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Hätten Franz Felgendrehers Besucher auf dem Rückweg in die Pension Sonne nicht denselben Weg genommen wie auf dem Hinweg, und hätten sie, wie es der Wunsch Kenneth McCullys gewesen war, stattdessen einen längeren Ausflug an der grün dahinfließenden Aare entlang gemacht, und wären sie deshalb dann am Spitalausgang nach rechts und nicht nach links abgebogen, hätten sie das bitter bereut. Denn dann wären sie aller Voraussicht nach dem Mann in die Arme gelaufen, dem sie auf der ganzen Welt im Moment am allerwenigsten begegnen wollten und vor dem Frank seit nunmehr fünf Tagen auf der Flucht war.
Einstein betrat das Krankenhausgelände und ging über die neue Teerstraße auf das Eingangstor des Psychiatriegebäudes zu. Er fluchte leise vor sich hin. Langsam aber sicher hatte er genug von Europa. Die schlechten Verkehrsverbindungen hatten ihn gezwungen, eine Nacht in Basel zu verbringen. Es war einfach nur lächerlich. Was würden die Leute hier nur erst im Winter machen? Dabei bezweifelte er, dass die europäischen Winter mit einem kanadischen Winter zu vergleichen waren. Wahrscheinlich kannten die hier nicht einmal richtigen Schnee, sondern nur das künstliche Zeug, mit dem sie ihre Skipisten zupusteten. Er hatte viel Zeit verloren. Erst war er von Basel aus gestern Abend nicht weitergekommen, und dann hatte es auch heute Morgen keinen Anschlussflug gegeben, sodass er mit der Eisenbahn sogar schneller in Bern gewesen war, als wenn er auf den Flieger gewartet hätte. Und so etwas schimpfte sich nun Bundeshauptstadt. Und wozu brauchte ein Land, das höchstens so groß war wie ein mittelgroßer kanadischer Nationalpark, überhaupt eine Hauptstadt? Die verloren gegangene Zeit war mehr als ärgerlich, gefährdete sie doch das Gelingen des gesamten Projekts. 48 Stunden hatte Mr. Van ihm gegeben, und Gloria McGinnis hatte gesagt, Mr. Van sei sehr energisch gewesen, als er das Ultimatum gestellt hatte. Als ob er das nicht wüsste.
Gestern waren 48 Stunden noch eine halbe Ewigkeit gewesen, aber allein wegen der miserablen Schweizer Verkehrswege war davon nicht mehr viel übrig geblieben. Nicht dass er etwas dagegen hätte, wenn Mr. Van ein Team schicken würde. Was diese Superprofis betraf, die Mr. Van an der Hand hatte und die ihren Job bestimmt auch gut erledigten: Einstein war nicht so eitel oder überehrgeizig, dass er unbedingt die Karte ohne deren Hilfe zurückholen wollte. Es war bloß gefährlich. Je mehr Leute von der Karte und von der Schatzsuche wussten, desto mehr würden später auch teilen wollen.
Wenn nur eine Person ein einziges Detail zu viel erfuhr und ihre Schlüsse zog, würde das ganze Vorhaben in ernsthafte Gefahr geraten. Eigennutz und die Aussicht auf die Erfüllung eines Lebenstraums war es, was ihn vorantrieb, nicht der Ehrgeiz oder der Neid auf die so genannten Profis, die angeblich bessere Arbeit ablieferten. Natürlich hatten sie Glück gehabt, dass Gloria durch puren Zufall in Heathrow wieder auf die Spur der Karte gestoßen war. Und dass die beiden Jungs und McCully mit der Karte in die Schweiz geflogen waren, konnte nur bedeuten, dass sie zu Felgendreher wollten, um ihn nach den Koordinaten zu befragen, weil sie selbst zu dumm waren, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Verdammte Idioten. Warum wollten die Kerle auch partout die Karte nicht herausrücken, wenn sie doch ohnehin nicht in der Lage waren, ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Das Einzige, was sie zustande gebracht hatten, war, diese deutsche Polizistin abzuhängen. Aber das hatte ihn gewundert. Vom ersten Eindruck her hatte er die Frau für cleverer gehalten. Aber das sollte ihn nicht weiter kratzen. Nur dass er jetzt auch noch in die Schweiz reisen musste! Eigentlich hatte er gehofft, über den Besuch bei Malcolm McCory in Hamburg an die Karte zu gelangen und das Ganze in ein paar Stunden hinter sich zu bringen. McCory hatte die Karte doch tatsächlich in Europa aufgetrieben. So viel Schlauheit hatten sie ihm damals in Nova Scotia gar nicht zugetraut. Damals hatte er noch nicht einen auf versponnenen Wissenschaftler gemacht und mit ihnen zusammengearbeitet. Zum Glück hatte er ihnen noch rechtzeitig, bevor er abgehauen war, von diesem Felgendreher erzählt. In Bern, ausgerechnet in der Stadt von Einstein, hatte er die Karte gefunden. Einsteins Gehilfe, mit dem dieser Felgendreher irgendwie zusammenhängen musste, sollte die Karte haben. Hatte McCory jedenfalls damals behauptet. Einsteins heimlicher Gehilfe, er hatte nie von ihm gehört, aber irgendwas war wohl doch an der Geschichte dran gewesen. Jetzt musste er sich tatsächlich am Ende noch selber um diesen blöden Franz Felgendreher kümmern. Und der saß, um dem ganzen Irrsinnsspiel die Krone aufzusetzen, auch noch in der Klapsmühle. Ihm lief die Zeit davon, Felgendreher musste ihm einfach die Koordinaten sagen, und zwar schnell und um jeden Preis. Er hatte nur noch bis morgen früh Zeit, dann würde Mr. Van von Montreal aus seine Leute in Bewegung setzen.
Und dann war er aus dem Spiel. Aber dazu würde es nicht kommen. Es blieben ihm immerhin noch fast 20 Stunden. Er tastete in seiner Manteltasche nach seiner Waffe und entsicherte sie. Er hatte die Nase gestrichen voll von Europa, hier gab es noch nicht mal richtiges Eishockey. Mit viel Glück würde er sogar zum Mittwochabendspiel der Montreal Canadiens im Molson Center zurück sein.
Er erreichte das Eingangsportal des Johanniter-Spitals, bückte sich und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Reste des frischen Teers von den Stiefeln, die haften geblieben waren. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf einen Haufen aus herausgebrochenen alten schwarzen Teerstücken, die neben der frischen Teerdecke lagen. Warum ein System ändern, das sich bereits bewährt hat, dachte er und ließ einen größeren Teerbrocken in seiner anderen Manteltasche verschwinden.
»Entschuldigung, haben Sie vielleicht eine Zigarette?«
Einstein fuhr erschrocken herum. Die Fragerin musste beobachtet haben, wie er den Stein eingesteckt hatte. Vor ihm stand eine Frau um die fünfzig, die einen dünnen, gelben Anorak trug über ihrem Morgenrock, den sie mit beiden Armen an ihren Körper drückte, und ihn verwundert ansah.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken, haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«
Sie hatte ihre Bitte nur zögernd wiederholt, verunsichert durch Einsteins unruhig hin und her wandernde dunkle Augen, die prüfend das Spitalgelände absuchten.
»Ja, natürlich«, sagte er mit leiser Stimme, griff in die Innentasche seines Mantels, holte eine angebrochene Zigarettenschachtel hervor und wartete, bis die Frau eine Zigarette herausgezogen hatte. Dann gab er ihr Feuer.
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte die Frau.
»Können Sie mir bitte sagen, wo Franz Felgendreher untergebracht ist?«, fragte Einstein.
»Ja, sicher im Erdgeschoss, immer den Flur entlang, ganz hinten links«, sagte sie und machte sich, ihren Anorak weiterhin eng an sich drückend, davon. Einstein war sich sicher, dass die Frau gesehen hatte, wie er den Teerklumpen in die Manteltasche gesteckt hatte, beruhigte sich aber damit, dass in diesem Irrenhaus tagtäglich wahrscheinlich noch viel absonderlichere Verhaltensweisen zu beobachten waren.
Ohne es zu merken, war Einstein auch von der Krankenschwester im Empfangsbereich beobachtet worden. Sie war allerdings erst aufmerksam geworden, als sie gesehen hatte, dass Frau Schneider, die sich bei fast jedem Wetter den ganzen Tag im Außengelände aufhielt, wieder einen Besucher gefunden hatte, bei dem sie eine Zigarette schnorren konnte. Nachdem die Schwester sich dadurch kurzzeitig von der Verteilung der Tablettenrationen hatte ablenken lassen, wandte sie sich wieder ihrer Beschäftigung im Hinterzimmer des Foyers zu. Dadurch bekam sie nicht mit, wie der unbekannte groß gewachsene Besucher, der eben noch um eine Zigarette erleichtert worden war, das Gebäude betrat und, ohne sich bei ihr anzumelden, mit raschen Schritten den Flur hinunterging.
Als er am Ende des Ganges angelangt war, probierte er aus, ob sich die Tür auf der linken Seite öffnen ließ. Er hatte Glück: Die Tür war unverschlossen, und er bemühte sich, beim Eintreten kein Geräusch zu machen.
Franz Felgendreher lag friedlich schlummernd mit dem Gesicht zum Fenster hin gewandt auf seinem Bett. Einstein ging zum Fenster und setzte sich auf einen der winzigen Stühle, der unter seinem Mantel völlig verschwand. Dann blickte er auf den schlafenden Felgendreher, streckte sein rechtes Bein aus und trat mit voller Wucht gegen das Fußende des Bettes.
Franz Felgendreher war sofort wach. Er öffnete die Augen. Er hatte so tief geschlafen, dass er sich nicht sofort orientieren konnte. Möglicherweise war seine Verwirrtheit auch auf die beiden Tabletten zurückzuführen, die nach dem Mittagessen ihre Wirkung entfalteten. Als er Einstein erblickte, setzte er sich auf, sodass seine Beine über der Bettkante baumelten. Wie schon während des vorherigen Besuchs, begann er, nervös mit den Füßen zu scharren. Da diese aber an dem hohen Bettgestell keinen Widerstand fanden, schwangen sie in der Luft, sein Körper verkrampfte sich, und erzitterte heftig.
»Guten Tag, Herr Felgendreher, mein Name ist Einstein. Ich bin gekommen, um etwas zu holen, was mir gehört.« Auch er sprach langsames und deutliches Englisch.
Aber Felgendreher hatte ihn verstanden, das war seinen Augen anzumerken, die sich jetzt auf Einstein fokussierten. Sein Körper zitterte so stark, dass er nicht sprechen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Der alte Mann hatte solche Angst, dass er keinen Ton herausbrachte.
»Sie wissen doch, worum es geht, nicht wahr, Herr Felgendreher? Es ist die alte Landkarte, ich bin mir sicher, dass sie bei Ihnen ist«, sagte Einstein.
»Die Karte, der große Mann«, war alles, was Franz Felgendreher schließlich herausbrachte. Sein Blick war weiterhin starr auf Einstein gerichtet, dann presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen wieder hervor:
»Die Karte, der große Mann, er ist gekommen.«
»Ja, er ist da, Herr Felgendreher, der große Mann ist gekommen. Hat Sie Professor Pfleiderer letzte Woche vor mir gewarnt? Oder war es sogar Ihr Vater vor langer Zeit?«, fragte Einstein und suchte, während er sprach, mit seinen Augen das Zimmer ab.
»Mein Vater, er hat es gesagt, ein großer Mann.«
»So, so, Ihr Vater hat es Ihnen erzählt, na, dann wissen Sie ja, worum es geht. Ihr Vater hat etwas gestohlen. Vor langer, langer Zeit, aus Einsteins Schreibtischschublade. Ich bin gekommen, um es zurückzuholen. Geben Sie mir die Karte. Geben Sie sie mir, für das, was Ihr Vater gestohlen hat.«
Er streckte Felgendreher fordernd die offene Handfläche entgegen, beugte sich ein wenig vor und rollte gefährlich mit den Augen. Er hoffte, Felgendreher damit noch mehr zu erschrecken, und tatsächlich erzielte er die von ihm gewünschte Wirkung.
Felgendreher wich auf sein Bett zurück. War er schon beim Besuch von Frank, Peter und McCully die meiste Zeit über verängstigt gewesen, so war er jetzt nur noch ein Haufen Elend. Auf dem Rücken im Bett liegend hatte er die Beine an sich gezogen, um seinen heftig schlotternden Knien wenigstens ein bisschen Standfestigkeit zu geben.
»Nein, nein!«, rief er. »Das stimmt doch nicht, mein Vater hat es nicht gestohlen, er hat es sich selbst ausgedacht, Einstein und er, sie haben gearbeitet, beim Patentamt, zusammengearbeitet, mein Vater hat nichts gestohlen.«
»Unsinn«, entgegnete Einstein, der jetzt die Pappröhre entdeckt hatte, die unter dem Kopfende auf dem Fußboden lag. »Natürlich hat er es gestohlen, es gehörte Einstein, und ich hole es zurück. Wenn du mir die Karte nicht gibst, wirst du für den Diebstahl deines Vaters büßen!«
Er war aufgestanden und bückte sich neben dem Bett, um nach der Röhre zu greifen. Getrieben von Furcht und Panik, stürzte sich plötzlich der kleine alte Mann von hinten auf Einstein und schlang ihm beide Arme um die Schultern. Seine dünnen Arme reichten kaum bis zu Einsteins Brustkorb, aber er versuchte verzweifelt zu verhindern, dass Einstein die Karte an sich nahm.
»Nein, nein, mein Vater hat nichts gestohlen! Das stimmt alles nicht!«, schrie er.
»Verdammt, lass los, du Hund«, fluchte Einstein und packte Felgendreher von hinten am Hals.
Felgendreher hatte ein paar von Einsteins kurzen, schwarzen Haaren zu fassen bekommen und zog heftig an ihnen und an dem Stück Kopfhaut.
»Du bist nicht Einstein, du bist Danny Boy!«, schrie Felgendreher laut.
Einstein griff mit dem linken Arm Felgendrehers Hand, die an seinen Haaren zog, und riss die Hand mit einem scharfen Ruck weg mit der Folge, dass er einige Haare verlor. Einstein brüllte vor Schmerz.
»Verdammt, woher kennst du meinen Namen?« Er hielt weiter Felgendreher wie ein erlegtes Wild am Hals gepackt. Felgendreher schrie wieder: »Danny Boy, der große Mann, du bist es!«
Einstein brauchte die Karte, und er brauchte sie sofort: Er konnte nicht länger mit dem alten Mann ringen und kostbare Zeit verlieren. Er ließ Felgendreher los, der schlaff in die Bettkissen zurücksank und sich zusammenkrümmte. Dann griff er unter das Bett, holte die Papprolle hervor, öffnete sie und zog die Karte heraus. Mit einem kurzen Blick überzeugte er sich davon, dass es die gesuchte Karte mit den Koordinaten war. Doch er hatte nicht mit Felgendreher gerechnet, der plötzlich nach der Karte griff. Das Papier riss ein.
»Lass die Karte los, ich warne dich!«, schrie Einstein ihn an. Er fasste nach Felgendrehers Hand und konnte, indem er dessen Finger mit einem scharfen Ruck nach außen drehte, Felgendreher die Karte entreißen. Einen Fetzen Papier krampfhaft in seiner Faust festhaltend, kämpfte Felgendreher weiter tapfer um das Andenken seines Vaters. Wieder langte er nach der Karte, als Einstein mit der linken frei gewordenen Hand in seine Manteltasche fasste, den schwarzen Teerklumpen herauszog und den Stein zwei Mal mit voller Wucht auf Felgendrehers Kopf krachen ließ. Er spürte, wie sich die Verkrampfung in Felgendrehers bebendem Körper langsam löste. Sein Schreien hatte abrupt aufgehört. Er ließ Felgendrehers Körper auf das Bett zurückgleiten, rollte die Karte ein und steckte sie zurück in die Rolle. Dann lief er zur Tür und stürmte im Laufschritt den Flur der Psychiatrischen Abteilung herunter, dem breiten steinernen Eingangsportal entgegen.