* KAPITEL 2

 

* I

 

Weaver zog eine Grimasse. «Ich hasse Brandy, Sir», bekannte er schüchtern. «Jedes Mal, wenn ich als Kind eine Erkältung hatte, hat mir meine Mutter ein paar Tropfen eingeflößt. Aus rein medizinischen Gründen, aber ich kann das Zeug einfach nicht ausstehen.»

  Sie hatten sich in einer Ecke der fast leeren Lounge im Bridge nie- . dergelassen. Banks hielt sich an seinem frischgezapften Theakstone Bitter fest, und Weaver kämpfte mit seinem Brandy.

  «Hat er Ihnen denn nicht gutgetan?» fragte Banks.

  «Doch, ich glaube schon, Sir. Aber er erinnert mich eben immer an Medizin. Arme-Leute-Medizin, wenn Sie wissen, was ich meine.»

  Banks stand lachend auf und holte ein frisches Pint von der Theke, damit Weaver den schlechten Geschmack hinunterspülen konnte. Detective Sergeant Hatchley hatte sich noch nicht eingefunden. Zweifellos steckte er noch bei Tavistock und ließ sich mit einem guten Tee verwöhnen, womöglich sogar mit etwas Gehaltvollerem und einem saftigen Stück Roastbeef.

  «Sagen Sie», fragte Banks, «warum ist es hier eigentlich so leer? Schließlich haben wir Sonntag, es ist Essenszeit, und das Dorf wimmelt von Touristen.»

  «Das ist schon richtig, Sir», antwortete Weaver, dessen jungenhaftes Gesicht wieder in voller natürlicher Röte erstrahlte, «aber sehen Sie sich hier doch einmal um.»

  Banks sah sich um. Die Tapeten in der eher kleinen Lounge waren verblichen, von der braunen Decke blätterte der Putz. Die Wände waren feucht, die auffälligsten Flecken hatte man verdeckt unter ein paar wenigen Landschaftsaquarellen, die an den armseligen Wandschmuck in betagten Eisenbahnwaggons erinnerten. Die Tische waren abgewetzt und zerfurcht vom jahrelangen Domino- und Würfelspiel, Generationen von Biertrinkern, übersät von den Ringen und Lachen ganzer Generationen überquellender Biergläser, und die verkohlten Halbkreise an den Kanten erinnerten an die zahllosen Zigaretten, die man hier zurückgelassen hatte. Neben dem schmalen, gekachelten Kamin stand ein wackliges Kaminbesteck mit einem verbogenen Schürhaken. In der Tat, er machte nicht viel her, dieser Laden.

  «Es gibt drei Pubs hier in Helmthorpe», begann Weaver und hob demonstrativ seine fleischigen, rosigen Finger. «Wenn man den Country Club für die feinen Pinkel nicht mitzählt, wären da noch das Dog and Gun und das Hare and Hounds, wo überwiegend Touristen hingehen. Die klassischen alten Landgasthöfe, wenn Sie wissen, was ich meine, Sir - das Hufeisen, die kupferne Bettpfanne, die antiken Tische mit den schmiedeeisernen Beinen, an denen man sich die Kniescheibe aufschlägt, Sie verstehen. Außerdem riesige Kamine mit vorgeräucherten Bleieinfassungen, weil es nämlich auf Gottes schöner Erde heutzutage nicht mehr wichtig ist, ein anständiges Ale anzubieten. Aber ein offenes Feuer, das muß sein, das ist trendy.

  Das Dog and Gun ist so 'ne Art Familienlokal mit 'nem Biergarten am Flußufer und 'nem kleinen Spielplatz für die Kinder, und das Hare and Hound ist mehr fürs Jungvolk. Mit großer Disco-Nacht jeden Freitag und Samstag in der Saison und Massen von Freizeit-Campern. Dabei geht's dann immer hoch her, und wir haben flott zu tun mit den üblichen Schlägereien und solchen Sachen. Unter der Woche bieten sie schon mal Abende mit Folkmusic an, wo's etwas zivilisierter zugeht, wenn Sie mich fragen.»

  Weaver rümpfte die Nase und deutete mit einem kurzen Nicken auf die Wand. «Und dann gibt's noch das hier. Ziemlich neu für hiesige Verhältnisse - bestenfalls viktorianisch, würd' ich sagen - und die einzige Zuflucht, die dem ernsthaften Biertrinker geblieben ist. Hier kommen nur die Einheimischen her und gelegentlich ein paar Ortsfremde, die gutes Bier zu schätzen wissen. Ein Geheimtip sozusagen. Am Wochenende drücken sich natürlich auch ein paar Wanderer und alles mögliche Volk am Tresen rum - schließlich hat heutzutage jeder seinen Kneipenführer in der Tasche und weiß, wo's gutes Bier gibt -, aber die machen weiter keinen Ärger. Sind alle ziemlich friedlich, das muß man sagen.»

  «Warum ist Steadman wohl hierher gekommen, was meinen Sie?»

  «Steadman?» wunderte sich Weaver, offenbar überrascht von dem jähen Umschwung ins Dienstliche. «Weil er das Bier mochte, nehm ich an. Und ein paar von den Stammgästen, die er gut gekannt hat.»

  «Aber er hatte doch Geld, oder nicht? Eine Menge sogar. Das Haus wird jedenfalls nicht gerade billig gewesen sein.»

  «Oh, ja, Geld hatte er. Angeblich 'ne Viertelmillion, die er von seinem Vater geerbt hat. Seine Kumpels hier sind auch nicht gerade arm, aber sie machen nicht auf fein. Sind eher gediegene, bodenständige Leute.»

  Banks fand es immer noch schwer begreiflich, daß sich ein so wohlhabender Mann in einer derartigen Kaschemme aufhielt, ob das Bier nun gut war oder nicht. Von Rechts wegen hätte Steadman eigentlich Champagner schlürfen müssen, aus der Magnum-Flasche, um den Kaviar besser hinunterspülen zu können. Die Vorstellung, seinen Reichtum ungeniert zur Schau zu stellen, mochte vielleicht eher nach London passen, sinnierte Banks. Möglicherweise waren Leute, die sich mit einer Viertelmillion aus freien Stücken in ein Dorf wie Helmthorpe zurückzogen, anders gestrickt, was er bezweifelte. Allerdings war Steadman sicher ein recht ungewöhnlicher Mensch gewesen.

  «Hat wohl gerne einen getrunken, oder?»

  «Aber nie zuviel, soweit ich weiß, Sir. Ich glaube, er fühlte sich einfach wohl mit den Leuten hier.»

  «Weil er froh war, von seiner Frau wegzukommen?»

  Weaver errötete. «Nicht, daß ich wüßte, Sir. Ich habe nie etwas gehört in der Art. Ich weiß nur, daß er ein ulkiger Bursche war.»

  «Inwiefern?»

  «Nun, Sir, wie ich schon sagte, früher war er Professor an der Universität von Leeds, und als er dann die Erbschaft gemacht hat, hat er seinen Job einfach an den Nagel gehängt, den alten Sitz der Ramsdens gekauft und sich hier niedergelassen.»

  «Das Ramsden-Haus?» warf Banks ein. «Hat das vielleicht etwas zu tun mit einem gewissen Michael Ramsden?»

  Weaver zog eine Braue hoch. «Ja, in der Tat, Sir», erwiderte er. «Es war das Haus seiner Eltern und früher eine Privatpension. Zu der Zeit, wo Steadman und seine Frau anfingen, hier ihre Ferien zu verbringen, also etwa vor zehn oder mehr Jahren. Michael studierte an der Universität und bekam dann einen guten Job in einem Londoner Verlag. Als der alte Ramsden starb, konnte Michaels Mutter die Pension nicht alleine weiterführen und zog zu ihrer Schwester nach Torquay. Für Steadman traf sich das alles sehr günstig.»

  Banks betrachtete Weaver mit bewunderndem Staunen. «Wie alt sind Sie eigentlich?» fragte er.

  «Einundzwanzig, Sir.»

  «Und wie bringen Sie es fertig, so viel zu wissen über Dinge, die lange vor Ihrer Zeit passiert sind?»

  «Durch meine Familie, Sir. Ich bin in der Gegend geboren und aufgewachsen. Und durch Sergeant Mullins. Normalerweise schmeißt er den Laden hier, aber im Moment ist er in Urlaub. Und es gibt nicht sehr viel, was unserem Sergeant Mullins entgeht.»

  Banks widmete sich einen Augenblick schweigend seinem Bier und dachte über das Gehörte nach.

  «Was ist mit Steadmans Stammtisch-Freunden?» erkundigte er sich schließlich. «Was sind das für Leute?»

  «Er hat sie selbst zusammengebracht, Sir», antwortete Weaver. «Natürlich kannten sie sich alle schon, bevor er hierher zog, aber Steadman war ein sehr freundlicher, umgänglicher Typ, an allem und jedem interessiert. Wenn er nicht gerade über seinen Büchern saß oder in irgendwelchen Burgruinen und verlassenen Gruben herumwühlte, war er ständig mit Leuten zusammen. Zum Beispiel mit Jack Barker - Sie haben vielleicht schon von ihm gehört?»

  Banks schüttelte den Kopf.

  «Ein Schriftsteller. Schreibt Krimis.» Weaver lächelte. «Ziemlich gute sogar, mit viel Blut, Sex und Spannung.» Er errötete erneut. «Hat natürlich wenig zu tun mit der Wirklichkeit.»

  «Oh, ich weiß nicht so recht», meinte Banks lächelnd. «Aber fahren Sie doch fort.»

  «Nun ja, Sir, er lebt seit drei oder vier Jahren hier. Wo er herkommt, weiß ich nicht. Dann wären da noch Doc Barnes, hier geboren und aufgewachsen, und Teddy Hackett, ein hiesiger Geschäftsmann. Ihm gehört die Tankstelle im Ort, außerdem hat er noch eine Reihe von Andenkenläden. Das wär's soweit. Sie sind alle miteinander um die Vierzig, das heißt, Doc Barnes muß ein paar Jahre älter sein, und Barker ist erst Ende Dreißig. Eigentlich ein ziemlich merkwürdiges Grüppchen, wenn man sich's genau überlegt. Ich hab sie hier ein paar Mal zusammen erlebt, und soweit ich das mitbekommen habe, haben sie Steadman immer ein bißchen auf die Schippe genommen, von wegen Akademiker und so. Aber nicht bösartig, eher auf die nette Art.»

  «Also keine Animositäten? Sind Sie sicher?»

  «Keine, Sir, soweit ich das beurteilen kann. Allerdings bin ich auch leider nicht so oft hier. Weib und Kind, Sie verstehen», fügte er mit strahlender Miene hinzu.

  «Und die Arbeit.»

  «Sicher, die hält mich auch ganz schön in Trab. Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, daß ich die meiste Zeit damit zubringe, diesen gottverdammten Touristen den Weg und die Uhrzeit zu sagen, statt mich um die wichtigen Angelegenheiten kümmern zu können. <Wenn Sie nicht weiterwissen, fragen Sie einen Polizisten> - man müßte den Kerl erschießen, der das in die Welt gesetzt hat.»

  Banks lachte. «Demnach müssen die Einheimischen ja recht gesetzestreue Bürger sein, nicht wahr?»

  «Im großen und ganzen schon. Hin und wieder randalieren ein paar Betrunkene, vor allem an den Disco-Abenden im Hare and Hounds, wie gesagt. Dann gibt's da noch die üblichen Familienkräche, aber die meisten Probleme bescheren uns die Touristen, die ihre Autos überall abstellen und zuviel Krach schlagen. Ansonsten ein friedliches Plätzchen - oder ein langweiliges, wie man's nimmt.»

  An diesem Punkt der Unterhaltung betrat Sergeant Hatchley das Lokal und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Hatchley war ein massiger Mann von Anfang Dreißig, mit blondem Haar und sommersprossigem Gesicht. Banks und er hatten eine leidlich kollegiale Beziehung zueinander entwickelt, ungeachtet einiger Anfangsschwierigkeiten, die teilweise auf der alten Rivalität zwischen Nord und Süd beruhten, teilweise auf den enttäuschten Hoffnungen, die er sich auf Banks' Posten gemacht hatte.

  Hatchley holte eine Runde Bier und entschied sich mit den Kollegen für eine Kalbsnierenpastete, die sich als äußerst schmackhaft erwies. Mit wenig Niere, wie Weaver anerkennend feststellte. Banks machte dem Wirt ein Kompliment und mußte sich mit einem vagen Brummen als Antwort begnügen.

  «Irgendwas Neues?» fragte er den Sergeant.

  Hatchley zündete sich gemächlich eine Zigarette an, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und rieb sich die Bartstoppeln mit einer Hand, die aussah wie ein haariger Vorderschinken. Schließlich räusperte er sich und sagte:

  «Sieht nich so aus. Der olle Tavistock sucht 'n streunendes Schaf und buddelt ganz nebenbei 'ne Leiche aus. Muß verdammt gründlich gesucht haben, der alte Knabe.»

  «Was ist so ungewöhnlich daran, daß er an dieser Mauer rumstochert? Hätten andere das nicht gemacht?»

  «Falls Sie glauben, daß man da einfach 'ne Leiche hinkippen und sich darauf verlassen kann, daß sie wochenlang nicht gefunden wird, sind Sie schief gewickelt. Nein, selbst wenn Tavistock das blöde Vieh nicht gejagt hätte, wär bestimmt bald 'n anderer da vorbeigekommen, 'n Spaziergänger oder 'n Liebespärchen oder so was.»

  Banks nahm einen Schluck Bier. «Dann war es also nicht als Versteck gedacht?»

  «Glaub ich nicht, nein. Ich wette, den hat man uns nur da hingelegt, damit wir ihn über den halben Berg schleppen müssen.»

  Banks lachte. «Ich glaub eher, damit wir nicht herausfinden, wo er getötet wurde.»

  «Aye.»

  «Wieso wurde er eigentlich nicht als vermißt gemeldet?» erkundigte sich Weaver, offenbar bemüht, dem Chief Inspector den Respekt angedeihen zu lassen, den Hatchley zu vermissen schien.

  Banks informierte ihn über die Zusammenhänge. Dann beauftragte er Hatchley, zur Dienststelle nach Eastvale zurückzufahren, die nötigen Hintergrundinformationen über Steadman zu beschaffen und die eingehenden Berichte zu überprüfen.

  «Was ist mit den Pressefritzen?» fragte Hatchley. «Die lungern jetzt schon überall rum.»

  «Sie können ihnen mitteilen, daß wir einen Toten gefunden haben.»

  «Soll ich ihnen verraten, wer es ist?»

  Banks seufzte und bedachte Hatchley mit einem langen, leidenden Blick. «Lassen Sie den Blödsinn. Solange er nicht eindeutig identifiziert ist, werden Sie schön den Mund halten.»

  «Und was werden Sie tun, Sir?»

  «Meine Arbeit», meinte Banks trocken. Zu Weaver gewandt, fuhr er fort: «Und Sie, junger Mann, sollten sich besser wieder auf Ihr Revier verfügen. Wer hat eigentlich Dienst?»

  Weavers rosige Wangen verfärbten sich zu einem tiefen Rot. «Ich, Sir. Zumindest im Moment. Sergeant Mullins ist für zwei Wochen verreist. Ich erwähnte ihn bereits, Sie erinnern sich, Sir?»

  «Ja, natürlich. Und wie viele Männer haben Sie?»

  «Wir sind nur zu zweit hier, das Revier ist ziemlich ruhig. Ich habe ein paar von den Jungs aus Lyndgarth und Fortford zur Unterstützung angefordert, um das Gelände zu durchkämmen. Alles in allem nicht mehr als ein halbes Dutzend.»

  «Nun denn», meinte Banks, «dann werden Sie die Sache wohl in die Hand nehmen müssen. Sorgen Sie also dafür, daß ein Aufruf mit der Bitte um Hinweise gedruckt und an den einschlägigen Stellen ausgehängt wird - in allen Geschäften, Kneipen und am Kirchenbrett -, und dann beginnen Sie mit der Haus-zu-Haus-Befragung über die ganze Hill Road. Schließlich ist der Tote nicht die ganze lange Strecke getragen worden, also ist es durchaus möglich, daß jemand ein Auto gesehen oder gehört hat. Das würde uns zumindest helfen, den Todeszeitpunkt etwas genauer festlegen zu können. Okay?»

  «Jawohl, Sir.»

  «Und machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie noch ein paar Männer brauchen, geben Sie der Dienststelle in Eastvale Bescheid, dort wird man sich darum kümmern. Diesen Michael Ramsden werde ich mir persönlich vornehmen, und was Sergeant Rowe betrifft, so werde ich dafür sorgen, daß auch er seine Instruktionen erhält. »

  Er wandte sich noch einmal an Sergeant Hatchley. «Bevor Sie zurückfahren, werden Sie den Männern draußen auf dem Feld mitteilen, daß sie vorübergehend nach Helmthorpe abkommandiert sind und alle weiteren Anweisungen von Constable Weaver erhalten. Wahrscheinlich haben sich die Leute schon darauf eingestellt, aber wir sollten es doch offiziell machen. Und stellen Sie fest, ob sich unten auf dem Parkplatz ein beigefarbener Sierra befindet.» Er gab Hatchley die Nummer des Kennzeichens und händigte ihm die Autoschlüssel aus. «Es ist Steadmans Wagen», fügte er hinzu. «Sieht zwar nicht danach aus, als hätte er ihn gestern abend noch benutzt, aber man kann nie wissen. Vielleicht hat uns sein Auto ja doch was zu erzählen. Setzen Sie den Erkennungsdienst darauf an.»

  «Ja, Sir», preßte Hatchley mit zusammengebissenen Zähnen hervor und verließ das Lokal. Banks hörte geradezu seinen Zusatzkommentar «Nur immer reichlich, bitte sehr, Sir», den Hatchley sicher loswerden mußte, sobald er draußen war.

  Mit einem breiten Grinsen wandte er sich wieder dem völlig verwirrten jungen Constable zu und sprach: «Keine Sorge, vermutlich hat er nur einen kleinen Kater. Also dann, Weaver, an die Arbeit.»

  Endlich allein, lehnte er sich zurück, zog die frisch erstandene Pfeife aus der Jackentasche und begann sie zu stopfen. Während er ungeschickt mit dem groben Tabak hantierte, hustete er und schüttelte schließlich den Kopf. Er konnte sich einfach nicht gewöhnen an das verdammte Ding; vielleicht war es doch besser, sich wieder auf Zigaretten umzustellen. Auf die milden natürlich.

 

* II

 

Gespannt hatte Sally Banks' Aufbruch verfolgt und sich unverzüglich ebenfalls in Richtung Dorf auf den Weg gemacht. Einmal hatte sie kurz angehalten, um eine Feuernelke aus den Büschen zu pflücken, einen Augenblick lang ihr strahlendes Rot zu bewundern und die Blütenblätter zu betrachten, die sich spreizten wie die winzigen Finger eines Babys. Dann war ihr wieder eingefallen, was sie ihren Freunden alles zu erzählen hatte, und sie war schnell weitergelaufen und ließ die Blume achtlos fallen.

  Sie hatte ihn ganz genau gesehen, diesen Polizisten, der wohl der Chef der ganzen Angelegenheit war. Richtig nahe, und sie mußte jetzt noch kichern, wenn sie daran dachte, wie er beinahe hingeknallt war, als er über die Mauer kraxelte. Man sah sofort, daß er keine Übung hatte mit dem Gelände hier im Norden; wahrscheinlich hatte Scotland Yard ihn hergeschickt. Sein Kopf war ja ganz attraktiv, mit dem kurzgeschorenen schwarzen Haar und dem hageren, kantigen Gesicht darunter - trotz seiner Nase, die offensichtlich schon mal gebrochen und dann nicht ordentlich gerichtet worden war. Die scharfen, ruhelosen Augen verrieten Kraft und Energie, und die kleine weiße Narbe neben dem rechten Auge deutete für Sally auf ein exotisches, abenteuerliches Leben hin. Sie stellte sich vor, wie er mit einem blutrünstigen Mörder gekämpft hatte, auf Leben und Tod. Für einen Polizisten war er ihr zwar ein bißchen klein vorgekommen, dafür aber drahtig, und sein Körper hatte stark und wendig ausgesehen.

  Am westlichen Ende des Dorfes, in der Nähe des Bridge, gab es ein Café, wo sich Sally und ihre Freunde oft aufhielten. Der Kaffee war dünn, die Cola warm und der griechische Wirt ein Ekel, aber zum Ausgleich bot das Lokal zwei Videospiele, eine hochmoderne Jukebox und einen antiken Flipper. Natürlich wäre es Sally lieber gewesen, ein kleines gekonntes Make-up aufzulegen, um in einem richtigen Pub für achtzehn durchzugehen - vorzugsweise an den Disco-Abenden im Hare and Hounds -, aber in einer so kleinen Gemeinde kannte jeder jeden, und sie hatte Angst, daß ihrem Vater etwas zu Ohren kam. Bisher hatte sie es nur mit den Pubs in Eastvale versucht, mit Kevin, obwohl auch das schon riskant war wegen der Schule dort. Auch in Leeds und in York, das war sicherer, und bisher hatte sie noch nie jemand nach ihrem Alter gefragt.

  Die Tür schepperte, als sie das Café betrat und von den vertrauten Piepsern empfangen wurde, die darauf hindeuteten, daß wieder ein paar Dutzend Außerirdische ihr Leben hatten lassen müssen. Kathy Chalmers und Hazel Kirk waren ganz vertieft in ihr Spiel, während Anne Downes daneben stand und sich bemühte, unbeteiligt auszusehen. Anne war ein Bücherwurm, ein reizloses Mädchen mit einer dicken Brille, das trotzdem beachtet und geliebt werden wollte. Und wenn das bedeutete, daß man an Videogames herumhängen mußte - bitte sehr. Die anderen zogen sie ständig auf, wenn auch nicht bösartig, aber glücklicherweise war Anne intelligent und mit einer angeborenen Schlagfertigkeit gesegnet, was ihr half, sich in diesem Kreis zu behaupten.

  Die beiden übrigen Mädchen waren eher wie Sally, wenn nicht gar ebenso hübsch. Sie kauten Kaugummis, schminkten sich (allerdings ungeschickt, im Gegensatz zu Sally) und machten eine Menge Wirbel um Kleider und Frisuren. Kathy war sogar damit durchgekommen, sich das Haar hennarot zu färben. Ihre Eltern hatten zwar getobt, aber schließlich nicht viel ändern können, nachdem es einmal passiert war.

  Die schwarzhaarige Hazel mit dem exotischen Touch nahm als erste Notiz von Sallys Erscheinen. «Sieh mal an, wen haben wir denn da?» verkündete sie. «Wo hast du denn gesteckt, das ganze Wochenende?» Das übermütige Funkeln in ihren Augen verriet, daß sie sehr wohl wrußte, wo Sally gesteckt hatte, und mit wem. Normalerweise spielte Sally mit bei diesem neckischen, geheimnisvollen Getue, das Hazel wahrscheinlich nur aus Romanen kannte, aber heute stand ihr nicht der Sinn nach versteckten Andeutungen. Statt dessen wandte sie sich an den übellaunigen Griechen und bestellte eine Coke. Die Espressomaschine zischte wie eine alte Dampflok, und die Außerirdischen quiekten im Todeskampf. Sie schlenderte hinüber zu dem Videogametisch, lehnte sich an die Säule gegenüber von Anne und wartete ungeduldig auf eine kurze Ruhepause, um endlich ihre Neuigkeiten loswerden zu können.

  Kaum war das Spiel zu Ende, suchte Kathy bereits nach einer neuen Münze. Ein Unternehmen, das es zwingend erforderlich machte, den Rücken zu wölben und die langen Beine weit von sich zu strecken, um die Hand tief genug in die Taschen der hautengen Calvin-Klein-Jeans schieben zu können. Sally beobachtete, wie der Grieche verstohlen hinter seiner Kaffeemaschine hervoräugte, und nutzte die Gunst des Augenblicks, um mit höchstmöglichem dramatischem Effekt zu verkünden:

  «Stellt euch vor - es hat einen Mord gegeben! Hier im Dorf! Eben haben sie die Leiche gefunden, direkt unten am Crow Star. Ich war grade da und hab alles gesehen.»

  Annes farblose Augen weiteten sich hinter den dicken Brillengläsern. «Ein Mord? Ist das der Grund, warum all die Männer da draußen rumlaufen?»

  «Die müssen die Spuren sichern, am Tatort», meinte Sally fachmännisch, in der Hoffnung, die richtige Terminologie getroffen zu haben. «Also am Schauplatz des Verbrechens. Die Laborleute waren da, haben Blutproben genommen und Gewebeproben. Dann der Polizeifotograf und der Leichenbeschauer, die ganze Mannschaft.»

  Kathy hatte das Spiel ganz vergessen und sank auf ihren Stuhl. «Ein Mord? In Helmthorpe?» keuchte sie ungläubig. «Wer denn?»

  In diesem Punkt war Sally nicht ganz auf dem laufenden, was sie allerdings geschickt überspielte, indem sie einfach so tat, als habe Kathy nicht nach dem Toten, sondern nach seinem Mörder gefragt. «Das können sie doch noch gar nicht wissen, du Kamel», antwortete sie bissig, «schließlich ist es grade erst passiert.» Hastig setzte sie ihren Bericht fort, um zu verhindern, daß sich das Interesse wieder den Flottenverbänden der Außerirdischen zuwandte. «Den Superintendent hab ich auch gesehen, direkt vor mir. Echt irrer Typ. Total anders, als man meint. Ich hab sogar die Leiche gesehen. Na ja, 'n Stück jedenfalls. Lag direkt an der Mauer, oben auf Tavistocks Wiese. Unter 'nem Haufen Erde mit Steinen drauf. Hat nur noch 'ne Hand rausgeguckt und 'n Stück Bein.»

  Hazel Kirk ruckte mit dem Kopf und warf eine rabenschwarze Schwinge von Haaren zurück. «Sally Lumb, du bist eine Lügnerin. So weit kannst du gar nicht gucken, und die Polizei hat dich garantiert nicht näher rangelassen.»

  «Kann ich doch», konterte Sally. «Ich hab sogar gesehen, daß er Schweißflecke unterm Arm hatte, der Superintendent!» Zu spät fiel ihr auf, daß dieser Ausbruch nicht ganz paßte zu dem eher romantischen Image, das sie von ihrem «Superintendent» gezeichnet hatte. In der Hoffnung, daß niemand etwas bemerkt hatte - bis auf Anne, die leicht ihre Nase rümpfte -, sprach sie hastig weiter: «Der alte Tavistock war auch da, wahrscheinlich hat er die Leiche entdeckt. Und jede Menge Polizisten, aus der ganzen Gegend. Auch Geoff Weaver.»

  «Dieser Milchbubi mit seiner roten Birne», stellte Kathy gefühllos fest.

  «Heute war er ganz bestimmt nicht rot, das kann ich euch flüstern. Ist ihm wohl schlecht geworden, denk ich.»

  «Dir würd's sicher auch nicht gutgehen, wenn du grade 'ne Leiche gefunden hättest», meinte Anne, um den jungen Mann, für den sie seit sechs Monaten heimlich schwärmte, in Schutz zu nehmen. «Bestimmt war alles verfault und verwest.»

  Sally ignorierte den Einwurf. «Außerdem war da noch ein anderer Inspector oder so was, jedenfalls einer ohne Uniform. Groß und Haare wie Stroh - ungefähr wie dein Vater, Kathy.»

  «Bestimmt Jim Hatchley», stellte Anne fest. «Der ist allerdings nur Sergeant. Mein Vater kennt ihn. Letztes Jahr haben sie doch eingebrochen, in dem Gemeindeklub, wißt ihr noch? Ja, und da haben sie diesen Hatchley geschickt, aus Eastvale. Er war sogar bei uns zu Hause, weil mein Vater doch der Schatzmeister ist vom Klub. Sieht echt aus wie'n Borstenschwein, der Typ. Dem wachsen die Haare sogar aus den Ohren und mitten auf der Nase. Ich wette, der andere ist Chief Inspector Banks. Vor 'ner Weile war'n Bild von ihm in der Zeitung. Lest ihr denn eigentlich nie, was so passiert in der Welt?»

  Annes Redestrom brachte die anderen einen Moment lang zum Schweigen, bis Sally - die ihre Lektüre auf die «Vogue» und die «Cosmopolitan» zu beschränken pflegte - den Faden wiederaufnahm. «Sie müssen jetzt hier sein, im Dorf. Ich hab gesehen, wie sie losgefahren sind, und bin sofort hinterher.»

  «Komisch, daß sie dich nicht gleich mitgenommen haben», frotzelte Hazel, «wo ihr doch schon dicke Freunde zu sein scheint.»

  «Halt die Klappe, Hazel Kirk!» ereiferte sich Sally. Hazel grinste nur. «Ich sage euch - sie sind hier. Und sie werden jeden ausfragen, kapiert? Garantiert wollen sie auch mit uns sprechen.»

  «Warum das denn?» fragte Kathy. «Wir wissen doch überhaupt nichts.»

  «Weil sie das eben immer so machen, du Schaf!» gab Sally zurück. «Sie gehen von Haus zu Haus und fragen jeden einzelnen. Schließlich können sie ja nicht ahnen, daß wir nichts wissen, wenn sie uns nicht wenigstens fragen.»

  Kathy und Hazel verstummten angesichts der Logik des Arguments.

  «Wir wissen ja nicht mal, wer überhaupt das Opfer war», bestätigte Anne. «Habt ihr eine Ahnung, wer es sein könnte?»

  «Wetten, daß es dieser Johnnie Parish war?» meinte Kathy. «Ich finde, er sieht aus, als hätte er 'ne ziemlich bewegte Vergangenheit.»

  «Johnnie Parish!» höhnte Sally. «Meine Güte, der ist doch so harmlos wie... wie...»

  «Wie'n Tripper vielleicht?» schlug Anne vor, und alle lachten. «Aber selbst der wär eigentlich noch spannender als dieser Parish. Nein, ich wette, es war Major Cartwright. Er ist so ein widerlicher, muffiger alter Knopf, daß es bestimmt massenhaft Leute gibt, die ihn gerne um die Ecke bringen würden.»

  «Zum Beispiel seine Tochter», meinte Hazel kichernd.

  «Wieso?» wunderte sich Hazel, von dem Gedanken gepeinigt, von etwas ausgeschlossen zu sein, was offenbar allgemein bekannt war.

  «Naja, du weißt ja», druckste Kathy, «du weißt ja, was die Leute so sagen...»

  «Worüber denn?»

  «Über Major Cartwright und seine Tochter. Wie er sie unter Verschluß hält, seit sie wieder im Dorf ist. Und vor allem, warum sie ihm überhaupt weggelaufen ist. Ist doch nicht normal, irgendwie unnatürlich, sagen jedenfalls die Leute.»

  «Ach, das», meinte Sally wegwerfend, wenn auch ein wenig unsicher, ob sie richtig verstanden hatte, «aber sie hat doch ihre eigene Wohnung. Dieses Cottage bei der Kirche.»

  «Vielleicht ist es Alf Partridge», spekulierte Hazel. «Bestimmt keine leichte Übung mit dem. Jedenfalls hätte man allen einen Riesengefallen getan, wenn man uns den vom Hals geschafft hätte.»

  «Reines Wunschdenken», seufzte Kathy. «Wißt ihr, daß er mich neulich von seinem Land gejagt hat? Dabei hab ich doch bloß Wildblumen gepflückt, für dieses Projekt in der Schule. Hat mit seiner Schrotflinte rumgefuchtelt wie wild.»

  «Hört sich nicht nach Opfer an. Eher macht der selbst jemanden kalt», fand Anne. «Ich frag mich, wer der Mörder war. Was glaubt ihr?»

  «Na ja, er muß ja nicht unbedingt von hier sein», meinte Kathy. «Kann man doch nicht wissen, oder? Ist doch möglich, daß es 'n Fremder war.»

  «Klar war's jemand von hier», behauptete Sally, deutlich verärgert, daß ihre Entdeckungen inzwischen zum Allgemeingut geworden waren. «Ihr glaubt doch wohl nicht, daß jemand mit 'ner Leiche den ganzen Weg von Leeds oder sonstwoher herumkutschiert, nur, um sie dann ausgerechnet hier unterm Crow Star abzulegen, oder?»

  «Möglich wär's schon», verteidigte sich Kathy ohne rechte Überzeugung.

  «Auf jeden Fall geh ich im Dunkeln nicht mehr vor die Tür, bis sie den Kerl erwischt haben.» Schaudernd legte Hazel die Arme um sich. «Vielleicht ist es ja einer von diesen Sexualmördern wie dieser Ripper. Womöglich ist es sogar die Tochter von Major Cartwright, die da oben liegt. Oder diese Mrs. Carey, ihr wißt schon, die neue Kellnerin aus dem Dog and Gun.»

  «Mach dir keine Sorgen», meinte Kathy. «Ein Lustmörder kommt garantiert nicht auf die Idee, sich an dir zu vergreifen.» Es war eine der üblichen freundschaftlichen Frotzeleien, aber niemand ging so recht auf ihren Scherz ein. Die Mädchen wirkten ein wenig zerstreut und schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Kathy errötete und meinte versöhnlich: «Na ja, jedenfalls besser, wenn wir 'n bißchen vorsichtig sind.»

  «Ich wette, es war Jack Barker», erklärte Anne.

  «Wer? Dieser Typ, der die Romane schreibt?» fragte Sally.

  «Sicher. Du weißt doch, was für Romane das sind.»

  «Du hast doch garantiert noch nicht ein Buch von dem gelesen», spottete Kathy.

  «Hab ich doch! Sogar zwei. Den Schlächter vom Redondo Beach und den Messerstecher von San Clemente. Gruselig.»

  «Ich hab auch eins gelesen», meldete Hazel. «An den Titel kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es spielt irgendwo in Amerika und handelt von einem Mann, der zu seinem Strandhaus fährt und im Wohnzimmer die zerstückelten Leichen von zwei Personen findet, die er noch nie gesehen hat. Einfach gräßlich. Ich hab's auch nur gelesen, weil dieser Barker hier bei uns lebt.»

  «Das ist Der Schlächter vom Redondo Beach», erklärte Anne. «So heißt das Buch.»

  Sally fand, daß das Gespräch eine höchst langweilige Wendung genommen hatte. Außerdem war Jack Barker in ihren Augen viel zu gutaussehend und charmant für einen Mörder. Er hatte etwas von den großen alten Filmstars, für die ihre Mutter immer noch schwärmte. Typen wie Errol Flynn, Clark Gable oder Douglas Fairbanks, die alle irgendwie gleich aussahen mit ihren schmalen Schnurrbärten und den pomadeglänzenden, glatt an den Kopf gekämmten Haaren. Ein Mann wie Barker brachte es vielleicht fertig, in einem Anfall von Leidenschaft seine Frau zu erschießen (falls er überhaupt eine hatte), aber sie hinterher wegzuschleppen und am Crow Star zu verbuddeln, das war nicht sein Stil, keine Frage. Dazu war er viel zu sehr Gentleman, was immer das auch für Bücher sein mochten, die er da schrieb.

  Sie trank ihre Coke aus und machte Anstalten zu gehen, nicht ohne vorher noch sibyllinisch zu murmeln: «Die Polizei will mich bestimmt schon längst vernehmen. Ich weiß nämlich was. Ich weiß noch nicht, wer der Mörder ist oder das Opfer - aber ich kann ihnen trotzdem was erzählen, das könnt ihr mir glauben.»

  Damit war sie auch schon zur Tür hinaus. Ratlos staunend blieben die anderen zurück und überlegten, ob sie wohl die Wahrheit gesagt oder einfach nur versucht hatte, sich ein bißchen aufzuspielen.

 

* III

 

Von Helmthorpe aus ist York über zwei Strecken zu erreichen. Die erste windet sich bergauf durch Gratly, führt dann in einer Art Vogelfluglinie quer durch die Dales, um schließlich wenige Meilen vor der Stadt in die Hauptverkehrsstraße einzumünden. Die zweite Strecke ist weiter, dafür aber auch schneller. Sie führt zunächst über die Hauptstraße zurück nach Eastvale und von dort über die belebte York Road weiter in Richtung Südost. In Anbetracht des freundlichen Wetters und der Tatsache, daß für den Besuch bei Ramsden keine besondere Eile geboten war, entschied sich Banks für die erste Strecke.

  Nachdem er die angefangene Kassette wieder in den Rekorder geschoben hatte, fuhr er zu den Klängen von «Oh, Sweet Woods» den Hügel hinan, bog hinter dem Haus der Steadmans nach links ab und folgte der Straße, die sich langsam an den Hängen des Tals hochschraubte. In einem winzigen Dorf namens Mortsett hielt er einen Augenblick an, öffnete das Fenster und bewunderte ein malerisches Cottage mit einem Postschild über dem Eingang und einer Reklametafel für Wall's Ice Cream vor der Tür. Alles war still, bis auf die Insekten, die leise summend durch die warme Luft schwirrten. Ein seltsam unwirkliches Bild, wie von einem England aus den Tagen vor dem Ersten Weltkrieg.

  Nach Relton, an der Einmündung der Fortford Road, schien er die Zivilisation endgültig hinter sich gelassen zu haben. Im Nu war das Grün der Hänge in die dunkleren Tönungen einer heidekrautbestandenen Moorlandschaft übergegangen, die sich über eine Strecke von etwa zwei Meilen hinzog, bis sie sich langsam wieder im angrenzenden Tal verlor. Es war wie ein gemächliches Gleiten über eine sehr sanft geschwungene Achterbahn, nur gelegentlich unterbrochen von vereinzelten Schafen, die verloren über das schmale, kaum von der Landschaft unterscheidbare Asphaltband dahintrotteten. Auch ein paar Wanderer waren zu sehen. Sie traten zur Seite auf die holprige Grasnarbe, lächelten und winkten Banks zu, als er an ihnen vorbeifuhr.

  Der Verkehr auf der Hauptstraße mit ihrem dichten Strom von Lastern und Lieferwagen traf ihn wie ein Schock. Etwa eine Meile vor den Stadträndern Yorks erreichte er die Abzweigung, die ihm Mrs. Steadman beschrieben hatte, einen schmalen Fahrweg mit einer einsamen, leuchtendroten Telefonzelle an der Ecke. Er bog links ab, stieß nach etwa einer Viertelmeile auf den umgebauten Bauernhof, schwenkte in die unbefestigte Auffahrt ein und hielt vor einer offensichtlich neu errichteten Garage.

  Schon beim ersten Klingeln war Ramsden an der Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und fragte Banks nach seinem Namen. Nachdem er dessen Ausweis gesehen hatte, schob er die Sicherheitskette zurück und bat den Inspector herein.

  «Man kann gar nicht vorsichtig genug sein», entschuldigte er sich. «Vor allem, wenn man so abgelegen wohnt.»

  Ramsden war ein großer blasser Mann mit dem leicht melancholischen Aussehen eines romantischen Poeten. Er hatte hellbraunes Haar, das er sich mit einer fahrigen Bewegung permanent aus der Stirn strich, auch wenn dazu kein Anlaß bestand. Jeans und Sweatshirt flatterten an ihm herum, als sei beides eine Nummer zu groß.

  «Entschuldigen Sie bitte die Unordnung», bat er, als er Banks in ein vollgestopftes Wohnzimmer führte und ihm einen Sessel neben dem riesigen, leeren Kamin anbot. «Sie sehen ja, ich renoviere. Ich war gerade fertig mit dem Vorstrich.» Ein Teil des Bodens war mit einer durchsichtigen Plastikplane bedeckt, auf der eine Trittleiter stand, zusammen mit einem Eimer blaßblauer Farbe, Rolle, Abtropfgitter, Pinseln und Terpentin. «Es geht doch wohl nicht wieder um diese Frau, oder?» erkundigte er sich.

  «Welche Frau?»

  «Vor ein paar Monaten haben irgendwelche Einbrecher ganz in der Nähe eine alte Frau umgebracht, und die Polizei hat ständig hier herumgeschnüffelt. »

  «Damit hab ich nichts zu tun, Sir, das ist Sache der hiesigen Behörden. Ich bin von der Mordkommission in Eastvale.»

  Ramsden runzelte die Stirn. «Wenn das so ist, dann verstehe ich nicht ganz... Verzeihen Sie, ich will nicht unhöflich sein, aber...»

  «Tut mir leid, Sir», antwortete Banks und griff nach dem WhiskySoda, den ihm Ramsden unaufgefordert eingeschenkt hatte, «ich weiß nicht so recht, wie ich es Ihnen sagen soll. Wollen Sie sich nicht lieber setzen?»

  «Was ist?» fragte Ramsden, deutlich beunruhigt, und ließ sich etwas ungeschickt auf einem kleinen Sessel nieder.

  «Soweit ich weiß, sollten Sie doch gestern abend Besuch bekommen von Mr. Steadman, nicht wahr?»

  «Harry? Ja, das stimmt. Wir wollten noch ein paar Aufzeichnungen durchgehen vor der heutigen Exkursion. Warum? Ist etwas passiert?»

  «Ich fürchte, ja», antwortete Banks behutsam und spürte, wie sich seine Bauchmuskeln anspannten. «Mr. Steadman ist tot.»

  Ramsden strich die imaginäre Stirnlocke zurück. «Ich kann Ihnen nicht ganz folgen... Tot? Aber er sollte doch hierherkommen...»

  «Ich weiß, Mr. Ramsden, eben deshalb wollte ich Ihnen die Nachricht persönlich überbringen. Sie müssen sich doch gewundert haben, daß er nicht auftauchte. Waren Sie denn nicht beunruhigt?»

  Ramsden schüttelte den Kopf. «Nein... nein, selbstverständlich nicht. Schließlich war es nicht das erste Mal, daß er nicht kam. Sind Sie denn wirklich ganz sicher? Daß es Harry ist, meine ich? Könnte es sich vielleicht um eine Verwechslung handeln?»

  «Ich fürchte, nein.»

  «Was, um alles in der Welt, ist denn passiert?»

  «Die Einzelheiten sind uns vorläufig noch nicht bekannt, Sir. Ich kann Ihnen nur sagen, daß man heute morgen seine Leiche gefunden hat, auf einem Feld am Crow Star. Wir müssen annehmen, daß er ermordet wurde.»

  «Ermordet? Harry? Ich kann es einfach nicht glauben.»

  «Sie kennen niemanden, der einen Grund gehabt haben könnte zu dieser Tat?»

  «Absolut nicht. Niemanden. Nicht bei Harry.» Er rieb sich das Gesicht und starrte Banks fassungslos an. «Verzeihen Sie, Chief Inspector, ich bin etwas durcheinander. Das will mir alles gar nicht in den Kopf. Wir kennen uns schon so lange, Harry und ich, ewig lange. Das ist ein richtiger Schock für mich.»

  «Das kann ich mir vorstellen, Sir», meinte Banks, «aber vielleicht könnten Sie sich trotzdem die Zeit nehmen, mir einige Fragen zu beantworten. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.»

  «Ja, selbstverständlich.» Ramsden stand auf und machte sich ebenfalls einen Whisky zurecht.

  «Wie Sie sagten, ist es also schon häufiger vorgekommen, daß er eine Verabredung nicht einhielt?»

  «Ja, wir haben das nicht so formell gehandhabt. Es waren eher zwanglose Treffen.»

  «Welche Gründe hatte er, wenn er nicht kam?»

  «Einmal war es wegen Emma. Sie hat sich nicht wohl gefühlt, und er konnte nicht weg. Und ein anderes Mal hatte er selbst was am Magen, solche Sachen eben. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis, Chief Inspector. Sein Bett hier war jederzeit bereit, außerdem hatte er einen Schlüssel für den Fall, daß ich aus dem Haus mußte.»

  «Ist es Ihnen nicht in den Sinn gekommen, ihn anzurufen und zu fragen, was los war?»

  «Ganz und gar nicht. Wie gesagt, wir waren eher zwanglos verabredet. Außerdem habe ich hier kein Telefon, ich hänge im Büro schon mehr als genug an der Strippe, und die nächste öffentliche Telefonzelle liegt ziemlich weit weg an der Hauptstraße.» Er schüttelte den Kopf. «Ich kann's immer noch nicht fassen. Harry und tot? Das ist wie ein böser Traum.»

  «Sind Sie gestern abend ausgegangen?»

  Ramsden schaute ihn verständnislos an.

  «Sie sagten doch, Mr. Steadman habe einen Schlüssel, um ins Haus zu kommen, wenn Sie nicht da waren», erinnerte ihn Banks. «War das gestern der Fall?»

  «Nein, ich war hier. Und als Harry so gegen elf noch nicht aufgetaucht war, war ich eigentlich eher... nicht, daß Sie mich falsch verstehen, aber ich war eher ein wenig erleichtert. Wissen Sie, ich arbeite selbst auch an einem Buch, an einem historischen Roman, und war ganz dankbar für die Gelegenheit, ein Stück weiterzukommen mit dem Schreiben.» Das Bekenntnis schien ihn verlegen zu machen.

  «Hatten Sie etwas gegen die Zusammenarbeit mit Mr. Steadman?»

  «Oh, durchaus nicht, aber das Buch ist schließlich sein Baby. Ich bin nur der Herausgeber und helfe bei den Recherchen.»

  «Wo sollte es denn heute hingehen?»

  «Wir hatten vor, eine stillgelegte Bleimine in Swaledale zu besichtigen. Es ist eine ganz schöne Strecke bis dahin, und deshalb wollten wir auch möglichst früh aufbrechen... Emma!» rief er unvermittelt. «Emma muß ja in einer schrecklichen Verfassung sein!»

  «Sie ist ziemlich durcheinander, das ist wahr», erklärte Banks, «aber Mrs. Stanton, die Nachbarin, ist bei ihr und kümmert sich um sie.»

  «Meinen Sie, ich sollte nach ihr sehen?»

  «Das steht Ihnen selbstverständlich frei, Mr. Ramsden, aber ich würde sagen, daß man sie für heute vielleicht besser in Ruhe läßt. Außerdem ist sie vorläufig wohl in guten Händen.»

  Ramsden nickte. «Natürlich, selbstverständlich...»

  «Was ist mit Ihnen? Kommen Sie zurecht?»

  «Ja, ich denke schon. Es war nur der Schock eben... Immerhin war ich seit über zehn Jahren mit ihm befreundet.»

  «Könnten wir uns möglicherweise später noch einmal unterhalten? Über ein paar Hintergründe und solche Dinge?»

  «Sicher, das läßt sich machen. Und wann?»

  «So bald wie möglich. Wie wär's mit Dienstag vormittag? Bis dahin wissen wir vielleicht schon etwas mehr.»

  «Ich werde im Verlag sein, Fisher & Faulkner. Im Moment ist nicht so schrecklich viel zu tun. Wenn Sie also im Büro vorbeikommen wollen...»

  «Ja, das läßt sich machen.»

  Banks ließ sich noch den Weg zum Verlagsgebäude beschreiben, dann verließ er Ramsden und machte sich auf die Heimfahrt nach Eastvale, diesmal über die kürzeste Strecke. Auf der Dienststelle erfuhr er, daß ihn Superintendent Gristhorpe bei sich zu Hause zum Tee erwartete. Nach einem kurzen Telefonat mit Sandra, die mit gewohnter Gelassenheit auf sein Ausbleiben reagierte, überprüfte er die eingegangenen Meldungen und stellte fest, daß sich während seines Besuchs bei Ramsden nichts Wichtiges getan hatte. Anschließend machte er sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg nach Helmthorpe. Da es erst drei Uhr war und ihn Gristhorpe nicht vor fünf erwartete, blieb ihm reichlich Zeit, sich zu informieren, wie die Beamten vor Ort mit der Arbeit vorankamen.

  Die Polizeiwache von Helmthorpe bestand aus einem umgebauten Cottage in einer schmalen, mit Kopfstein gepflasterten Straße, die vom östlichen Ende der High Street abzweigte und zum Fluß hinunterführte. Weaver fotokopierte gerade einen weiteren Satz von Aufrufen zur Information und erklärte, daß sich drei der Constables immer noch bei der Haus-zu-Haus-Befragung an der Hill Road aufhielten, während ein vierter dazu abgestellt sei, sich auf dem Campingplatz umzuhören.

  Banks ahnte schon, daß ihnen dieser Campingplatz noch einiges Kopfzerbrechen bereiten würde. Immerhin galt es herauszufinden, wer am Samstag dort übernachtet hatte, aber da die meisten Camper inzwischen längst weitergezogen waren, war es wohl nachgerade illusorisch, hier auf brauchbare oder gar verläßliche Informationen zu hoffen.

  Auch mit der Presse würde man sich noch zu befassen haben. Wie Hatchley bereits zutreffend vorausgesagt hatte, lauerten neben Reg Summers, dem Vertreter des lokalen Wochenblatts, bereits zwei weitere Reporter vor den Türen des Reviers und stürzten sich mit gezogenem Notizblock auf jeden, der hier ein- oder ausging. Banks legte zwar Wert auf gute Beziehungen zu den Vertretern der Presse, sah sich aber in diesem frühen Stadium der Ermittlungen außerstande, ihnen verwertbare Informationen zu geben. Um sie dennoch nicht zu verprellen und sie bei Laune zu halten - was sich vielleicht später noch als nützlich erwies zeigte er sich äußerst liebenswürdig, gab aber nur das Allernotwendigste preis.

  Um zwanzig vor fünf überließ er Weaver seinen Pflichten und machte sich auf den Weg zur Gristhorpe. Auf der Fahrt beschloß er, am Abend ins Bridge zu gehen und Steadmans Zechgenossen unter die Lupe zu nehmen. Möglich, daß die Herren ein wenig ergiebiger waren als die bisherigen Zeugen.