26
Frank bemerkte die beiden Augenpaare, die ihm über die Schulter sahen. Als er aufblickte, sah er Peter und Kenneth McCully genauso bestürzt wie er selbst.
Peter zuckte mit den Schultern und murmelte etwas wie: »Das war ’s dann wohl.«
Aber Frank wollte es genau wissen.
»Katja, hast du Pfleiderers Sekretärin gefragt, was die Adresse zu bedeuten hat? Heißt das, dass Franz Felgendreher als Patient dort im Krankenhaus ist, ich meine, in der Psychiatrie?«
»Ja, genau das heißt es«, sagte Katja in leicht genervtem Tonfall, als sie merkte, dass Frank noch immer nicht ans Aufgeben dachte.
»Sie hat mir auch einen Ansprechpartner genannt, den Direktor der Anstalt.« Sie verbesserte sich: »Nein, Anstalt sagt man wohl nicht mehr, aber der Mann heißt Dr. Friedrich Dufner, und wenn man mit Felgendreher telefonieren oder ihn besuchen möchte, muss man mit dem Direktor einen Termin vereinbaren. Eigentlich gibt es ganz normale Besuchszeiten. Aber Felgendreher sitzt in der geschlossenen Abteilung, und auch Professor Pfleiderer musste erst mit dem Direktor sprechen, bevor er Felgendreher sehen konnte. Mehr habe ich nicht für dich, ach ja, die Telefonnummer von diesem Dr. Dufner natürlich noch.«
Sie nannte Frank die Nummer.
»Du machst mir wirklich nicht den Eindruck, als würdest du aufgeben und zurückkommen wollen«, sagte Katja. »Frank, aber ich meine es ernst, sehr ernst. Wenn ihr die Karte nicht Frau Keller übergebt, werdet ihr selbst in größte Schwierigkeiten geraten.«
Frank wollte antworten, wurde aber durch eine plötzliche Unruhe um ihn herum abgelenkt. Peter blätterte emsig in seinem Notizbuch, während Professor McCully ein Telefonbuch von London aufgeschlagen hatte.
»Frank, was ist? Kannst du mir bitte sagen, was du jetzt vorhast?«, hörte er Katjas genervte Stimme am Telefon.
»Ich denke, wir werden heute versuchen, mit diesem Felgendreher zu telefonieren. Vielleicht ist er ja ansprechbar, und wir können was erfahren. Katja, du bist wirklich großartig. Wie du das herausbekommen hast, ist phänomenal. Grüß Micha noch einmal von uns. Vielleicht haben wir ja bald wieder was für ihn. Und sobald ich weiß, wann ich zurückkomme, melde ich mich sofort bei dir.«
Katja verabschiedete sich freundlich von ihm. Er kannte sie aber gut genug, um zu erkennen, dass ihr Ton immer unverbindlicher geworden war. Sie rechnete nicht mehr damit, dass er sein Vorhaben einfach aufgeben und die weitere Suche der Polizei überlassen würde. Und sie hatte damit Recht.
Die Geschäftigkeit um ihn herum hatte zugenommen. Peter schrieb etwas aus einem Notizbuch ab und hatte sein Handy bereitgelegt. Professor McCully hatte das Zimmer verlassen, während er mit Katja telefoniert hatte, und er hörte, wie er im Nebenraum telefonierte.
Frank las noch einmal die Adresse in seinem Notizbuch: Franz Felgendreher, Johanniter-Spital Bern, Psychiatrische Abteilung.
War das das Ende ihrer Jagd? Sollte alles daran scheitern, dass die einzige Person, die höchstwahrscheinlich das Geheimnis der Schatzkarte kannte, zu krank war, um ihnen Auskunft geben zu können? Konnte Felgendreher ihnen überhaupt bei der Suche helfen? Frank war hin- und hergerissen zwischen seinen Schuldgefühlen wegen Pfleiderers Tod, einer ständig zunehmenden abenteuerlichen Spannung und Katjas mahnender Stimme der Vernunft, die ihm riet, die Verfolgungsjagd der letzten Tage möglichst schnell zu beenden. Doch nach allem, was um ihn herum gerade geschah, schienen seine Grübeleien ohnehin überflüssig zu sein.
»Was machst du da?«, fragte er Peter.
»Ich sehe meinen Terminkalender durch, für morgen gibt es keine Probleme, bloß für Dienstag müsste ich eine Vertretung organisieren, aber das lässt sich regeln. Ich muss nur zwei Telefonate führen«, antwortete Peter und wollte gerade zum Handy greifen, als Professor McCully aus dem Nebenraum zurückkehrte.
»Mit wem haben Sie telefoniert, Ken?«, fragte ihn Frank.
»Mit British Airways. Ich habe drei Plätze für die Nachmittagsmaschine nach Basel gebucht. Nur mit den Anschlussflügen hat es eine Weile gedauert. Man kann zwar auch mit dem Zug von Basel nach Bern fahren, aber British Airways hat dann doch noch eine Flugverbindung gefunden. Wir nehmen einen Inlandsflug mit der Crossair. So können wir heute Abend schon in Bern sein. Wir suchen uns eine nette Schweizer Pension und machen dann einen gemütlichen Abendspaziergang durch die Altstadt. Dann können wir morgen früh schon im Johanniter-Spital sein, um mit Felgendreher zu reden.« Kenneth McCully war seine Zufriedenheit darüber anzusehen, dass seine kurzfristige Reiseorganisation so gut funktioniert hatte.
»Aber ich wollte doch morgen eigentlich nach Hamburg zurückfliegen«, wandte Frank wenig überzeugend ein. Keiner der beiden schien ihn zu hören. Dann dachte er an seine Diplomarbeit, und er realisierte, dass neben der menschlichen Tragik, die mit dem Tod von Professor Pfleiderer verbunden war, er zudem seinen Prüfer verloren hatte. Im Augenblick gab es niemanden, der seine Arbeit überhaupt lesen würde. Wie unwichtig, schoss es ihm aber gleich darauf durch den Kopf. Das war doch alles nebensächlich und konnte nicht ausschlaggebend für seine weiteren Pläne sein.
»Wie stellt ihr euch das vor?«, fragte er wesentlich lauter als eben zuvor. »Solche Flüge kosten Geld, womit soll ich so ein Abenteuer bezahlen?« Ihm war sein 15000-Euro-Kredit eingefallen, den er aufgenommen hatte, um alte Mietschulden bezahlen zu können. Doch die Entscheidung war längst gefallen. Die Jagd würde weitergehen.
Weder die merkwürdigen Gestalten, die ihnen auf den Fersen waren – nur der Teufel wusste, wer sich hinter den Decknamen Einstein und Marie Curie wirklich verbarg –, noch Frau Hauptkommissarin Keller würden sie daran hindern können, das geheimnisvolle Kartenrätsel zu lösen. Mit seinen Schulden konnte er sich nach seiner Rückkehr immer noch beschäftigen. Und Kenneth McCully kam ihm schon zu Hilfe.
»Machen Sie sich keine Gedanken über die Finanzierung unserer Reise. Selbstverständlich werde ich für die Kosten aufkommen. Erstens weiß ich, mit welch begrenzten Mitteln Studenten wie Sie heutzutage auskommen müssen, und zweitens scheue ich keine Ausgaben, um bei der Aufklärung des Mordes an meinem Kollegen zu helfen.«
McCully sah ihn so ernst und entschlossen an, wie Frank es dem freundlichen Mann nicht zugetraut hatte. Seine leicht gebückte Körperhaltung, die er gestern Abend bei ihrem Eintreten in sein Haus gezeigt hatte, war anscheinend wirklich nur auf die eintönige wissenschaftliche Routine zurückzuführen, mit der er sich tagein, tagaus beschäftigte. Bei den Worten, die Professor Kenneth McCully jetzt folgen ließ, straffte sich der gesamte Oberkörper des Professors merklich und vermittelte eine bemerkenswerte Durchsetzungsfähigkeit, die aus längst vergangenen Zeiten in seinen Körper zurückzukehren schien.
»Und das gilt nicht nur für die Reise in die Schweiz, sondern auch für alle weiteren Ausgaben, die noch auf uns zukommen werden. Wir werden das Rätsel der Karte lösen, verlassen Sie sich darauf. Und wir werden bis zum Ende zusammenarbeiten.«
Das klang fast wie ein Schwur. Verstohlen sah Frank an seiner Seite herunter, ob da vielleicht ein Schwert hing, das er ziehen und gegen die Decke des Bibliothekszimmers strecken konnte. Doch bevor er etwas dazu sagen konnte, meldete sich Peter zu Wort, der inzwischen ebenfalls seine Telefonate beendet hatte.
»Bravo, das ist genau die richtige Einstellung, was sagst du jetzt, Frank? Habe ich dir zu viel versprochen? Wenn uns jemand helfen kann, dann Professor McCully.« Peter lief mit einem Eifer durch das Zimmer, als wolle er gleich zu Fuß zum Flughafen durchstarten.
»Ich habe alles durchgecheckt und bis Dienstag meine Seminare umorganisiert. Damit haben wir achtundvierzig Stunden Zeit, also, worauf warten wir? Auf zum Flughafen!« McCullys kurzzeitige Ernsthaftigkeit war schon wieder verflogen, dafür war er von dem Projekt, das ihm überraschend über Nacht ins Haus geschneit war, viel zu begeistert. Angetrieben von unaufhaltsamer Unternehmungslust, die sie alle drei infiziert hatte, wollte McCully ins Obergeschoss eilen, um zu packen, als sie einmal mehr von Franks Mobiltelefon aufgehalten wurden. Stirnrunzelnd las Frank im Display den Namen, den er erst gestern Abend in das Telefonbuch des Handys eingegeben hatte: »Chr. Keller«.
»Frau Keller. Was soll ich ihr bloß sagen?«, fragte Frank. Peter reagierte sofort.
»Lass mich rangehen. Mir kann sie nicht drohen.«
»Peter Adams? Hallo?« Peter war die Freundlichkeit in Person.
»Guten Morgen, Mr. Adams, hier ist Christine Keller. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht?« Hauptkommissarin Keller hatte offenbar schon nach einem einzigen Tag in London die erste Lektion in britischer Höflichkeit gelernt.
»Ich möchte mich gerne mit Ihnen beiden wegen der Übergabe der Landkarte verabreden. Heute Nachmittag kommen einige Kollegen von Scotland Yard zur Spurensicherung in Ihre Wohnung. Wenn Sie sich dann einfinden könnten, bekommen Sie anschließend den Schlüssel zurück und können gleich mit dem Aufräumen beginnen. Die Karte bringen Sie am besten mit.«
»Das wird leider nicht gehen, Frau Keller, da einer der Professoren, den ich bisweilen unterstütze, heute Nachmittag eine Forschungsreise antritt. Ich werde ihn begleiten, und er hat zudem Frank Schönbeck darum gebeten mitzukommen. Nach unserer Rückkehr …«
Christine Keller wusste genau, was gespielt wurde.
»Lieber Mr. Adams, es kommt überhaupt nicht in Frage, dass Sie verreisen, ohne dass Sie mir die Karte übergeben haben. Die Karte ist ein wichtiges Beweisstück in einem Mordfall! Sie werden sich heute Nachmittag hier einfinden, und ich glaube, ich muss Ihnen das nicht noch einmal von den Kollegen vom Yard erklären lassen, oder doch?«
Peter holte tief Luft, bevor er antwortete.
»Liebe Frau Keller, Sie werden die Karte so schnell wie möglich bekommen, das verspreche ich Ihnen. Dann können wir sie uns gemeinsam bei einer Tasse Tee ansehen, aber ich bitte Sie jetzt vielmals um Entschuldigung dafür, dass ich unser Gespräch leider beenden muss.«
Peter legte auf, ohne die Proteste der Polizistin abzuwarten. Zu dritt ignorierten sie anschließend das sofort wieder einsetzende energische Klingeln von Franks Handy.
»Ich war doch höflich, oder?«, fragte Peter grinsend.
»Ich habe nicht gehört, dass Sie etwas Strafbares gesagt hätten«, stimmte Professor Kenneth McCully lächelnd zu.