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Peter reagierte am schnellsten auf das Klopfen. Er rollte die Schatzkarte ein, die Franz Felgendreher ihnen gegeben hatte. Dann öffnete er den Kleiderschrank, warf die Karte hinein, schloss die Schranktür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in seine Hosentasche. Dann nahm er die zweite Pappröhre, in der sie immer noch das Kartendeckblatt aufbewahrten, das Frank mit dem Wasserkocher abgelöst hatte und das Einstein zusammen mit dem weißen Stein durch Ken McCullys Fenster geworfen hatte. Er stellte die Röhre senkrecht in eine Ecke des Raumes, sodass jeder Besucher sie sehen konnte. Frank schaltete die Deckenbeleuchtung ein, denn über ihren neuerlichen Nachforschungen war es längst Abend geworden.
»Wer ist da?«, fragte Frank durch die geschlossene Tür.
»Hier ist Hauptkommissarin Christine Keller, lassen Sie mich bitte herein«, kam eine laute weibliche Stimme von draußen.
Frank öffnete sofort. Vor ihm stand eine wütende Hauptkommissarin Keller mit unter den Arm geklemmtem Regenschirm. Auf ihrem hellen Mantel zeichneten sich feuchte Spuren ab. In Bern hatte es anscheinend wieder zu regnen begonnen. Ohne eine Einladung abzuwarten, betrat sie den Raum. Mitten im Gesicht trug sie einen leuchtend weißen Nasenschutz.
»Was haben Sie denn mit Ihrer Nase gemacht?«, fragte Peter sofort. Christine Keller hielt ihre Hände in einer abwehrenden Geste hoch, sodass einzelne Wassertropfen von ihrem Regenschirm auf die Holzdielen fielen. Der Schirm rutschte ihr aus der Armbeuge und polterte auf den Boden. Sie zog ihren Regenmantel aus, warf ihn aufs Bett und setzte sich daneben, ohne auf die Nässe zu achten, die sie um sich verteilte. Peter hob ihren Regenschirm auf und stellte ihn in der Zimmerecke neben der Kartenrolle ab. Christine Keller bemerkte die Rolle. Sie wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück und betastete vorsichtig ihren Nasenverband.
»Diese Frage könnte ich Ihnen noch übler nehmen als alles andere, was Sie angerichtet haben. Aber ich habe mir vorgenommen, mich zu beherrschen. Es geht jetzt zunächst einmal um eine Ermittlung in zwei Mordfällen.« Sie betonte zwei Mordfälle. Keiner der drei Männer, die sich einige Minuten zuvor noch wie wagemutige Schatzjäger gefühlt hatten, wagte, etwas zu sagen.
»Bis gestern Nachmittag hätte ich gegen Sie ein Verfahren wegen Unterdrückung von Beweismitteln einleiten können, Herr Schönbeck«, sagte sie zu Frank. Dann wandte sie sich an Peter.
»Und Ihnen danke ich vielmals für Ihre freundlichen Zeilen, Mr. Adams.« Sie versuchte trotz ihres Ärgers, ein mühevolles Lächeln zustande zu bringen. Das Einzige, was man sah, war, dass sich der weiße Verband auf ihrer Nase ausdehnte. Der Versuch misslang kläglich, und ihr waren die Schmerzen anzusehen.
»Ich weiß Ihre Bemühung um eine Entschuldigung zu würdigen, aber auch Sie haben ganz sicher einen entscheidenden Anteil daran, dass Herr Schönbeck mir gestern die Karte vorenthalten hat. Sie unterstehen zwar nicht der deutschen Justiz, Mr. Adams, aber ich kann Ihnen versichern, dass die britische Polizei den Fall sicherlich ganz genauso beurteilen wird. Und was Sie betrifft, Mr ….«
»McCully, Kenneth McCully, ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Frau Keller. Seien Sie versichert, dass ich die Umstände, die wir Ihnen gemacht haben, zutiefst bedauere«, sagte McCully in einem Versuch, die Situation so weit wie möglich zu entschärfen.
»Nun, wie bereits erwähnt, Mr. McCully, geht es hier nicht so sehr um irgendwelche unangenehmen Umstände, sondern um Ermittlungen in einem Mordfall. Heute Nachmittag hat es im Johanniter-Spital in Bern einen zweiten Mord gegeben. Und jetzt komme ich zu dem Teil, der Sie betrifft. Es kann nämlich durchaus sein, dass ich Herrn Schönbeck wegen Beihilfe zum Mord an Franz Felgendreher vorläufig festnehmen lasse.«
Sie machte eine Pause, während der sie vorsichtig auf ihren Verband schielte und sich ärgerte, dass sie wegen der Schmerzen, die sich in regelmäßigen Abständen einstellten, ihren Worten möglicherweise nicht genug Nachdruck verliehen hatte. Aber dann sah sie den erschrockenen Gesichtsausdruck von Frank Schönbeck. Die Drohung hatte gewirkt.
»Ich könnte mir jederzeit den notwendigen Haftbefehl aus Hamburg faxen lassen«, sagte sie.
»Wir haben ihn doch nur besucht«, sagte Frank leise.
»Es geht auch nicht um Ihren Besuch, sondern um den Besucher, der unmittelbar nach Ihnen im Spital gewesen ist. Sie haben doch den Mann kennen gelernt, der sich Einstein nennt, und Sie wussten genau, wie gefährlich er ist. Wenn Sie die Absicht hatten, mit Ihrem eigenartigen Verhalten Ihrem toten Professor zu helfen, dann haben Sie genau das Gegenteil erreicht. Sie hätten mir gestern die Karte geben müssen, denn dann könnte Franz Felgendreher jetzt noch leben, und dieser Mörder wäre nicht mit der Karte auf der Flucht. So haben Sie noch ein Menschenleben auf dem Gewissen.«
»Jetzt reicht es aber! Das ist doch absurd!«, polterte McCully.
»Wenn Frank Ihnen die Karte gegeben hätte, hätte nicht Einstein die Karte, sondern die Polizei, und das hieße doch nur, dass er noch immer hinter der Karte her wäre. Und wenn er erfahren hätte, dass die Polizei die Karte hat, wäre Franz Felgendreher für ihn erst recht die einzige Möglichkeit gewesen, um noch etwas über sie zu erfahren. Einstein hätte genau wie jetzt Felgendreher seine Karte abgenommen und ihn umgebracht. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob Frank Ihnen die Karte gegeben hat oder nicht! Das Einzige, was er möglicherweise hätte tun können, ist, Einstein selbst seine Karte zu geben. Und wäre das in Ihrem Interesse gewesen? Wissen Sie denn, dass Einstein, bloß weil er die Karte hat, nicht noch weiteres Unheil anrichtet? Jetzt kommen Sie doch nicht hierher und richten über Frank, während ein Mörder sein Unwesen treibt, den Sie selbst nicht fassen konnten.« McCully atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Dann fügte er hinzu: »Vielleicht darf ich, um es vorsichtig zu formulieren, aus Ihrer Verletzung schließen, dass Sie Einstein beinahe gefasst hätten?« Er sah Frau Keller an, die ohne eine merkliche Regung seinen Ausbruch verfolgt hatte, und rieb sich unwillkürlich die Narbe über seinem Auge, als er wieder ihren Nasenverband betrachtete.
»Ich war in Dr. Dufners Büro. Er berichtete mir gerade über Ihren Besuch bei Franz Felgendreher, als der Mord geschah. Der Mörder hat Franz Felgendreher mit einem schwarzen Teerbrocken erschlagen. Bei der Verfolgung hat mir Ihr Herr Einstein eine Tür ins Gesicht geschlagen. Ich habe auf ihn geschossen, weiß aber leider nicht, ob ich ihn getroffen habe«, fasste sie die Geschehnisse des Nachmittags zusammen. Sie blickte auf die drei Männer und wusste noch immer nicht, wie weit sie Ihnen trauen konnte. Zumindest Peter Adams schien tief von der Schilderung ihrer Verfolgung des Mörders beeindruckt zu sein. Aber Frank Schönbeck schien sich nur langsam von ihrem Vorwurf, für einen Mord mitverantwortlich zu sein, zu erholen. Zumindest machten alle den Eindruck, als hätten sie schwer mit der Nachricht zu kämpfen, dass der Mann, den sie heute Nachmittag besucht hatten, kurz darauf ermordet worden war. Oder war da noch etwas anderes im Spiel?
»Einstein hat ihn mit einem schwarzen Teerbrocken erschlagen, sagen Sie?«, fragte Frank, dessen bleiche Gesichtsfarbe im hellen Lampenlicht deutlich zu erkennen war.
»Ja, richtig, er hat ihn mit einem Stein erschlagen. Professor Pfleiderer hat er mit einem roten Stein getötet, diesmal benutzte er einen alten Teerbrocken. Warum? Wissen Sie etwas darüber?«, fragte sie. Als keiner ihr antwortete, schlug sie mit der flachen Hand auf die Bettdecke.
»Warum frage ich überhaupt? Natürlich wissen Sie etwas darüber. Von Ihnen lasse ich mir nichts mehr vormachen.« Sie wollte gerade wieder den möglichen Haftbefehl erwähnen, überlegte es sich dann aber anders. Sie griff in die Tasche ihres Regenmantels und holte eine durchsichtige Plastiktüte hervor, in der sich der Fetzen Papier befand, den sie beim toten Franz Felgendreher gefunden hatte.
»Sehen Sie sich das an«, sagte sie und hielt den Kartenrest hoch, auf dem nur noch ein kleiner Landumriss zu erkennen war.
»Das haben wir bei Franz Felgendreher gefunden. Sie dürften das Papier gut kennen. Es ist ein Rest der Karte, die der Mörder Franz Felgendreher abgenommen hat. Nach dem, was mir Dr. Dufner erzählt hat, scheint Felgendreher die Karte nur kurze Zeit vorher von Ihnen bekommen zu haben? Leider hat er sie nicht lange behalten können. So wie es gelaufen ist, hätten Sie die Karte wirklich gleich diesem Einstein übergeben können. Aber ich sage Ihnen jetzt eines.« Sie machte wieder eine Pause, um der Wichtigkeit der folgenden Worte Ausdruck zu verleihen. Zudem hatte sie bemerkt, dass sie Atemprobleme bekam, wenn sie länger sprach.
»Das Verfahren wegen Beweismittelunterdrückung kann ich Ihnen nicht ersparen. Ich könnte mir aber noch überlegen, ob ich tatsächlich ein Verfahren wegen Beihilfe zum Mord einleite. Ich würde davon absehen, wenn Sie mir jetzt alles über diese Karte erzählen, und ich meine wirklich alles. Das beinhaltet natürlich auch Ihr Wissen über die Mordwaffen, diese Steine und alles, was Sie von Franz Felgendreher heute Nachmittag erfahren haben.«
Es war Peter, der antwortete: »Natürlich werden wir Ihnen alles erzählen. Keiner von uns wusste, dass Einstein hinter Felgendreher her war. Wir wussten, dass er die Karte haben wollte, aber solange wir die sicher in unseren Händen hatten, haben wir uns keine Sorgen gemacht. Wir hatten lediglich vor, mit der Hilfe von Ken McCully das Geheimnis der Schatzkarte zu entschlüsseln. Leider konnte Ken uns von London aus nicht so einfach helfen. Deshalb der Besuch bei Franz Felgendreher. Wir wollten nur ein paar Informationen von ihm.«
»Und, haben Sie die bekommen? Was hat er Ihnen gesagt?«, unterbrach ihn Frau Keller.
»Er hat uns einiges erzählt, aber er leidet an Schizophrenie, wie Ihnen Hr. Dr. Dufner wahrscheinlich schon erzählt hat. Es war wirklich nicht einfach zu verstehen, was er uns da mitteilen wollte. Im Grunde genommen war er total verwirrt«, antwortete Peter.
»Es ist vielleicht am besten, wenn wir uns die Karte zusammen ansehen, daran kann man es am besten erklären«, sagte Frank und konnte sich Kens und Peters Aufmerksamkeit sicher sein, als er aus der Zimmerecke die Papprolle hervorholte und nicht etwa Peter nach dem Schlüssel für den Kleiderschrank fragte.