwei große Männer, ein Tausch!«, rief Felgendreher durch die geschlossene Tür.
Sie kehrten um und öffneten wieder die Zimmertür. Felgendreher hatte sich in seinem Bett aufgesetzt und starrte sie an. Seine Stimme war laut, als ob er nicht realisierte, dass er leiser sprechen konnte, jetzt, da seine Besucher bei ihm im Zimmer standen.
»Ein Tausch, zwei große Männer geben eine Karte und ziehen eine andere, Kartenspieler?!«
Er blickte sie mit aufgerissenen Augen an, aber sein Körper blieb ruhig, das Zittern war verschwunden.
Frank machte einen vorsichtigen Schritt auf Felgendreher zu.
»Ja«, sagte er langsam, »ja, wir wollen einen Tausch. Was gibst du uns?«
»Eine Karte für eine andere«, sagte Felgendreher. Und dann:
»Zuerst du!«
»Peter, gib mir die Karte!«
»Aber Frank, wir …«
Aber McCully stoppte ihn. »Das geht in Ordnung, wir müssen es riskieren.«
Peter zog erneut die Papprolle aus seinem Rucksack und gab die Karte an Frank weiter, der sie Felgendreher anbot. Mit einem einzigen schnellen Ruck riss Felgendreher das eingerollte Kartenblatt an sich und steckte es hinter sich unter sein Kopfkissen. Dann beugte er sich gewandt unter sein Bett und zog eine Rolle aus Pappe hervor, die den beiden Rollen von Frank und Peter sehr ähnlich war.
Er bot sie Frank an, während er mit dem anderen Arm wachsam sein Kopfkissen gegen das von Frank erhaltene Kartenblatt presste. Frank ergriff die Karte.
»Ein Tausch, Kartenspieler machen einen Tausch«, sagte Felgendreher triumphierend und ließ die Karte los. Dann legte er sich auf den Rücken und drehte den Kopf zur Seite, sodass er aus dem Fenster sah. Frank nahm die Karte an sich, rollte sie auf, warf einen Blick darauf und ließ das Papier sich wieder zurückrollen.
»Was ist?«, fragte Peter ungeduldig. »Was ist drauf?«, wollte er wissen.
»Ist in Ordnung«, sagte Frank und warf einen respektvollen Abschiedsblick auf den alten Mann auf dem Krankenbett, »der Tausch geht in Ordnung, lasst uns gehen.«
Franz Felgendreher blickte sie nicht noch einmal an und sagte auch kein Wort mehr, als sie den Raum endgültig verließen. Erst als sie den Flur entlanggingen, hörten sie ihn noch einmal rufen: »Ich habe Hunger!«
»Gibt ja gleich was«, sagte der Krankenpfleger, der gerade seinen Essenswagen an ihnen vorbeischob.