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44° 20’ 12 N – 65° 55’ 48 W
lauteten die Koordinaten der Stelle, an der der Schatz von Wavy Island vergraben sein sollte. Eine Ladung mit sechzig Tonnen Silber von der spanischen Fregatte Santa Cartagena, die einem Hurrikan vor der Ostküste Floridas entkommen war, Anno Domini 1715. Gestrandet, von Piraten gekapert oder von den Siedlern Nova Scotias versenkt und seitdem im Inneren der Insel verborgen und nie mehr wiedergefunden.
zu Jolly Rogers Banner Ruhme
vergraben durch der Siedler Ahnen
behütet durch der Stürme Fluten
und der Totenruhe Ehren verborgen
liegt Pecunias stolzeste Fregatte
Die Übersetzung einer kaum zu entziffernden gälischen Urschrift auf einer Schatzkarte, die ihnen im Tausch überlassen worden war vom Sohn des seltsamen Gelehrten Georg Felgendreher, der Albert Einstein die Relativitätstheorie hatte streitig machen wollen. Und sein Sohn war wegen der Karte, die jetzt auseinandergefaltet auf Peters Schoß lag, von einem Mann ermordet worden, der den Decknamen Einstein angenommen hatte. Und der, um allem die Krone aufzusetzen, Katjas Theorie zufolge mit seinen Morden die apokalyptische Prophezeiung aus der Offenbarung des Apostel Johannes ausführte.
Und was machte Peter Adams mit den Koordinaten?
Er gab sie ganz einfach als Wegpunkt in das Satellitennavigationssystem des Jeep Grand Cherokee ein.
Manchmal übertrieb Peter seinen Sinn fürs Praktische, aber in diesem Fall, das musste Frank zugeben, gab es keine andere Möglichkeit, um mit der Suche zu beginnen.
Exakt zu der eingegebenen Stelle würde sie der Navigator des Wagens allerdings nicht fuhren können, dazu war das System nicht genau genug. Für diesen Zweck hatte McCully noch ein GPS-Handgerät gekauft, und Frank trug noch immer das GPS-Handy von Michael bei sich. Wenn es so weit war, wollte er darauf zurückgreifen und in Hamburg anrufen. Mit Hilfe von Michael und seinem Heimcomputer hoffte er, die Grabungsstelle auf den Meter, wenn nicht sogar auf den Zentimeter, genau orten zu können.
Eine Fahrt wie die über den Verbindungsdamm nach Wavy Island hatten zumindest Frank und Peter noch nicht erlebt. Kenneth McCully war schon einmal mit einer Besuchergruppe auf der Insel gewesen und wusste, dass nur eine behelfsmäßige Fahrbahn über den Damm führte. Rumpelnd und ruckelnd erkämpften sich die Räder den Weg, als würden sie sich selbst auf unsichtbaren Ketten voranziehen. Das schneidende Laserlicht der Vorder- und Rückstrahler des Jeeps sprang zwischen dem Schlick in der Bucht und dem grob zementierten Fels unter ihnen hin und her. Darüber hing das fahle Licht der Morgendämmerung. Im Vergleich zu der Dammüberquerung war die Fahrt über die Insel unspektakulär. Schon nach fünfzehn Minuten blinkte auf dem Navigationssystem ein Zeichen auf und zeigte das Erreichen des eingegebenen Zielpunktes an. Wege gab es keine auf Wavy Island. Die Insel bestand zum größten Teil aus Felsgeröll, das sich zu einzelnen Hügeln auftürmte, von ein paar grün bewachsenen Flecken abgesehen. Die Insel war eine Mischung aus einer Kraterlandschaft auf dem Mond und einer mit Unkraut bewachsenen Abraumhalde. Der Jeep kletterte eine höchstens zehn Meter hohe, nicht mal besonders steile Böschung hinauf, und dann befanden sie sich am Rand eines kreisförmigen Plateaus. Vor ihnen erkannten sie eine Ansammlung von noch mehr Geröll und Schutt. Erst nach dem Aussteigen sahen sie im Lichtstrahl der Autoscheinwerfer, dass sich zwischen den Geröllhügeln eine Anzahl von quadratischen Löchern befand, die eindeutig nicht natürlichen Ursprungs waren. Es handelte sich um alte Grabungslöcher und Schächte, in denen das Wasser stand. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Eine dichte Nebelwand zog über die Insel. In der Dunkelheit auf dem Damm der Cruden Bay war davon noch nichts zu sehen gewesen. Dick eingemummt in Fleece-Pullovern und winddichte Funktionsjacken, luden sie ihre Ausrüstung aus dem Jeep. Es dauerte nur Minuten, bis sie ins Schwitzen kamen, während sie Leitern und Werkzeuge auf dem scharfen Gestein des Plateaurandes ablegten.
Es war schon halb acht, und langsam zeigten sich im feuchten Morgendunst die ersten schwachen Konturen der näheren Umgebung. Sie ließen die Scheinwerfer eingeschaltet. Nebelschwaden tauchten unter den Strahlen hindurch und hüllten sie hartnäckig ein, als ahnte die Insel den Angriff auf ihr Geheimnis. Sie beschlossen, das Tageslicht abzuwarten. Müde vom frühen Aufbruch saßen sie bei geöffneten Wagentüren, Becher mit heißem Tee in der Hand haltend da und schwiegen.
Als der Nebel sich lichtete, wurde es hell, aber das schwache Morgenlicht zeigte ihnen nur graues Steingeröll. Eine Zeitlang hielten sich die feuchten Schleier am Muldenrand vor ihnen, und Frank spürte, wie ihm ein Gemisch aus Schweiß und kondensierter Feuchtigkeit den Nacken hinablief. Er fröstelte. Dann unterbrach er das trostlose morgendliche Schweigen.
»Verzieht sich der Nebel ganz, oder bleibt er tagsüber auf der Insel hängen?«
McCully antwortete. »Schwer zu sagen, ich war im Hochsommer hier, von Nebel habe ich da nichts bemerkt.«
»Hauptsache, wir haben bei der Rückfahrt auf dem Damm freie Fahrt. Ich habe mich vorhin schon gefragt, was wir machen sollen, wenn uns jemand entgegenkommt«, sagte Peter.
»Auf, lasst uns anfangen«, unterbrach McCully Peters Gedankengang.
Sie kletterten aus dem Jeep. Kenneth McCully schaltete sein GPS-Gerät ein und Frank sein Handy. Er wählte Michaels Telefonnummer. In Hamburg war es früh am Mittwochnachmittag.
»Michael? Wir fangen an zu suchen. Du kannst jetzt loslegen. Sag Bescheid, wenn du mich auf dem Schirm hast.«
Statt einer Antwort hörte Frank das Klicken einer Computermaus. Es klang, als betätigte Michael eine Morsetaste, so schnell flitzte er durch die Programme. Dann hörte er wieder, wie sich Michael im Hintergrund mit jemandem unterhielt. Frank hatte sich schon fast daran gewöhnt, dass es Katja war.
»Du kannst jetzt losgehen, aber bitte langsam, nicht zu schnell, und geh gleichmäßig. Das Programm läuft, und ich habe dich auf dem Schirm. Ich habe Geocentralix auch auf Katjas Notebook installiert, sie ist dir also auch auf der Spur«, sagte Michael.
Geocentralix hieß also die Software, die die Signale von Franks Handy in die Ziffernreihenfolge der GPS-Koordinaten umwandelte. Wie das Programm genau arbeitete, hatte Michael ihm zwar erklärt, aber er konnte sich kaum an die komplizierten technischen Einzelheiten erinnern. Frank starrte auf das Display von Michaels Handy und konnte nur einen unverständlichen Strichcode erkennen, ähnlich dem Warencode an der Supermarktkasse. Die Striche wanderten von links nach rechts über das Display, mal schneller, mal langsamer, je nachdem, wie schnell er sich selbst über das Felsplateau bewegte. Zur Feststellung seiner Position benutzte Geocentralix die Zellinformation des Mobilfunks auf GSM-Basis und das satellitengestützte Global Positioning System. Um in den zentimetergenauen Auflösungsbereich der Positionierung zu gelangen, verwendete Michaels Rechner einander überlagernde Triangulationen mit einer extrem hohen Vernetzung. Innerhalb von Gebäuden funktionierte das noch nicht, weil die erforderliche Auflösung nicht erreicht werden konnte, aber im Freien gab es keine Probleme, wenn man die richtige Software besaß, und die hatte Michael natürlich.
Würde alles bald technischer Standard sein, hatte Michael ihm erklärt, aber noch handelte es sich um den Prototyp eines mobilen Ad-Hoc-Netzwerks. Die Impulse seines Handys wanderten über die Telefonleitung in Hamburg, und Geocentralix machte daraus eine verständliche Ortsangabe mit einer sekundengenauen Bestimmung von Längen- und Breitengrad. Die Positionsangabe war zentimetergenau. Und es funktionierte. Kenneth McCully war mit seinem nagelneuen GPS-Gerät bereits ein paar Schritte hinter ihm ratlos stehen geblieben und begann, aufgrund der verzerrten Angaben seines Geräts, im Kreis zu laufen. Aber mit Hilfe von Michaels Equipment waren sie sämtlichen Schatzsuchern der Vergangenheit um Lichtjahre voraus.
»44° 20’ 50 N – 65° 55’ 04 W, etwas mehr nach Südosten«, kommandierte Michael. Frank gehorchte und folgte dem Schein seiner Stirnlampe in die angegebene Richtung.
Seine Schritte glichen einem Balanceakt. Wie auf einem verschneiten Gletscherfeld kämpfte er sich ohne Sicherung auf den schmalen Brücken und Dämmen, die die alten Grabungslöcher voneinander abgrenzten, Schritt für Schritt voran. Neben ihm öffneten sich die Löcher, teilweise waren sie bis zum Rand mit Wasser angefüllt, teilweise schien nur der Boden tief unten mit Pfützen bedeckt zu sein. Diejenigen Schächte, bei denen man auf den Grund sehen konnte, waren fünf, sechs Meter tief, schätzte Frank. Der obere Rand, auf dem er sich vorwärtstastete, war etwa genauso lang. Es schien, als bewege er sich auf dem Grundriss einer prähistorischen Ausgrabungsstätte mit würfelartigen Ausschachtungen. Schon meinte er, aus dem Morgendunst das andere Inselufer auftauchen zu sehen. Er hatte fast den gegenüberliegenden Muldenrand erreicht, als er Michaels Stimme hörte.
»44° 20’ 20 N – 65’ 55“ 40 W, du bist gleich da, noch drei oder vier Meter.«
Das vorletzte Loch im Innenbereich des Plateaus, nicht mehr weit entfernt von der Fundy Bay, entsprach der Koordinatenangabe auf der Schatzkarte.
»Das war’s. Perfekte Arbeit, Micha.« Frank versprach, sich spätestens in zwei Stunden wiederzumelden, egal ob sie dann etwas gefunden hatten oder nicht.
Peter schleppte auf der Umrandung des Plateaus die erste Leiter heran, und Frank warf einen genaueren Blick in den Schacht. Wie nicht anders zu erwarten, stand darin das Wasser. Peter stieß zu ihm, ließ die Leiter in den Schacht gleiten und stemmte die untere Kante mit aller Kraft gegen den Schachtboden. Sie hatten Glück. Das brackige Wasser reichte nicht weiter als bis zur zweiten Trittstufe der Leiter. Die paar Liter Wasser würden ihre Pumpen in weniger als einer halben Stunde geschafft haben. Der Schacht, an dem sie fieberhaft zu arbeiten begannen, unterschied sich in nichts von den umliegenden. Für ihre Vorgänger auf der Suche nach dem Schatz von Wavy Island war dieser Schacht nur ein weiteres Loch von vielen anderen gewesen, die sie gegraben und unverrichteter Dinge zurückgelassen hatten. Doch für Peter, Frank und Kenneth McCully war es der einzige Versuch. Entweder sie hatten sofort Erfolg, oder sie würden umkehren.
Schwitzend und keuchend schleppten sie ihre Ausrüstung heran. Kenneth McCully arbeitete trotz seines Alters am eifrigsten. Während er nach Atem rang, gab er Kommandos und Anweisungen, die Peter und Frank gehorsam ausführten. Sie hatten eine schweigende Übereinkunft getroffen. Sie würden Professor Kenneth McCully, dem Experten der Schatzlegende, die Organisation überlassen und, falls es dazu kam, auch den Vortritt beim letzten Spatenstich.
Sofort nach dem Abpumpen des Wassers stießen sie auf eine dicke Holzbohle.
»Es ist wie am Anfang, als alles begonnen hat«, murmelte McCully. Der Fischer, der im Jahr 1795 auf Wavy Island strandete, war bei der ersten Grabung mit seinen Freunden auf eine Schicht aus Eichenholzbohlen gestoßen.
»Ist auch überliefert, wie sie die Bohlen weggeräumt haben?«, fragte Peter.
»Natürlich nicht«, sagte McCully unwirsch, als er, auf dem Boden des Schachtes kniend, das Holz ableuchtete, »wir müssen sie wegstemmen. Holt die Spitzhacken und die Brecheisen.«
Frank und Peter stiegen die Leiter hinauf und schleppten das restliche Werkzeug heran. Es war hell geworden, ohne dass sie es während ihrer Arbeit am Schachtboden mitbekommen hatten. Wavy Island war wahrhaftig keine landschaftliche Schönheit. Der Großteil der Insel bestand aus kahlen Steinhügeln, die nicht anders aussahen als die Grabungsstelle selbst. McCully hatte nicht übertrieben. Die Insel war durch die Grabungen völlig zerlöchert. Das verstreute Felsgestein sammelte sich auf Halden, die in unregelmäßigen Abständen bis zum Ufer die Aussicht auf den Ozean versperrten. Die Cruden Bay mit ihren kurzen Sandstränden war im Gegensatz zu Wavy Island fast schon eine Attraktion. Dort gab es wenigstens spärlichen Baumbewuchs, ein paar kleine windschiefe Kiefern, und in Richtung des Meeres ein wenig Grün, das von dem bisschen Gras und Moos auf den höher gelegenen Klippen herrührte. Wo Wavy Island im Ebbeschlick der Fundy Bay versank, schimmerte es weiß vom Salz der Marschen. Möwengeschrei klang zu ihnen herüber, dazwischen ein entferntes Motorengeräusch. Frank vermutete ein Motorboot und blickte auf. Dann sah er die dunkelbraune verlassene Schlickebene in der Bucht, die sich bis zum Horizont erstreckte. Ein Boot konnte es also nicht gewesen sein, ein weit entferntes Flugzeug dagegen schon.
Gegen zehn Uhr hatten sich Morgendunst und Nebel endgültig verzogen. Vereinzelt brach die Sonne durch die Wolken, und dort, wo sie es schaffte, malte sie helle Flecken auf den Morast. Der Nebel würde wohl nicht zurückkommen, aber mit einem schönen Sonnentag konnten sie auch nicht rechnen. Am nördlichen Himmel über dem Festland von Nova Scotia waren Regenwolken zu sehen.
Franks Skepsis war beim Anblick der gewaltigen Meeresbucht mit dem in der Ferne nur zu erahnenden nordamerikanischen Kontinent wie weggeblasen.
Es war, als hätte sich der letzte Vorhang zu einer Vorstellung geöffnet, in der sie selbst die Hauptdarsteller waren. Der überwältigende Eindruck der Landschaft und ihr simples Vorgehen, mit Schaufeln und Spaten auf Schatzsuche zu gehen, schien ein Scheitern unmöglich zu machen.