Die zahllosen Wildbäche, die sich von den Höhen des Swainsdale in den Fluß stürzten, waren zu rauschenden Strömen angewachsen und schütteten das Regenwasser von den Highlands hinunter ins Tal. Unter den wärmenden Strahlen der Sonne stieg das Wasser aus den durchtränkten Böden der Talhänge und formte sich zu einem feinen Gespinst, zart wie Engelshaar. Die Farben strahlten wie frisch gewaschen, sattes Grün zog sich von der Straße hinauf zu den Höhen, und die Blütenköpfe des Heidekrauts, das die Bergspitzen säumte, leuchteten purpurrot durch den zarten Nebelschleier.
Penny, die soeben mit Jack Barker über die High Street schlenderte, bemerkte als erste die kleine Menschenansammlung auf der Brücke, unter der sich eine Vielzahl von tosenden Bächen zu einem reißenden Strom gefunden hatte, um sich in rauschenden Kaskaden talwärts in den Swain zu ergießen.
Eine Frau in einem ärmellosen gelben Kleid deutete nach oben auf den Hang, die anderen folgten ihrem Blick und beugten sich über die niedrige Steinbrüstung. Penny und Barker hatten die Gruppe bald erreicht und blieben stehen, um festzustellen, was es Aufregendes zu sehen gab. Die Stelle bot einen ungehinderten Blick auf den Talhang und den Lauf des Wildbachs, der sich an einer Reihe von blühenden Gärten entlangschlängelte und auf seinen schäumenden, tosenden Fluten einen Gegenstand mit sich führte, eine Art Stoffpuppe, die in einiger Entfernung auf den quirligen Wellen tanzte. Es hatte etwas seltsam Hypnotisches, fand Penny, auf dieses Ding zu starren, das da wie entfesselt auf und ab hüpfte, mit den Armen um sich schlug, sich an den Felsen verfing und von der reißenden Strömung wieder mitgerissen wurde bis zum nächsten Hindernis.
Plötzlich riß die Frau mit dem gelben Kleid den Mund auf und stieß einen erstickten Laut aus. Penny, deren Fernsicht noch nie besonders gut gewesen war, folgte dem Beispiel der übrigen, beugte sich noch ein Stück weiter vor und kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen, bis auch sie mit einemmal von der jähen Schockwelle erfaßt wurde, die die Umstehenden durchfuhr, und plötzlich erkannte, daß dieses Ding, das da unten Hals über Kopf durch die Wassermassen wirbelte, keine Puppe war, sondern die Trümmer eines menschlichen Körpers, der aussah wie ein Stück rohes Fleisch. Ein paar Kleiderfetzen klebten noch an den verrenkten Gliedern, die Haut war komplett abgetragen, der Kopf skalpiert. Aus den Ellbogen und Unterschenkeln ragten die Spitzen zersplitterter Knochen.
Es gab kein Gesicht mehr, das man hätte erkennen können, aber Penny und die übrigen Beobachter auf der Brücke wußten auch so, wem dieser verstümmelte Leib gehört hatte und daß Sally Lumb zurückgekehrt war an den Ort ihrer Geburt.
Penny wandte sich erschüttert ab, während Barker und die anderen immer noch fassungslos in den Fluß starrten. Einer der Umstehenden murmelte etwas von einem Krankenwagen, ein anderer rief nach der Polizei, bis sich die Gruppe in allgemeiner Verwirrung auflöste.
Auch Penny und Barker machten sich wie betäubt auf den Weg und standen plötzlich vor dem Hare and Hounds, wo sie einkehrten und zwei doppelte Scotch bestellten.
«Wohl 'n Gespenst gesehen, was?» fragte der Barkeeper.
«So was ähnliches», entgegnete Barker und berichtete, was passiert war. Im Nu waren alle Gäste aufgestanden, ließen Jacken, Handtaschen und Getränke im Stich und strömten nach draußen.
Auch der Barkeeper wollte sich das Schauspiel nicht entgehen lassen, spendierte den beiden noch einen doppelten Scotch und hastete hinaus, ohne sich darum zu kümmern, daß das Lokal nun leer stand und jeder sich gratis bedienen oder das gesamte Inventar wegschleppen konnte. Aber niemand machte von dieser verlockenden Möglichkeit Gebrauch.
«Dieser Scheißkerl», schimpfte Gristhorpe und rieb sich die Augen, die einiges von ihrem kindlich-unschuldigen Ausdruck verloren hatten. «Das ist ein Sadist, Alan...»
Die Mittagszeit im Queen 's Arms, gegenüber dem Präsidium, war längst vorbei, und das Lokal hatte sich bereits merklich geleert, bis auf ein paar unentwegte Trinker und eine Handvoll Touristen, die noch eben auf ein schnelles Sandwich und ein Bier eingekehrt waren.
«Wir wissen noch nichts», erklärte der Superintendent mit einem vielsagenden Naserümpfen, als sich Banks eine Zigarette ansteckte. «Ihr Körper war derart zugerichtet und mit Wasser vollgesogen, daß Glendenning die eigentliche Todesursache vorläufig nicht feststellen konnte. Wie er meint, kann sie ins Wasser gefallen sein und sich dabei den Kopf aufgeschlagen haben, es ist aber auch möglich, daß sie einfach nur ertrunken ist. Die Autopsie wird einige Zeit dauern, aber er kann uns nicht versprechen, daß sie ein exaktes Ergebnis bringt.»
«Ist er denn schon dran?»
«Sie kennen doch Glendenning, Alan, er kann's kaum erwarten mit seinen Magen- und Gewebeproben und dem ganzen Kram. Weiß der Himmel, er wird sehr genau hingucken müssen. Vielleicht ist ja sogar Gift im Spiel.»
«Und was glauben Sie?» fragte Banks und nahm einen Schluck von seinem Theakstone Bitter.
«Keine Ahnung», meinte Gristhorpe kopfschüttelnd. «Wir müssen erst die Ergebnisse abwarten, aber für den Moment kann es uns eigentlich egal sein, wodurch sie nun letztlich zu Tode gekommen ist, nicht wahr? Ich denke, wir können davon ausgehen, daß es ein Schlag auf den Schädel war, wie bei Steadman. Möglicherweise wird Glendenning das nicht einmal feststellen können.»
«Ich wünschte, wir wüßten ein bißchen mehr über die Gründe zu dieser Tat», sagte Banks. «Daß sie mit dem Fall Steadman zusammenhängt, erscheint mir einigermaßen sicher - das muß einfach sein -, ich weiß nur nicht, wie diese Verbindung aussieht. Sie hat zweifellos etwas gewußt, und statt es mir zu erzählen, hat sie den Mörder damit konfrontiert. Vermutlich war sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher und wollte sich erst Gewißheit verschaffen. Aber wie man es auch dreht und wendet - wir haben nichts in der Hand. Sie hat etwas gewußt, na schön - aber was? Sie hat mit jemandem telefoniert, auch gut - nur, mit wem ? Und warum ? Und sie hat sich mit ihm getroffen - aber wo?»
«Die Frage nach dem Wo werden wir vielleicht bald beantworten können», verkündete Gristhorpe. «Unsere Leute arbeiten sich gerade den ganzen Wildbach hoch zum Berg, auf der Suche nach irgendwelchen Spuren, und ich rechne damit, daß wir bald eine Gruselstrecke mit den Fundorten der einzelnen Leichenteile zusammenhaben.»
«Damit dürfte die Arbeit für heute wohl im Scotch ersoffen sein», witzelte Barker matt, als Penny zum drittenmal nachschenkte, zwei Stunden nachdem sie hatten mit ansehen müssen, wie Sally Lumbs entstellter Körper den Bach hinuntergeschwemmt worden war. Penny hatte sich mit zwei Gläsern begnügt, aber Barker schien nicht aufhören zu können.
«Vielleicht solltest du's doch lassen», warnte Penny.
«Dafür ist es jetzt sowieso zu spät. Aber vielen Dank, daß du dir Sorgen machst um mich.»
Sie sah ihn an und spürte eine plötzliche Aufwallung von Gefühl, von etwas, was an Liebe erinnerte. Was immer es sein mochte, es war irritierend und ärgerlich, weil sie nichts damit anfangen konnte. Er hatte sie nach Hause gebracht, in den Arm genommen und festgehalten, und es hatte gutgetan im ersten Moment, aber dann war diese Schwäche gekommen, und sie haßte es, schwach zu werden. Ihre Gefühle für ihn waren keineswegs platonisch, trotzdem war sie außerstande, sich ihm zu öffnen, und zog sich nur noch tiefer in ihr Schnekkenhaus zurück.
Barker schien den Widerstreit ihrer Empfindungen zu spüren. Er faßte nach ihrer Hand, und sie erlaubte ihm, daß er sie mit leichtem Druck festhielt.
«Ich fürchte, ich war immer schon ein wenig zart besaitet», meinte er. «Ziemlich erbärmlich, findest du nicht auch? Verdiene mein Brot mit Blut und Horror, und bei der ersten Gelegenheit, wo ich selbst...» Seine Worte verloren sich, er begann zu zittern und verschüttete seinen Scotch, als er versuchte, das Glas auf den Tisch zu stellen. Voller Mitgefühl setzte sich Penny zu ihm und hielt ihn lange fest. Als sie sich wieder voneinander lösten, schienen Ewigkeiten vergangen zu sein, und jeder glaubte vom anderen, daß er sich zuerst bewegt hatte.
«Du solltest ein wenig schlafen, Jack», sagte Penny sanft.
«Was, zum Teufel, ist eigentlich los, Penny?» fragte er ratlos. «Was geht hier vor?»
«Ich weiß auch nicht», antwortete sie und glättete sein Haar. «Zumindest ...»
«Was?»
«Nichts», erklärte sie. «Oder fast nichts, was weiß ich. Ich weiß nur, daß es endlich ein Ende haben muß.»
«Unter einer Brücke, einem Übergang für Packpferde», berichtete Banks. «Am Südhang, wie der Super sagt.»
«Und was bedeutet das?» erkundigte sich Sandra, die soeben vom Einkaufen gekommen war. Banks hatte vorgeschlagen, sich auf einen Drink im Queen's Arms zu treffen. Immerhin hatte man sich in den letzten Tagen nur selten gesehen, und die Kinder waren alt genug, daß man sie für ein oder zwei Stunden sich selbst überlassen konnte.
«Das bedeutet, daß er sich geirrt hat bei der Stelle, wo er die Suchaktion gestartet hat. Und daß er sich dafür am liebsten in den Hintern treten würde.»
«Aber wie soll er das denn gewußt haben?» protestierte Sandra. «Es war doch absolut vernünftig, zuerst am Nordhang zu suchen.»
«Das sagt jeder, aber du weißt ja, wie er ist.»
«Jawohl, genauso stur wie du. Meint immer, er muß alles allein auf sich nehmen.»
«Keine Sorge, er wird schon drüber wegkommen», versicherte Banks. «Jedenfalls hat man Stoffasern gefunden, an den Steinen unter der Brücke. Offenbar wollte man sie unter dem Geröll verstecken, aber der starke Regen hat die Steine wahrscheinlich weggespült und die Leiche mitgerissen ins Tal. Oben auf der Brücke hat man bislang noch keine Spuren gefunden, aber es muß ein geradezu ideales Plätzchen sein - einsam und abgelegen und doch noch eben passierbar für einen Wagen.»
«Hilft euch die Leiche irgendwie weiter?»
«Kaum, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Außerdem ist zuviel Zeit verstrichen. Natürlich fragen wir überall herum - ob jemand in der Gegend war oder irgendwas gesehen hat -, aber das wird vermutlich nicht viel bringen. Wer es auch sein mag, unser Mann ist mit Sicherheit ziemlich gescheit und wird uns nicht den Gefallen tun, irgendwelche dummen Fehler zu machen.»
«Allerdings wird er diesmal wohl recht spontan gehandelt haben», gab Sandra zu bedenken. «Schließlich blieb ihm nicht viel Zeit für lange Vorbereitungen.»
«Das macht es uns auch nicht sehr viel leichter.»
«Das ist es doch nie, oder?»
Banks zuckte die Achseln und steckte sich eine Zigarette an.
«Was ich dir übrigens noch sagen wollte», bemerkte Sandra, «ich bin froh, daß du dich endlich von dieser blöden Pfeife getrennt hast.»
«Hat mir wohl nicht gestanden?»
«Nein.»
«Wahrscheinlich hab ich zu sehr nach Landjunker ausgesehen, oder?»
«Ja, vielleicht», lachte Sandra, «aber sicher hast du den meisten ohnehin nichts vormachen können. Und dir selbst am allerwenigsten.»
«Was nicht heißt, daß es den Leuten auch gefällt, einen Raucher um sich zu haben», meinte Banks und bot Sandra, die gelegentlich mitrauchte, eine Zigarette an. «Jedenfalls habe ich mir fest vorgenommen, meinen Konsum in Grenzen zu halten und mich auf dieses milde Kraut zu beschränken.»
«Leere Versprechungen!»
«Um auf das Mädchen zurückzukommen», fuhr Banks nach einer kurzen Pause fort. «Soweit die Gerichtsmediziner das bisher feststellen konnten, ist sie weder erschossen worden, noch erstochen, vergiftet oder vergewaltigt. Sie war Jungfrau.»
«Fragt sich nur, ob das was Gutes ist», überlegte Sandra.
«Was? Daß sie nicht vergewaltigt wurde?»
«Nein. Daß sie als Jungfrau gestorben ist.»
«Das wird ihr jetzt wohl ziemlich egal sein, dem armen Ding», meinte Banks, «und ich habe so meine Zweifel, ob man solche Sachen heutzutage noch auf den Grabstein schreibt. Immerhin können wir sicher sein, daß sie nicht gefoltert oder sonstwie mißhandelt wurde. Vermutlich ist alles sehr schnell gegangen, und sie hatte nicht mal Zeit, sich zu überlegen, was mit ihr passiert.»
«Glaubst du, daß ihr diesen Mörder bald fassen werdet?» fragte Sandra und schwenkte die Reste der schmelzenden Eisstücke in ihrem Glas. «Sag es, Alan, ich bin schließlich kein Reporter.»
«Ich würde gern mit Ja antworten, aber es gibt verdammt wenig, wo man ansetzen könnte. Wir wissen lediglich, wo sie war und daß sie am Freitag abend gegen neun Uhr zum letztenmal gesehen wurde, das ist alles.»
«Also zu der Zeit, wo wir beim Folkkonzert waren?»
«Ja.»
«Wir waren also ganz in der Nähe», stellte Sandra mit einem Schaudern fest.
«Macht das einen Unterschied?»
«Nein, nur ein komisches Gefühl, weiter nichts. Was ist mit diesem Schriftsteller und der Sängerin?»
«Möglich, daß sie ihn deckt oder daß sie beide beteiligt sind, das ist schwer zu sagen bei all den Gerüchten, die hier im Umlauf sind. Die andern kennen sich auch alle schon seit Ewigkeiten, und der Himmel mag wissen, in welche komplizierten emotionalen Geflechte sie sich mit den Jahren verstrickt haben. Offenbar sind die Emotionen in einem Ort wie Helmthorpe tiefer und anhaltender als in der Großstadt.»
«Blödsinn, denk doch nur mal an diese Stammesfehden und Rivalitäten unter den Gangstern von London.»
«Das ist Business, gewissermaßen. Nein, ich rede von den üblichen, ganz normalen Wechselbeziehungen untereinander.»
«Wer hätte denn das stärkste Motiv?» wollte Sandra wissen.
«Die Person mit dem besten Alibi.» Banks mußte lächeln angesichts dieser Ironie. «Sofern man Geld als hinreichend starkes Motiv betrachtet. Außerdem spielen wahrscheinlich die unterschiedlichsten Formen von Eifersucht mit hinein. Insofern sind auch Barker und Penny Cartwright weiterhin verdächtig.»
«Geht das Erbe an die Frau?»
«Ja.»
«Sie war gestern in der Praxis, wegen irgendwelcher Korrekturen an ihrer Brücke.»
«Was hältst du von ihr?»
«Oh, ich hab sie kaum zu Gesicht gekriegt. Nur einen kurzen Moment, als sie mit zum Fenster ging, um im Kalender nachzusehen und den nächsten Termin festzulegen. Sie scheint ganz attraktiv zu sein.»
«Ich fand sie eigentlich eher nichtssagend.»
«Typisch Mann», stellte Sandra fest. «Ihr seht immer nur die Oberfläche.»
«Aber du wirst doch zugeben müssen, daß sie sich ein bißchen gehenläßt.»
«Schon, jedenfalls auf den ersten Blick», meinte Sandra versonnen, «aber ich glaube, sie hat eigentlich alles, was man braucht. Zum Beispiel eine gute Figur unter diesen gräßlichen Klamotten und ein gutgeschnittenes Gesicht. Aber ich kann mir natürlich vorstellen, daß jemand, der sie von früher kennt und sie lange nicht gesehen hat, sie ein bißchen abgewirtschaftet findet.»
«Ein hübsches junges Ding...»
«Wie bitte?»
«Oh, nichts», meinte Banks, «mir ist nur gerade etwas eingefallen. Erzähl ruhig weiter.»
«Da gibt's nicht mehr viel zu erzählen. Ich wollte nur sagen, daß sie alle Voraussetzungen hat, um eine attraktive Frau abzugeben. Außerdem kann sie kaum älter sein als ich.»
«Ende Dreißig.»
«Na also, dann gibt sie sich nur so hausbacken, weil sie's nicht anders will. Es gibt schließlich auch noch Frauen, die nicht total auf ihr Aussehen fixiert sind, verstehst du ? Kann doch sein, daß sie andere Dinge weitaus wichtiger findet.»
«Vielleicht. Du willst also damit sagen», meinte Banks bedächtig, «daß sie mit der richtigen Frisur, mit hübschen Kleidern und ein wenig Make-up...»
«... ein richtiges Klasseweib wäre, genau!»
Penny stand eben am Herd und röstete die Gewürze für ein Curry, als Barker die schmale Treppe herunterkam.
«Ah, wir haben ausgeschlafen», begrüßte sie ihn.
«Wie spät ist es?»
«Sieben.»
«Sieben Uhr abends?»
«Ja, aber immerhin noch am selben Tag, keine Sorge. Hast du Hunger? Wahrscheinlich nicht, du mußt einen ganz schönen Kater haben. Egal, ich bin jedenfalls gerade dabei, ein anständiges Curry zu machen. Also, wie's beliebt.»
«Ihre Großzügigkeit und Ihr Charme sind überwältigend, Gnädigste», witzelte Barker. «Wenn ich es mir recht überlege, geht's mir gar nicht so schlecht. Bis auf die höllischen Kopfschmerzen.»
«Aspirin findest du im Bad.»
«Was war eigentlich los?» fragte Barker.
«Soll das heißen, du erinnerst dich nicht?»
«Nein, nach dem dritten Drink ist Pause. Oder waren's vier?» Er rieb sich die Augen.
«Weißt du wirklich nichts mehr?» wiederholte Penny, einigermaßen schockiert. «Danke für das Kompliment.»
«Was? Willst du damit sagen... ?»
«Sei nicht albern, Jack», lachte Penny, «ich hab nur Spaß gemacht. Nein, du warst einfach müde, und ich hab dich nach oben verfrachtet, damit du deinen Rausch ausschlafen kannst. Das ist alles.»
«Wirklich alles?»
«Ja. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich mit dir ins Bett sinke, wenn du in diesem Zustand bist, oder?»
«Ich werd mir etwas Aspirin holen», sagte Jack und zog sich betreten über die Treppe ins Badezimmer zurück.
«So, das kann jetzt allein weiterkochen», erklärte Penny, als er zurückkam, und legte den Deckel auf den Topf. «Setz dich doch. Willst du was trinken?»
«Bloß nicht!» knurrte Barker. «Andererseits, das beste Mittel gegen einen Kater... Aber bitte keinen Whisky.»
«Wäre Bier genehm?»
«Ja.»
«Sam Smith's?»
«Hervorragend.»
«Um so besser, was anderes hab ich nämlich nicht. Aber es ist immerhin kalt.»
Barker nahm das Bier, verzichtete auf ein Glas und ließ sich auf dem Sofa nieder.
«Was du da gesagt hast, Penny», begann er, «darüber, du weißt schon, daß du nicht mit mir schläfst, wenn ich in diesem Zustand...»
«Ich möchte stark bezweifeln, daß du so ganz auf der Höhe wärst, um es mal vorsichtig auszudrücken», spottete sie mit einem leicht anzüglichen Lächeln.
«Ich würde vielleicht ein bißchen Zeit brauchen», räumte Barker ein, «aber willst du damit sagen, daß du, wenn ich nüchtern gewesen wäre... ich meine, daß du wirklich... na, du weißt schon?»
Penny legte den Zeigefinger an die Lippen, um ihn am Weitersprechen zu hindern. «Das wirst du schon selbst herausfinden müssen.»
«Verdammt, Penny», protestierte er, «du kannst mich doch nicht einfach jahrelang ignorieren und plötzlich anfangen, mich für den Rest des Lebens hinzuhalten. Das ist unfair. Ich bin auch so schon reichlich durcheinander, durch diese Sache mit dem Mädchen da im Fluß und überhaupt.»
«Tut mir leid, Jack, aber die Dinge kommen immer ganz anders raus, als ich sie meine. Du mußt wirklich den Eindruck haben, daß ich immer nur Spielchen treibe, nicht wahr?»
«Sieht jedenfalls so aus. Warum gibst du mir nicht einfach eine ehrliche Antwort?»
«Auf welche Frage?»
«Die kennst du doch.»
«Oh, das... Nun, ich bin eigentlich froh, daß du betrunken warst, Jack, weil... Nein, ich glaube, ich hätt's doch nicht getan. War das ehrlich genug?»
»Scheint so», meinte Barker, deutlich enttäuscht.
«Aber es ist nicht so klar, wie du denkst», beeilte sich Penny hinzuzufügen. «Ich wollte damit nur sagen, daß ich froh war, mich in dem Moment nicht entscheiden zu müssen. Sonst wär ich vielleicht schwach geworden, hätte ja gesagt und es später bereut. Es wäre so leicht gewesen und so selbstverständlich, sich zu lieben, nach dieser schrecklichen Konfrontation mit dem Tod. Aber ich hätte bestimmt immer an Sally denken müssen, an ihren verstümmelten Körper...»
«Das kann ich verstehen. Aber warum, glaubst du, daß du's hinterher bereut hättest?»
«Aus vielen Gründen», erwiderte Penny achselzuckend. «Es ist eine Menge passiert in letzter Zeit, und es wäre mir zu schnell gegangen, zu unvermittelt. Im Grunde wär es ziemlich einfach, mit dir ins Bett zu hüpfen, du bist schließlich ein gutaussehender Mann, aber ich will mehr, Jack. Ich habe keine Lust, eins von deinen schnellen Abenteuern zu sein, wie diese Flittchen, mit denen du herumschläfst, wenn du nach London fährst und deine Bücher unters Volk wirfst.»
«Das tu ich nicht, und so würd ich dich nie behandeln.»
«Egal, mein Bedarf an Enttäuschungen ist jedenfalls gedeckt, und ich wünsche mir etwas mehr Beständigkeit. Ich weiß, das klingt spießig und sentimental, aber ich möchte gern ein ganz normales, geregeltes Leben führen, und es ist wahrscheinlich besser, wenn ich allein bleibe. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich einfach auf einen Mann verlassen.»
«Um so besser, ich bin nämlich nicht besonders verläßlich», meinte Barker, zündete sich eine Zigarette an und begann zu husten. «Hör zu, Penny», fuhr er schließlich fort, «es kümmert mich nicht, ob das der richtige Ort oder der angemessene Zeitpunkt ist - aber ich liebe dich. Das ist es, worauf ich die ganze Zeit hinauswollte. Nicht, ob du mit mir ins Bett gehst oder es bleiben läßt, nein. Also bitte, nun ist es heraus, und ich werde wohl damit leben müssen, wenn ich mich zum Narren gemacht habe.»
Penny betrachtete ihn lange und eindringlich und meinte schließlich: «Ich weiß nicht, ob ich umgehen kann mit so was wie Liebe.»
«Dann versuch's», schlug Barker vor, beugte sich zu ihr und streichelte ihr Haar. «Man kann nie wissen, vielleicht gefällt's dir.»
Sie wandte den Blick ab, und er rückte näher, um sie in den Arm zu nehmen. Penny verkrampfte sich ein wenig, ließ ihn aber gewähren.
Nach einer Weile löste sie sich von ihm und schaute ihm mit großem Ernst in die Augen. «Du darfst nicht zuviel von mir erwarten», erklärte sie. «Ich bin es gewöhnt, mich allein durchzuschlagen - und ich mag es so.»
«Wir haben beide so lange allein gelebt», stellte Jack fest, «daß uns der Gedanke an eine Änderung natürlich angst machen muß. Aber wozu die Eile? Lassen wir's einfach langsam angehen.»
Aus der Küche ertönte ein Klingeln.
«Ah, der Wecker - das Curry ist fertig!» verkündete Penny und stand auf.
Barker folgte ihr zur Küche, lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete, wie sie in der pikanten Sauce rührte. «Weißt du», sagte er, «mir ist eigentlich erst durch diesen Scheißbullen, wie du immer sagst, so richtig klargeworden, daß ich tatsächlich eifersüchtig war auf Harry und dich. Ich hab mich immer gefragt, warum du für ihn so viel übrig hattest und für mich so wenig.»
«Das ist nicht fair, Jack», wehrte sich Penny und drehte sich mit verärgerter Miene um. «Das darfst du nicht sagen. Du redest genau wie dieser Banks.»
«Tut mir leid», entschuldigte sich Barker, «ich hab gar nichts Besonderes gemeint.»
«Ach, vergiß es.»
«Man kann die Vergangenheit nicht einfach ignorieren, Penny», meinte Barker. «Es gibt eine Menge Dinge, die einer Erklärung bedürfen.»
«Zum Beispiel?» erkundigte sich Penny mißtrauisch, während sie den Topf vom Feuer nahm.
«Darüber weißt du sicher mehr als ich.»
«Worüber soll ich mehr wissen?»
«Über das, was hier passiert ist. Komm schon, Penny, willst du mir etwa erzählen, du hättest dir keine Gedanken gemacht? Ich bin sicher, daß du mehr weißt über diese Angelegenheit, als du zugibst.»
«Und warum glaubst du das?»
«Ich weiß nicht», antwortete Barker, «du gibst dich nur immer so schrecklich geheimnisvoll und empfindlich, wenn's um diese Dinge geht.»
Penny wandte sich wortlos ihrem Curry zu.
«Nun?» drängte Barker.
«Was, nun?»
«Ist es so?»
«Ist es wie?»
«Ach, hör schon auf, du hast mich ganz gut verstanden. Also, weißt du was, was ich nicht weiß?»
«Keine Ahnung, was du weißt.»
«Gar nichts. Und du?»
«Ich auch nicht, natürlich nicht», erklärte Penny und häufte das Curry auf die Teller. «Du hast einfach nur eine blühende Phantasie, Jack. Typisch Schriftsteller! Meinst du nicht, daß ich es dir erzählt hätte, wenn ich wirklich was wüßte?»
«Wenn du mich so fragst - nein, das mein ich nicht. Und Sally Lumb hat offenbar auch niemandem was erzählt. Oder vielmehr der falschen Person.»
«Und du glaubst, daß ich diese Person war?»
«Laß den Unsinn.»
«Nur zu, sag es frei heraus!» ereiferte sich Penny und schwang ihren Löffel, als wolle sie damit zuschlagen. «Genau wie Banks. Na, tu dir keinen Zwang an!»
«Wovon redest du, um alles in der Welt?»
«Vom Freitag abend. Als sie verschwunden ist.»
«Da waren wir doch im Dog and Gun.»
«Aber nicht die ganze Zeit.»
«Wenn schon. Du hast dich hier ein bißchen ausgeruht, und ich war spazieren, na und?»
«Du weißt es also nicht, oder?»
«Was soll ich wissen?»
«Ist dir dieser Banks denn nicht aufs Dach gestiegen?»
«Weshalb denn?»
«Weil man Sally da zum letztenmal gesehen hat. Genau zu der Zeit, wo wir weg waren. Offenbar hat man sie auf der High Street gesichtet, so gegen neun.»
«Und Banks meint...»
Penny zuckte mit den Achseln. «Jedenfalls hat er mich befragt. Dich nicht?»
«Nein. Hab ihn seit Tagen nicht zu Gesicht bekommen.»
«Dann kann's ja nicht mehr lange dauern. Er wird ziemlich lästig neuerdings.»
«Er muß ganz schön deprimiert sein. Aber du nimmst doch wohl nicht an, daß ich andeuten wollte, du hättest was damit zu tun, oder?»
«Etwa nicht?»
«Du spinnst. Kannst du dir vorstellen, daß ich einem Menschen, den ich für einen Mörder halte, ewige Liebe schwöre?»
Penny lächelte.
«Und was ist mit dir?» fuhr Barker fort. «Glaubst du mir?»
«Inwiefern?»
«Daß ich nur einen harmlosen Spaziergang gemacht habe?»
«Aber ja, natürlich. Ich kann mich nicht mal erinnern, wie wir überhaupt auf dieses Thema gekommen sind.»
«Ich habe dich lediglich gefragt, ob du etwas weißt und mir nichts davon erzählt hast. Das ist alles.»
«Und ich denke, daß ich diese Frage beantwortet habe», erklärte Penny, die dunklen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. «Jedenfalls hab ich mich durchaus nicht irgendwie geheimnisvoller gegeben als du.»
«Nun hör aber auf, Penny, so leicht kommst du mir nicht davon. Schließlich lebst du bei weitem länger hier als ich, und insofern wirst du zwangsläufig mehr wissen über die Vorgänge in diesem Ort.»
«Ich finde, du behandelst mich wie eine Kriminelle, Jack. Ist das etwa deine Vorstellung von Liebe? Allmählich begreife ich, daß du wohl verdammt eifersüchtig gewesen sein mußt.»
«Vergiß es», seufzte Jack, «tu so, als hätt ich gar nicht den Mund aufgemacht.»
«Aber ich will's nicht vergessen, Jack, wirklich nicht.»
Sie beäugten sich argwöhnisch, bis Penny den Blick senkte, die Teller zum Tisch trug und Barker bedeutete, sich zum Essen zu setzen.
«Ich muß schon sagen, es ist dir wirklich großartig gelungen, die richtige Stimmung für ein romantisches Abendessen bei Kerzenschein zu zaubern», meinte Penny ironisch. «Ich hab nicht mal mehr Hunger.»
«Du solltest es mal probieren», schlug Barker vor und bot ihr einen Bissen an, «es schmeckt köstlich.»
«Danke, mir ist der Appetit vergangen», wehrte Penny ab und griff nach einer Zigarette, schien jedoch gleich darauf anderen Sinnes zu werden, stand auf, nahm ihre Jacke und erklärte: «Ich geh noch einen Sprung vor die Tür.»
«Aber das kannst du doch nicht machen», protestierte Barker. «Wir haben noch eine Menge zu besprechen. Wo sind überhaupt die Kerzen? Du hast schließlich ein Essen gemacht.»
«Das kannst du von mir aus allein essen», bemerkte Penny, schon an der Tür, «und die Kerzen meinetwegen gleich mit!»
«Aber wo willst du denn hin?» fragte Barker, schon halb im Stehen.
«Nur ein bißchen rumschnüffeln», erklärte sie und schlug die Tür hinter sich zu.
Obwohl die Sonne noch am Horizont stand und nur zögernd untergehen wollte, lag die westliche Seite der Market Street schon im Dunkel der engen Häuserreihen, und der weite Platz war menschenleer. Sandra war nach Hause gefahren, um Brian und Tracy nicht das Gefühl zu geben, zu Schlüsselkindern geworden zu sein, und Banks war wieder ins Büro gegangen, um seine Notizen zu studieren. Allerdings hatte er sich gar nicht erst die Mühe gemacht, das Licht anzuknipsen, sondern saß einfach nur da, während der Raum immer dunkler wurde, sich mit Zigarettenrauch füllte und draußen im Gang gelegentlich Schritte ertönten. Die Tür war geschlossen, und niemand wußte, daß er noch hier war.
Er fühlte, daß dieser Fall seinem Ende zuging, und wie immer bei solchen Gelegenheiten, hatte er sich in sein Büro zurückgezogen, vor das Fenster gesetzt, geraucht, sich alle Einzelheiten noch mal durch den Kopf gehen lassen und immer wieder neu sortiert, aber auch nach einer Stunde blieb das Muster immer gleich. Das Bild schien vollständig, und so unglaublich es auch sein mochte, es mußte stimmen. Wenn man das Unmögliche eliminierte, mußte der Rest zwangsläufig die Wahrheit ergeben, auch wenn sie noch so abwegig erschien, hatte Sherlock Holmes immer gesagt. Sinngemäß zumindest.
Es war Zeit, etwas zu unternehmen.
Während er nach Westen in den blutroten Sonnenuntergang fuhr, verzichtete er auf die sonst übliche Begleitmusik; er war ganz konzentriert und außerstande, andere Eindrücke aufzunehmen. In Gratly angekommen, bog er gleich hinter der Brücke scharf nach links, hielt vor dem Haus der Steadmans und stellte fest, daß nirgendwo Licht brannte und offensichtlich niemand zu Hause war. Fluchend kletterte er aus dem Wagen und klopfte an die Tür von Mrs. Stanton, der Nachbarin.
«Ah, Sie sind's, Inspector», begrüßte sie ihn. «Ich dachte nicht, daß wir uns noch mal wiedersehen. Bitte, kommen Sie doch herein.»
«Vielen Dank», meinte Banks, «aber ich bin ein wenig in Zeitdruck. Vielleicht könnten Sie mir gleich hier ein paar Fragen beantworten?»
Mrs. Stanton runzelte die Stirn und nickte.
«Nummer eins - haben Sie wohl eine Ahnung, wo Mrs. Steadman im Moment sein könnte?»
«Bedaure, nein. Ich meine, ich hätte ihren Wagen gehört, vor einer Stunde oder so. Aber ich kann nicht sagen, wo sie hin wollte.»
«Haben Sie sie gesehen?»
«Nein, ich war nicht am Fenster, hätte sowieso nichts genützt. Die haben nämlich eine Tür, direkt von der Küche in die Garage. Tja, wenn man Geld hat...», meinte sie, «... sogar mit diesen elektrischen Türen, wo man nur auf den Knopf zu drücken braucht.»
«In welche Richtung ist sie gefahren?»
«Na ja, hier vorne ist sie nicht vorbeigekommen.»
«Also nach Osten?»
«Aye.»
«Erinnern Sie sich noch an diesen Samstag, wo Sie mit ihr ferngesehen haben?» Mrs. Stanton nickte bedächtig. «Wissen Sie noch, ob sie vielleicht später noch mal weggefahren ist, nachdem sie zu Hause war?»
Mrs. Stanton schüttelte den Kopf. «Gehört hab ich jedenfalls nichts, das ist mal sicher, und ich war noch 'ne ganze Stunde auf und hab im Haus rumhantiert.»
«Und am vergangenen Freitag? Hat sie das Haus verlassen, am Abend oder in der Nacht?»
«Kann ich nicht sagen, Inspector, freitags bin ich beim Bingo.»
«Und Ihr Mann?»
«Im Pub. Wie immer.»
«Ist das der normale Ablauf am Freitagabend?»
«Von wegen! Bei ihm ist das der normale Ablauf an jedem Abend!»
«Und Sie?»
«Naja, ich geh eben freitags zum Bingo und treffe halb Swainsdale.»
«Mrs. Steadman auch?»
«Nein, die doch nicht. Womit ich nicht sagen will, daß sie ein Snob ist, bewahre. Ist eben nicht jedermanns Sache, und ich sage immer, jeder nach seiner Fasson, nicht?»
Banks bedankte sich, ließ die leicht verdatterte Mrs. Stanton ratlos auf ihrer Türschwelle zurück und kletterte wieder in seinen Cortina, um nach Helmthorpe zu fahren.
Er parkte im Halteverbot neben der Kirche, direkt an der Einmündung von Pennys Gasse in die High Street. Im Vorderzimmer ihres Cottage brannte Licht. Er hastete zur Haustür, klopfte an und war einigermaßen überrascht, Jack Barker anzutreffen.
«Treten Sie ein, Chief Inspector», forderte ihn Barker auf. «Penny ist leider nicht da. Oder sind Sie meinetwegen gekommen, um mich zu fragen, wo ich Freitag abend gesteckt habe?»
Banks überhörte den spöttischen Unterton, für Spielereien war jetzt keine Zeit mehr. «Hat sie in letzter Zeit irgendwelche komischen Bemerkungen gemacht über diese Steadman-Geschichte?» fragte er.
Barker schüttelte befremdet den Kopf. «Nein. Warum?»
«Weil ich den Eindruck habe, daß sie mit irgendwas hinterm Berge hält, darum. Mit einer Sache, die ihr möglicherweise selbst nicht so ganz klar ist. Ich hatte die Hoffnung, sie davon überzeugen zu können, es mir zu sagen.»
Barker zündete sich eine Zigarette an und meinte: «Es ist schon wahr, Penny hat sich ein bißchen merkwürdig benommen in letzter Zeit. Irgendwie rätselhaft und besonders empfindlich. Aber sie hat nichts verlauten lassen.»
Banks setzte sich und trommelte nervös auf die zerschlissene Seitenlehne seines Stuhls. «Sie hier», begann er mit einem vielsagenden Blick rundum, «kann es sein, daß... eh...»
«Daß ich mich häuslich eingerichtet habe? Nein, Gott behüte, das wär nun wirklich zuviel des Glücks. Wir haben lediglich miteinander gegessen und uns bei der Gelegenheit ein bißchen gestritten. Über eben diese Sache, die Sie gerade angesprochen haben. Sie hat es vorgezogen zu gehen, und nun sitze ich hier und warte, daß sie zurückkommt.»
«Wie?»
«Nun, ich habe angedeutet, daß sie vielleicht mehr weiß, als sie sagt, worauf sie mir vorgeworfen hat, daß ich sie wie eine Kriminelle behandle - genau wie Sie.»
«Denkt sie das wirklich?»
«Sie werden wohl nicht abstreiten, daß Sie ihr ganz schön zugesetzt haben.»
«Wird sie bald zurück sein?» fragte Banks mit einem Blick auf seine Uhr.
«Keine Ahnung.»
«Wieso keine Ahnung? Wo steckt sie denn?»
«Ich sagte doch», antwortete Barker, «wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, und sie ist einfach verschwunden.»
«Aber wohin?»
«Ich weiß es nicht.»
«Sie wird doch irgendwas gesagt haben, oder?»
«Ja, daß sie ein bißchen rumschnüffeln will.»
«Nicht gerade hilfreich.»
«Ganz meine Meinung.»
«Und vorher haben Sie darüber gesprochen, daß sie irgend etwas verschweigt?»
«Ja.»
«Hat sie den Wagen genommen?»
«Ja.»
«Aha.» Banks stand auf. «Kommen Sie.»
Ohne lange nachzudenken, sprang Barker auf und folgte Banks, der ihm nur noch gestattete, die Kerzen zu löschen und die Tür abzuschließen.
«Hören Sie mal, was ist eigentlich los?» protestierte er endlich, als sie bereits im Wagen saßen und durch das nächtlich dunkelnde Tal brausten. «Sie fahren ja wie ein Irrer. Was ist passiert? Ist Penny etwa in Gefahr?»
«Warum sollte sie in Gefahr sein?»
«Um Himmels willen, wie soll ich das wissen? Ich finde nur, daß Sie sich verdammt merkwürdig benehmen. Was, zum Teufel, geht hier eigentlich vor?»
Banks gab keine Antwort, er war vollauf damit beschäftigt, sich auf die Strecke zu konzentrieren. Es wurde immer dunkler, und die Stille im Wagen lastete immer schwerer. Als sie die nördlichen Ausläufer von Eastvale erreichten, schwenkte Banks in die Schnellstraße nach York.
«Wo soll's eigentlich hingehen?» erkundigte sich Barker kurz darauf.
«Keine Sorge, wir sind schon fast da», antwortete Banks. «Und Sie werden jetzt tun, was ich Ihnen sage, ist das klar? Ich habe Sie nur mitgenommen, weil ich weiß, daß Sie Penny mögen, und weil ich Sie zufällig in ihrem Haus angetroffen habe. Außerdem war ich in Zeitdruck, und Sie könnten sich vielleicht nützlich machen, wenn Sie sich an meine Anordnungen halten.» In einem riskanten Überholmanöver brauste er an einem Lastwagen vorbei.
«Und ich dachte, Sie haben es nur auf das Vergnügen meiner Gesellschaft abgesehen», witzelte Barker und hielt sich am Armaturenbrett fest.
«Lassen Sie's gut sein, ja?»
«Im Ernst, Chief Inspector - ist sie in Gefahr?»
«Ich weiß es nicht. Ich kann wirklich nicht sagen, was uns erwartet. Aber machen Sie sich keine Gedanken, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir da sind», erklärte er. Die Reifen quietschten, als er nach links abbog, etwa eine Viertelmeile über einen holprigen Seitenweg jagte und schließlich in einer Toreinfahrt hinter einem Wagen zum Stehen kam. Fassungslos deutete Barker nach vorn und stammelte: «Aber das ist ihr Auto! Das ist Pennys Wagen!»
Zwischen den Fenstervorhängen erschien ein Gesicht und schaute nach draußen, während die beiden Männer bereits aus dem Cortina sprangen und zur Haustür hasteten.
«Tempo!» rief Banks, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Tür zu öffnen. «Jetzt wird's ernst!» Damit wich er einen Schritt zurück und trat mit voller Kraft gegen die Tür, die mit einem lauten Krachen aus dem splitternden Holzrahmen flog und den Weg freigab. Dicht gefolgt von Barker stürzte er durch die Diele zum Wohnzimmer und hatte mit einem Blick die bizarre Szene erfaßt.
Es waren drei Personen im Raum. Michael Ramsden stand da und starrte mit kreidebleichem Gesicht und offenem Mund zu Banks; Penny lag starr auf der Couch, und die andere Frau hatte den Eintretenden den Rücken zugekehrt.
Barker stürzte mit einem Aufschrei zu Penny, Ramsden begann zu zittern.
«Großer Gott», stammelte er, «ich hab's gewußt, ich hab gewußt, daß das passiert...»
«Halt den Mund!» befahl die Frau und drehte sich um.
Sie trug ein enganliegendes, figurbetonendes rotes Kleid, hatte das Haar straff zurückgekämmt und die Wangenknochen ihres herzförmigen Gesichts gekonnt mit einem Hauch Rouge hervorgehoben. Das Erstaunlichste waren jedoch ihre Augen. Banks hatte sie als eher wäßrig und verzerrt von dicken Brillengläsern in Erinnerung, aber nun kam hinter den Kontaktlinsen ein intensives Grün zum Vorschein, dunkel und kühl wie bemooste Steine und von einem durchdringenden, lodernden Feuer. Es war Emma Steadman, verwandelt bis zur Unkenntlichkeit.
Ramsden bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach wimmernd in einem Sessel zusammen.
Emma starrte immer noch Banks wütend an. «Sie Scheißkerl!» fauchte sie und spuckte ihn an. «Sie haben alles vermasselt.» Damit verstummte sie und sollte sich nie wieder zu einer Äußerung bewegen lassen.