28
Für weitere Nachforschungen blieb ihnen jedoch keine Zeit. Die Sonntagsruhe von Hampstead Heath wurde durch das Hupen des herbeigerufenen Taxis unterbrochen.
»Das Taxi ist da. Wir müssen aufbrechen«, sagte Ken McCully. Peter ging aus dem Haus, um dem Fahrer zu sagen, dass er sich noch ein paar Minuten würde gedulden müssen.
Dann trugen sie ihre notdürftig gepackten Rucksäcke und McCullys Reisetasche zum Eingang. Frank versuchte noch, aus einem herumstehenden Wäschekorb einen behelfsmäßigen Schutz für die eingeschlagene Fensterscheibe zu basteln, während der Professor schon wieder in seinem Bibliothekszimmer verschwunden war. Mit vier Büchern in der Hand kam er wieder heraus und bemerkte Franks unbeholfene Bemühungen im Wäschezimmer.
»Lassen Sie das sein, Frank. Ich werde von unterwegs meinen Gärtner anrufen. Der sieht regelmäßig im Haus nach dem Rechten, wenn ich verreist bin. Er wird sich auch um das zerbrochene Glas kümmern.«
Dann packte er die vier Lexika und Geschichtsbücher über das frühe 20. Jahrhundert, wie Frank durch einen neugierigen Blick auf die Buchtitel feststellte, in seine Reisetasche, und sie verließen McCullys Haus.
Wieder saß Frank in einem der klassischen Londoner Taxis.
Diesmal stimmte sogar die Farbe, denn es war einfach nur klassisch schwarz. Peter sah ihn von der Seite an, und man konnte seinem Grinsen ansehen, dass auch er an Franks gestrige Taxifahrt und Tracys wundersame Erzählung denken musste.
»Warum hast du denn nicht deine nette Taxifahrerin von gestern angerufen?«, fragte er neckend. »Wir hätten ihr doch mal die Namen Einstein und Marie Curie als Stichworte geben können, bestimmt hätten wir dann erfahren, ob die beiden mal miteinander Fußball gespielt haben.«
Peter konnte nicht an sich halten und dachte sich immer neue stichelnde Bemerkungen und möglichst unsinnige Stichworte aus. In Professor McCully, dem er die ganze Geschichte noch mal erzählen konnte, fand Peter auch den dankbaren Zuhörer, den er sich schon am Abend zuvor für seine Späße gewünscht hatte. Einen Großteil der einstündigen Taxifahrt verbrachte Peter also mit einer ausgiebigen Schilderung der Atlantiküberquerung der Boca Juniors im Jahre 1912, wobei er mit großem Vergnügen zwischendurch bei Frank immer wieder nach Einzelheiten nachbohrte. Auf Peters Drängen hin erinnerte sich Frank dann nach und nach an jedes Detail der Geschichte, und Professor McCully zeigte sich höchst amüsiert. Er würzte ihre Unterhaltung mit zahlreichen Bemerkungen darüber, dass die Welt heutzutage so kompliziert geworden sei, dass man sogar aufpassen müsse, in welches Taxi man einsteige, und mit einer Vermutung über die Folgen von Farbenblindheit für die Geschäftsaussichten der Firma Quiz-Cabs-Service. Frank, auf dessen Kosten ein Großteil der Bemerkungen seiner Mitfahrer ging, ertrug den Spott mit Fassung. Da der Londoner Stadtverkehr am frühen Sonntagnachmittag so gering war wie vermutlich zu keiner anderen Zeit in der Woche, erreichten sie das Terminal 1 am Flughafen Heathrow mehr als rechtzeitig. Wegen des bevorstehenden Kurztrips, den sie alle drei mit einer gewissen Berechtigung als wissenschaftliche Forschungsreise verkaufen zu können meinten, waren sie in aufgekratzter Stimmung.
Während der Taxifahrt hatte Hauptkommissarin Christine Keller mehrmals versucht, Frank auf dem Handy zu erreichen. Doch der ließ es nicht mehr zu einem Gespräch kommen, hatten sie doch jetzt eine Linie eingeschlagen, von der sie nicht mehr abweichen konnten. Zudem gab es noch einige andere Gründe, sich nicht auf weitere Diskussionen mit Christine Keller einzulassen. Einmal hatte Peter ihr bereits heute Morgen mitgeteilt, dass sie sich überhaupt nicht weigerten, ihr die Karte zu geben. Sie seien eben nur leider im Moment verhindert. Dieses Argument allein war zwar nicht besonders überzeugend, wog aber im Zusammenhang mit dem Unvermögen der Polizeibeamten – denn das unterstellten sie ihnen weiterhin –, das Mysterium der alten Seekarte zu lösen, umso schwerer. Frau Keller hatte sich bei der gestrigen Befragung zwar als äußerst clever erwiesen, trotzdem bezweifelten sie sehr, dass die Hamburger Kommissarin oder ihre Kollegen in der Lage sein würden, die historischen Hintergründe herauszuarbeiten, die sich hinter den Motiven Einsteins für den Mord an Pfleiderer verbergen mussten.
Es waren nicht besonders viele Mitreisende, die am Sonntagnachmittag für den Flug nach Basel eincheckten, sodass sie bald in Richtung Gate liefen, um die Passkontrolle zu passieren und auf den Flug zu warten. Frank und Peter trugen die langen Pappröhren bei sich; in einer von ihnen befand sich die alte Seekarte. Da der Trick mit den beiden gleichen Röhren gut funktioniert hatte, hatten sie beschlossen, das Spielchen als reine Vorsichtsmaßnahme noch ein bisschen länger zu betreiben. Dann und wann tauschten sie die Röhren untereinander, doch immer trug je einer eine in der Hand, sodass sie sofort reagieren konnten, sollte Einstein, die Polizei oder irgendein anderer Verfolger unvermutet auftauchen.
Professor McCully hatte eines seiner Bücher aus seiner Tasche herausgenommen. Ohne sonderlich auf seine Begleiter zu achten, beschäftigte er sich mit der Geschichte der Titanic und ihrer Wiederentdeckung. Mit dem aufgeschlagenen Buch in der einen und seinem aufgeschlagenen Reisepass in der anderen Hand spazierte er lesend durch die Passkontrolle, während Frank und Peter zurückblieben. Sie hatten sich angesichts der Wartezeit, noch immer mehr als eine Dreiviertelstunde, entschlossen, in einem der Restaurants in der Abfertigungshalle noch einen Kaffee zu trinken. Sie unterhielten sich gerade angeregt darüber, welche Auskünfte ihnen der geheimnisvolle Franz Felgendreher in Bern wohl geben könnte, als mehrere Dinge gleichzeitig passierten.
Vor der Halle, am etwa vierzig Meter entfernten Taxistand, fuhr plötzlich ein orangefarbenes Taxi mit der auf der Fahrertür aufgedruckten Aufschrift Quiz-Cabs und den Ziffern 1 : 5 vor. Das Taxi hielt an, dann stieg der Fahrgast aus, eine Frau, die schon von Weitem äußerst attraktiv wirkte. Mit einer geschmeidigen Kopfbewegung hatte sie gerade ihre rotfarbene Haarlockenpracht ausgeschüttelt, dann hob sie ihren Reisekoffer vom Rücksitz des Taxis und schlug die Tür zu.
Als Frank und Peter an einem der vielen Hallenausgänge vorbeischlenderten, hatte Frank das haltende Taxi bereits bemerkt und hielt gespannt Ausschau, ob es sich bei der Fahrerin um Tracy handelte. Erst als das Taxi wieder anfuhr, erblickte er die kurz geschnittenen schwarzen Haare unter ihrer schief sitzenden hellblauen Baseballkappe.
»Tracy, warte!«, rief er laut und machte Anstalten, auf den Taxistand zu- und, wer konnte das wissen, hinter dem abfahrenden Taxi herzulaufen. Nun sah auch Peter auf und erfasste mit einem Blick die Situation.
Die rothaarig gelockte, attraktive Frau, die gerade ihren Trolley auf die Rollen gesetzt hatte und sich nun auf sie zubewegte, war die Frau, die ihn am vorigen Freitagabend im Black Pirates Inn scherzend darum gebeten hatte, sie Marie Curie zu nennen.
Mit einem Sprung war Peter neben Frank, ergriff seinen Arm und riss ihn zu sich heran.
»Halt, nicht!«, raunte er seinem Freund zu.
Der fuhr völlig überrascht herum und wollte sich losreißen.
»Was soll das? Lass mich los, das ist Tracy!«
Peter krallte ihm verzweifelt die Finger in den Oberarm und bemerkte, dass Gloria McGinnis gespannt zu ihnen herüberblickte. Die beiden über eins neunzig großen jungen Männer mit den langen, blonden Haaren, von denen einer den anderen am Arm gepackt hielt, während der andere versuchte, sich loszureißen, waren ja kaum zu übersehen.
Für Gloria McGinnis war der Anblick der beiden jedoch ein spontaner und gänzlich unerwarteter Glücksfall, hatte sie doch sofort die zwei Hartpapprollen in den Händen der beiden erkannt, die nur eines enthalten konnten: die sehnlichst benötigte Karte Neuschottlands. Sofort beschleunigte sie ihren Schritt, und der Trolley hinter ihr geriet in erste Schwierigkeiten.
»Bleib hier, Frank, das ist die Frau von Einstein, Marie Curie!«, schrie Peter, wobei ihm in diesem Augenblick nicht bewusst war, was er da gerade durch die Gegend brüllte. Andernfalls wäre er sicher froh gewesen, dass sich gerade niemand in Hörweite befand, denn selbst die an seltsame Gestalten gewöhnten Engländer hätten sich doch schwer über seine Worte gewundert.
War bis jetzt Franks Wahrnehmung in einer Art Tunnelblick auf das sich weiter und weiter entfernende Taxi gerichtet gewesen, registrierte er nun blitzartig die auf sie zulaufende Frau mit wehendem roten Haar. Sie wurde nur von dem Trolley, den sie hinter sich herzog und der nicht für solche Geschwindigkeiten geeignet war, aufgehalten. Schlagartig vergaß Frank Tracy, und er bewegte sich endlich Richtung Flughafenhalle.
»Halt, bleibt doch stehen!«, hörte er Marie Curie rufen. Und dann: »Wir können euch einen Haufen Geld für die Karte zahlen!«
Doch davon wollten die beiden nichts hören, in Riesensätzen liefen sie durch die Abflughalle. Sie steuerten auf das Gate zu, über dem die Anzeige Basel und die dazugehörige Abflugzeit schon angegeben waren. Da bereits alle Passagiere durch die Passkontrolle gegangen waren, präsentierten sie, ohne in einer Schlange warten zu müssen, dem wartenden Beamten ihre Pässe und die Tickets, die sie im Laufen aus ihren Rucksäcken gefingert hatten, und passierten ohne Schwierigkeiten die Kontrolle.
Nicht weit hinter ihnen rannte Gloria McGinnis, die sich jetzt allgemeiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, durch die Halle und schrie, mit ein paar Blättern Papier wedelnd, hinter ihnen her: »Warten Sie, Mr. Adams, Sie haben etwas vergessen, so warten Sie doch!«
Doch Frank und Peter waren mal wieder entwischt, und Gloria fand sich Auge in Auge mit dem freundlich lächelnden Zollbeamten vor der Passkontrolle wieder. Sie wusste genau, dass das Lächeln umso breiter werden würde, je ausgiebiger und dringlicher sie ihm ihr Anliegen schildern würde, sie unbedingt und nur ganz kurz ohne Flugticket durch die Passkontrolle zu lassen.
Die Zwecklosigkeit dieses Versuches vorausahnend, wandte sie sich einfach wortlos um. Die Wartenden in der Halle, die erkannten, dass nichts Spektakuläres mehr passieren würde, verloren daraufhin das Interesse und wandten sich ab. Einzig die männlichen Beobachter, die ihr blendendes Aussehen registriert hatten und denen kaum etwas Besseres geboten werden konnte, schauten ihr noch bewundernd hinterher. Sie bekamen mit, wie Gloria McGinnis den Schalter der British Airways ansteuerte.
»Entschuldigung, könnten Sie mir sagen, wohin diese beiden jungen Männer gereist sind? Ich habe einen von ihnen, Peter Adams, heute erst auf einem Seminar kennen gelernt. Dann sind wir zusammen mit dem Taxi hergefahren, und er hat diese Unterlagen im Taxi liegen gelassen. Ich glaube, sie sind ziemlich wichtig.« Sie deutete auf die Papiere, mit denen sie gerade Frank und Peter hinterhergewunken hatte: Internetausdrucke mit der Wettervorhersage für Ostkanada. »Ich weiß leider nicht genau, woher die beiden kommen. Ich glaube, sie sind Schweizer, aber ich weiß natürlich nicht aus welcher Stadt.«
Wie der Zollbeamte war auch die Dame von British Airways freundlich. Doch im Unterschied zu ihrem Kollegen hatte sie nichts dagegen einzuwenden, nachdem sie Peter Adams Flugdaten im Computer geprüft hatte, Gloria McGinnis die gewünschte Auskunft zu geben.
»Sie sind nach Basel gereist und fliegen dann mit der Crossair weiter nach Bern«, sagte sie bereitwillig.
»Ich danke Ihnen vielmals, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Und ohne einen Augenblick zu zögern, fügte sie hinzu: »Wo kann ich denn bitte für heute noch einen Flug nach Bern buchen?«
Jetzt war es ein ehrliches, fast schon verschwörerisches Lächeln, das sie von der Frau erhielt.
»Gleich dort drüben, am Ticketschalter«, sagte sie und deutete auf eine Schalterreihe auf der anderen Seite der Abflughalle. Gloria bedankte sich und durchquerte die Halle zum Schalter.
»Ich hätte gern ein Ticket für den nächsten Flug nach Basel und anschließend weiter nach Bern.«
»Es gibt für heute nur noch einen Flug nach Basel, auf den kann ich Sie aber gerne buchen. Einen Anschlussflug nach Bern können Sie heute leider nicht mehr erreichen. Dorthin könnten Sie erst morgen Weiterreisen, oder Sie nehmen die Bahn. Bern ist nicht allzu weit von Basel entfernt«, erhielt sie umfassend Auskunft.
»Gut«, sagte Gloria, »dann buche ich zunächst nur den Flug nach Basel. Das Ticket soll allerdings auf meinen Mann ausgestellt werden. Daniel McGuffin. Er ist kanadischer Staatsbürger. Meinen Sie, Sie könnten das Ticket hier für ihn am Schalter hinterlegen?«
»Natürlich, kein Problem.«
Lächelnd ging Gloria McGinnis ihren Trolley einsammeln, der ihr aber bereits von einem übereifrigen, höflichen Gentleman entgegengezogen wurde. Nachdem sie dessen schüchterne Einladung zu einer Tasse Tee mit einem bestimmten, dafür aber umso unendlicheren Dank abgelehnt hatte, verließ sie wieder das Flughafengebäude. Sie holte ihr Handy hervor und informierte Einstein über die neueste Entwicklung in Sachen der Karte. Alles in allem war sie mit dem Ablauf des Nachmittags nicht unzufrieden. Einstein musste sich schon auf dem Weg zum Flughafen befinden, und sie hatten die Spur der Karte nicht verloren. Zudem hielt sie es für unmöglich, dass die beiden Männer ihr Angebot, viel Geld für die Karte zu zahlen, nicht bald in Erwägung ziehen würden. Das hatten bis jetzt alle getan, die der Zauber der alten Seekarte und die Aussicht auf schnellen Reichtum in ihren Bann geschlagen hatten, und sie rechnete auch in diesem Fall fest mit einer ähnlichen Reaktion.
Gloria McGinnis zog fester an ihrem jetzt bedenklich rumpelnden Trolley und wartete an der Haltestelle für den Flughafenbus zum Terminal 4, von wo aus sie noch am selben Abend ihren Heimflug nach Montreal antreten würde.