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Die Bahnstation Hampstead fügte sich nahtlos in die Reihe der eng aneinandergefügten und akribisch gepflegten Häuser Hampsteads ein. Die georgianische Architektur des Stadtteils war vollständig erhalten geblieben, und die wohlhabenden Bürger achteten darauf, dass sich keine modernen Stilelemente in den rötlichen Backstein und die fein gezeichneten weißen Fensterkreuze mogelten. Die Gebäude neu errichteter Filialen von Buch- und Supermarktketten hatten sich ausnahmslos den strengsten Auflagen des Denkmalschutzes unterworfen, andernfalls wären sie nicht geduldet worden. Selbst für die weltgrößte Fastfood-Kette gab es keine Ausnahme, sodass die geschwungenen Bögen des goldenen M hinter dem gleichmäßig gedämpften Licht der gusseisernen Straßenlaternen fast unsichtbar waren. Hampstead war ein Stadtteil, in den man zog, wenn man keine finanziellen Sorgen hatte und vor den Toren der Stadt wohnen wollte. Wenn man dann noch auf sie hinuntersehen wollte, zog man in die Nähe des weitläufigen, auf einem Hügel angelegten Parks Hampstead Heath.
Obwohl schon vor langer Zeit die unaufhaltsam wachsende Großstadt das ehemalige Dorf Hampstead in sich aufgesogen hatte, zogen die Empfänger höherer Einkommen weiterhin hierher und ließen sich in einem der kleinen heiß begehrten Häuschen in der Nähe des grünen Hügels nieder.
Kein Wunder, dass unter den zahlreichen akademischen Größen der Bewohner auch Kenneth McCully, Professor für Geophysik an der Londoner Universität zu finden war. Für Frank und Peter war er an diesem Abend der letzte Hoffnungsschimmer auf ihrer Jagd, das Rätsel der Neuschottlandkarte doch noch zu lösen.
Erleichtert und mit schwindender Verfolgungsangst ließ Frank den Fahrstuhl links liegen und eilte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die steile Treppe zum U-Bahn-Ausgang empor. Er trat hinaus und atmete tief die klare vormitternächtliche Londoner Novemberluft ein. Am Ende des Tages präsentierte sich die Stadt von ihrer schönsten Seite. Der Regen hatte aufgehört, und Frank fühlte sich beim Anblick des zu seinen Füßen liegenden Dorfes in eine längst vergangene Zeit des vorindustriellen London zurückversetzt.
Er ging die wenigen Meter bis zur Straßenecke und steckte die Papprolle, die er immer noch fest umklammert in der rechten Hand hielt, mit einer weit ausholenden Bewegung von oben in seinen Rucksack, ohne ihn abzusetzen. Auf das verabredete Zeichen hin trat Peter auf der anderen Straßenseite hinter einem längst geschlossenen Zeitungskiosk hervor.
Auch er war noch im Besitz seiner Papprolle, was für die beiden ungleich wichtiger war, da sich in Peters Rolle die Karte befand. Die erfolgreiche Flucht, die Frank Peter detailliert schilderte, während beide von der Hauptstraße Heath Street schnellstens in eine kleine Nebenstraße abbogen, hatte die Karte noch wichtiger werden lassen. Freiwillig würden sie die Karte nicht mehr hergeben, bevor sie nicht das in ihr verborgene Rätsel gelöst hatten. So viel war sicher.
Die Arglosigkeit ihrer Bewegungen, wie Einstein sie beobachtet hatte, war verschwunden. Peter hielt die Papprolle unter seinen vor der Brust verschränkten Armen umklammert, während sie in immer kleinere Gassen abbogen, die sich in Richtung Hampstead Heath hinaufschlängelten.
»McCully wohnt fast direkt am Park. Ziemlich noble Gegend«, erklärte Peter. »Hier wohnen fast nur Professoren und Leute, die sich so was leisten können. Ist alles ein bisschen altmodisch, aber einige Ecken sind wirklich schön.«
Frank hatte sich noch zwei Mal umgesehen, fühlte sich aber mit zunehmender Entfernung von der U-Bahn-Station Hampstead in der schwach beleuchteten Umgebung immer sicherer. Einstein hatte wahrscheinlich die nächste, zehn Minuten später nachfolgende U-Bahn genommen. Wäre er dann aus purem Zufall ausgerechnet an der Station Hampstead ausgestiegen, so war es trotzdem fast ausgeschlossen, dass er ihnen auf der verwinkelten Wegstrecke folgen würde.
Nur wenige Bewohner verließen zu dieser späten Stunde noch ihre Häuser, meistens, um mit ihrem Hund Gassi zu gehen.
An einer kleinen Kirche bogen Frank und Peter nach links ab. Am Ende der kurzen Gasse, die links am Friedhof der Kirche vorbeiführte, blies der Wind durch laublose Äste. Die Bäume des Stadtparks wurden an der Oberseite von dem orange abstrahlenden Schimmer, der sich über London ausbreitete, angeleuchtet. Die Mauer des Friedhofes endete an einem schmiedeeisernen Gitter, das das letzte allein stehende Haus in der Gasse von der rechts abbiegenden Straße abtrennte. Die Straße führte vom Haus weg und folgte der unregelmäßig verlaufenden Parkgrenze.
»Hier ist es«, sagte Peter.
»Ganz schön abgelegen«, stellte Frank fest.
Peter blickte die Gasse hinunter, die sie gekommen waren, und sah, das Frank Recht hatte. Bei den paar Besuchen, die er bisher dem Professor abgestattet hatte, war es ihm nicht aufgefallen, dass das Haus praktisch keine Nachbarn hatte. Es grenzte mit einer Seite direkt an den Friedhof und war, abgesehen von der zur Straße gewandten Frontseite, nur vom Park umgeben. Peter öffnete die Gittertür, und sie stiegen die Eingangstreppe hinauf. Zwei Fenster an der rechten, den Parkbäumen zugewandten Seite des Erdgeschosses waren erleuchtet. Über den Vorhängen, die nur den unteren Teil der Fenster bedeckten, konnte Frank die wie erwartet bis zur Decke reichenden Bücherregale erkennen.
Beim Anblick der Backsteinfassade des Gebäudes mit seinen weit ausladenden Erkern und tief eingeschnittenen Nischen, einsam vor den finsteren, kahlen Parkbäumen thronend, rechnete Frank fest damit, dass sie mit einem schweren Türklopfer aus altem Eisen gegen eine dicke Eichenholztür klopfen müssten. Ein schlurfenden Schrittes erscheinender Diener mit einem wachsüberzogenen Kandelaber in der Hand würde daraufhin öffnen und sich nach dem Anlass ihres Besuches erkundigen. Doch nichts dergleichen geschah. Es gab eine Türklingel mit einer modernen Sprechanlage, und der Professor öffnete selbst die Tür. Das Einzige, was Franks Erwartung etwa entsprach, war dessen leicht gebückte Körperhaltung, die bei dem um die eins achtzig großen Mann aber nicht weiter ins Gewicht fiel. Ansonsten machte dieser einen drahtigen und zähen Eindruck, als er mit raschen Bewegungen die drei Türen bis zu seinem Bibliothekszimmer, wie er es tatsächlich nannte, öffnete und wieder schloss. Prof. Dr. Kenneth McCully war nach Franks Schätzung etwas mehr als sechzig Jahre alt. Auf seinem Kopf waren einige wenige graue Haare in der Form eines kreisrunden Haarkranzes verblieben. Er trug eine Brille, die er offenbar nur zum Lesen brauchte, denn er setzte sie zur Begrüßung seiner späten Gäste sofort ab. Die ausgeprägten Krähenfüße ließen vermuten, dass ihm sein freundliches Lächeln, mit dem er Frank und Peter begrüßte, im Leben immer leicht gefallen war. Das einzig wenig Professorale an seiner Erscheinung war eine nicht zu übersehende, fünf Zentimeter lange Narbe, die sich von seiner linken Augenbraue bis zur Schläfe hinunterzog.
»Peter, es freut mich sehr, dass Sie die Umstände des weiten Weges noch auf sich genommen haben. Und umso schöner, dass Sie Ihren Freund mitgebracht haben. So können wir gleich drei kluge Köpfe auf unsere Denksportaufgabe ansetzen. Denn das ist es doch, was Sie so spät noch zu mir führt, nicht wahr? Sie müssen Frank sein.«
»Genau. Guten Abend, Professor McCully. Und vielen Dank, dass Sie uns so spät noch empfangen. Ich hoffe, dass es für Sie nicht zu spät geworden ist?«
»O nein, keinesfalls, und nennen Sie mich bitte Ken. So sparen Sie sich die Formalitäten, und ich spare mir die Anstrengung, einen deutschen Nachnamen fehlerlos aussprechen zu müssen. Bitte, nehmen Sie doch Platz, möchten Sie etwas trinken?«