Am nächsten Morgen machte sich Banks auf den Weg nach York, um Michael Ramsden einen zweiten Besuch abzustatten. Zuvor hatte er Sergeant Hatchley beauftragt, nach Helmthorpe zu fahren, Harold Steadmans Arbeitszimmer zu durchsuchen und Teddy Hackett zur Vernehmung aufs Revier zu bringen.
Es war etwa elf Uhr, als er die Randsiedlungen Yorks mit ihren bescheidenen Backsteinkasten hinter sich hatte und sich dem römischen Altstadtkern näherte. Nach einer halbstündigen Irrfahrt durch das verschlungene System der Einbahnstraßen fand er schließlich einen Parkplatz am Ufer des Ouse und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Fisher & Faulkner, einem flachen, häßlichen Backsteinbau auf der anderen Seite der Brücke. Auf den Straßen herrschte lebhaftes Treiben.
Ein auffallend eleganter Portier wies ihm den Weg in den dritten Stock, wo ihn einer von Ramsdens Assistenten empfing und zum Büro des Chefs führte.
Ramsdens Arbeitszimmer bot freie Aussicht auf den Fluß, wo sich eben ein Ausflugsdampfer tuckernd seinen Weg bahnte. Auf dem Oberdeck hatte sich eine bunte Menge von sommerlich gekleideten Touristen versammelt. Die Objektive der Fotokameras blitzten im Sonnenlicht, während der Dampfer gemächlich dahinzog, eine immer weiter werdende Heckwelle hinterlassend, in der ein paar kleinere Ruderboote heftig auf und ab schaukelten.
Das Büro war eher klein und vollgestopft mit Büchern und Papieren. Berge von Manuskripten stapelten sich an den Seiten des Schreibtischs und der Aktenschränke oder waren achtlos auf dem Boden verstreut, zwei Bücherregale enthielten eine Sammlung der bei Fisher & Faulkner erschienenen Titel. Ramsden selbst sah auch im gedeckten Businessanzug immer noch jungenhaft aus und vermittelte den Eindruck eines leicht geistesabwesenden Atomphysikers, der einem Laien die Grundsätze der Kernspaltung auseinandersetzt und gleichzeitig in seinem Kopf irgendwelche komplizierten Formeln entwickelt. Mechanisch seine imaginäre Haartolle aus der Stirn streichend, begrüßte er Banks und bat ihn, Platz zu nehmen.
«Sie waren doch ein enger Freund von Harold Steadman», begann Banks, «könnten Sie mir vielleicht etwas Näheres über ihn erzählen? Über seine Hintergründe, wann und wie Sie ihn kennengelernt haben und so weiter.»
Ramsden lehnte sich in seinen Drehsessel und schlug die langen Beine übereinander. «Wissen Sie», meinte er und blickte zur Seite aus dem Fenster, «ich hatte eigentlich immer so etwas wie Ehrfurcht vor Harry. Nicht nur, weil er fast fünfzehn Jahre älter war - das hat im Grunde nie eine Rolle gespielt -, sondern weil wir wahrscheinlich nie so ganz über das Lehrer-Schüler-Verhältnis weggekommen sind. Als wir uns kennenlernten, war er Lehrbeauftragter in Leeds, während ich gerade mein Studium in London begann. Wir waren also weder an der gleichen Universität noch im gleichen Fach, obwohl sich diese Vorstellung heute in den Köpfen festgesetzt hat. Ich war achtzehn damals und Harry dreiunddreißig. Er war hoch intelligent und äußerst engagiert - also genau die richtige Identifikationsfigur für einen jungen Menschen wie mich.
Wie dem auch sei... Obwohl ich, wie gesagt, nach London wollte, um zu studieren, war ich zu Weihnachten und im Sommer immer zu Hause, um meinen Eltern zu helfen, das Frühstück zu machen für die Gäste und jede Menge anderer Sachen. Ich war gerne zu Hause, weil ich die Natur und die Landschaft hier liebe. Am schönsten war es, wenn Harry und Emma kamen und ihre Ferien bei uns verbrachten. Ich ging oft stundenlang spazieren, mal allein, mal mit Harold oder mit Penny.»
«Penny?» unterbrach ihn Banks. «Sprechen Sie von Penny Cartwright?»
«Ja, genau. Wir waren viel zusammen, bis ich dann nach London ging.»
«Erzählen Sie weiter.»
«Wir gingen auch aus miteinander, ganz selbstverständlich und in aller Unschuld. Sie war damals sechzehn, und wir kannten uns von Kindesbeinen an. Eine Zeitlang hat sie sogar bei uns gewohnt, nach dem Tod ihrer Mutter.»
«Wie alt war sie da?»
«Oh, ungefähr zehn oder elf. Es war eine echte Tragödie, das Ganze. Mrs. Cartwright ertrank bei einer Springflut, einfach schrecklich, und Pennys Vater bekam einen Nervenzusammenbruch, so daß wir sie eine Weile bei uns aufnahmen, bis er sich wieder erholt hatte. Insofern schien es uns ganz natürlich, daß wir später... nun ja, wir waren dann schon ein bißchen älter, Sie verstehen... Wie dem auch sei - Harold war jedenfalls begeistert von der Gegend und äußerst kenntnisreich hinsichtlich ihrer Geschichte. Er fühlte sich sofort hingezogen zu diesem Tal und wußte bald mehr darüber als jemand wie ich, der sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Das war typisch für ihn, und ich war natürlich entsprechend beeindruckt, aber da ich vorhatte, Englisch zu studieren, war ich ganz auf Literatur fixiert und zitierte ständig Wordsworth und solches Zeug... Ich vermute, Sie wissen bereits, daß er unser Haus kaufte, nachdem Mutter den Pensionsbetrieb nicht mehr allein halten konnte?»
Banks nickte.
«Nun ja», fuhr Ramsden fort, «sie kamen also jedes Jahr, Harry und Emma, gehörten sozusagen zur Familie und haben uns in der Zeit nach Vaters Tod sehr geholfen. Für Harry hatte das auch sein Gutes, denn seine Arbeit an der Universität war zu abstrakt, zu theoretisch. Er veröffentlichte ein Buch mit dem Titel Grundbegriffe der Industriearchäologie, hatte aber eigentlich nur eins im Sinn: diese Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Obwohl ihm die Pflichten an der Universität dazu nicht genügend Zeit ließen, hatte er fest vor, seinen Lehrauftrag wieder wahrzunehmen, wollte jedoch vorher noch ein wenig echte Pionierarbeit leisten. Und nachdem er geerbt hatte, war das alles endlich realisierbar.
Ich bin nach meinem Examen zuerst zu Fisher & Faulkner nach London gegangen, bis die Zweigstelle hier im Norden gebaut wurde und man mir diesen Posten anbot. Ich hatte mich nie im Süden heimisch gefühlt und war froh, mir eines Tages hier im Norden eine Existenz aufbauen zu können. Wir gaben also Harrys zweites Buch heraus, und so entwickelte sich eine sehr angenehme berufliche Zusammenarbeit zwischen Harry und mir. Unser Verlag ist auf wissenschaftliche Publikationen spezialisiert, wie Sie sehen.» Er deutete auf die vollgestopften Regale, und Banks stellte fest, daß bei den meisten Buchtiteln Begriffe wie «Prinzipien» und «Studien» vorkamen. «Wir verlegen überwiegend literaturwissenschaftliche und historisch-landeskundliche Abhandlungen», fuhr Ramsden fort. «Harrys drittes Buch war eine Sammlung einschlägiger Essays, und seither haben wir an einer umfassenden historischen Darstellung der hiesigen Industriearchäologie von den Zeiten der Römer bis zur Gegenwart gearbeitet. Gelegentlich hat Harry auch Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, aber diese letzte Arbeit war eigentlich sein Hauptwerk und wurde von der Fachwelt ungeduldig erwartet.»
«Was versteht man überhaupt unter Industriearchäologie?» erkundigte sich Banks. «Ich habe den Begriff in letzter Zeit ziemlich häufig gehört, aber leider nur eine recht vage Vorstellung davon.»
«Damit geht es Ihnen vermutlich nicht schlechter als den meisten Fachleuten», erwiderte Ramsden. «Einstweilen handelt es sich dabei noch um eine recht junge Disziplin. Ursprünglich faßte man unter diesem Begriff die wissenschaftliche Erkundung und Beschreibung der Maschinen und Arbeitsmethoden aus der Zeit der industriellen Revolution zusammen; aber dann erweiterte man ihn mehr und mehr um andere Technikperioden - wie beispielsweise die Bleigewinnung in den Minen der römischen Zeit. Vielleicht könnte man sagen, daß sich die Industriearchäologie mit der Erforschung und Beschreibung von industriellen Artefakten und Prozessen beschäftigt, wobei man allerdings noch endlos darüber diskutieren könnte, was unter dem Begriff <industriell> zu verstehen ist. Erschwerend kommt hinzu, daß sich bei diesem Gebiet die Grenzen zwischen Hobby und akademischer Disziplin nicht eindeutig ausmachen lassen. Beispielsweise kann jemand, der sich zufällig für die Entstehungsgeschichte von Dampfeisenbahnen interessiert, durchaus zu bedeutenden Erkenntnissen auf diesem Gebiet kommen, obwohl er ansonsten fünf Tage in der Woche von neun bis fünf an seinem Bankschalter sitzt.»
«Ich verstehe», meinte Banks, «demnach handelt es sich also um eine Art akademischer Zwitter, ein weites Feld sozusagen?»
«So ungefähr. Bis jetzt jedenfalls ist noch niemandem eine befriedigende und verbindliche Definition eingefallen - was sicher einen erheblichen Teil der Faszination ausmacht.»
«Könnte es sein, daß Mr. Steadmans Tod auf irgendeine Weise mit seiner Arbeit zu tun hat?»
Ramsden schüttelte bedächtig den Kopf. «Das kann ich mir nicht vorstellen, nein. Natürlich gibt es immer irgendwelche Fehden und Konkurrenzkämpfe, wie in jeder anderen Disziplin, aber ich glaube nicht, daß man die Dinge derartig auf die Spitze treiben würde.»
«Hatte er Rivalen?»
«Beruflich schon. Die Universitäten sind voll davon.»
«Hatte er möglicherweise etwas entdeckt, was jemand anderer lieber geheimgehalten hätte?»
Ramsden dachte einen Augenblick nach, das spitze Kinn auf die knochige Hand gestützt. «So was wie irgendwelche finsteren Machenschaften in der Vergangenheit einer prominenten Familie zum Beispiel?»
«Was auch immer.»
«Eine interessante Frage, die ich aber leider weder bejahen noch verneinen kann. Wenn es so war, hat er mir jedenfalls nichts davon gesagt. Immerhin, möglich ist es schon. Allerdings liegt die industrielle Revolution schon ziemlich weit zurück, und Sie müßten wohl mächtig tief graben, wenn Sie noch auf irgendwelche Erben von Leuten stoßen wollen, die ihr Geld mit Kinderarbeit oder dergleichen verdient haben - was übrigens damals durchaus üblich war. Und ich glaube auch nicht, daß man hier so schrecklich viele direkte Nachfahren der alten Römer trifft, die noch irgend etwas zu verbergen hätten.»
Banks lächelte. «Nein, wahrscheinlich nicht. Was ist mit Feinden, akademischen oder sonstwelchen?»
«Harry? Großer Gott, das kann ich mir nicht denken. Er war nicht der Typ, der sich Feinde machte.»
Banks verzichtete auf eine Stellungnahme zu dieser nichtssagenden Äußerung. «Wissen Sie etwas über diese Grundstücksgeschichte mit Teddy Hackett?» fragte er statt dessen.
Ramsden warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. «Ihnen entgeht wohl so schnell nichts, wie?» meinte er. «Ja, in der Tat. Soweit ich weiß, ging es dabei um ein Stück Uferwiese in Helmthorpe, in der Nähe des Kricketfelds. Es hieß Crabtree Field, nach seinem Besitzer. Einem Bauern, der aber inzwischen schon lange tot ist. Es gibt da eine kleine Brücke, die das Grundstück mit dem Campingplatz auf der anderen Flußseite verbindet, und Hackett möchte den Campern wohl gerne mehr <Annehmlichkeiten> verschaffen - worunter er zweifellos irgendwelche Videospiele und Junk Food versteht. Ich nehme an, Sie werden wohl auch schon bemerkt haben, wie die Amerikanisierung immer mehr auch aufs Land übergreift, Chief Inspector. Überall schießen die McDonald's aus der Erde, sogar in einem Dorf wie Helmthorpe. Harold hatte jedoch Grund zu der Annahme - und er hat mir die Beweise dafür vorgetragen -, daß sich früher an dieser Stelle ein römisches Lager befunden hatte. Da es sich offenbar um eine sehr bedeutende Entdeckung handelte, hat er die örtlichen Behörden veranlassen wollen, das Gelände zu schützen und für Ausgrabungen zur Verfügung zu stellen. Natürlich hat das zu einigen Spannungen geführt, zwischen ihm und Teddy Hackett. Trotzdem sind sie Freunde geblieben, und ich glaube eigentlich nicht, daß es sich um einen wirklich ernsten Streit gehandelt hat.»
«Nicht ernst genug, um zu einem Mord zu führen?»
«Nein, meiner Meinung nach nicht.» Ramsden drehte sich wieder zur Seite und schaute über den Fluß auf die schimmernden Türme des Münsters. «Sie waren recht enge Freunde, weiß der Himmel, warum, wenn man bedenkt, daß ihre Ansichten in praktisch allen Punkten diametral entgegengesetzt waren. Harry diskutierte gern, einfach so - das war sicher der Akademiker in ihm -, und Hackett ist zumindest ein leidlich intelligenter, wenn auch nicht besonders geschmackvoller Gegner. Ich fürchte, Sie werden wohl Harrys übrige Freunde im Dorf fragen müssen, wie ernst dieser Streit wirklich war. Ich selbst war nicht oft genug dabei, um das beurteilen zu können. Kann es sein, daß Sie die beiden schon kennengelernt haben, den Doktor und diesen Dorfschreiber?»
Banks nickte. «Kennen Sie die Herren?»
«Ein wenig, aber nicht sehr gut. Wie gesagt, ich komme nicht so oft nach Helmthorpe, wie ich gerne möchte. Doc Barnes gehört zum Dorf, solange ich denken kann, und wir haben ein- oder zweimal einen feuchtfröhlichen Abend verbracht, im Bridge. Als dann Jack Barker vor drei oder vier Jahren auftauchte, gab es natürlich zu Anfang eine Menge Aufregung, die sich aber bald wieder legte, als sich herausstellte, daß er sich nicht wesentlich unterscheidet vom Rest der Welt.»
«Wo kam er eigentlich her? Was hatte ihn veranlaßt, ausgerechnet nach Gratly zu ziehen?»
«Keine Ahnung, tut mir leid. Ich meine zwar, mich zu erinnern, daß er irgendwo aus Cheshire kommt, aber beschwören möcht ich das nicht. Sie werden ihn wohl selbst fragen müssen.»
«Kannte er Mr. Steadman, bevor er nach Gratly umsiedelte?»
«Nicht, daß ich wüßte. Harry hat ihn jedenfalls nie erwähnt.»
«Gibt Ihre Firma auch seine Bücher heraus?»
«Um Gottes willen, nein!» Ramsden gab ein seltsam röchelndes Schnauben von sich, das Banks als Lachen interpretierte. «Ich sagte Ihnen doch, auf welche Gebiete wir uns spezialisiert haben, und soweit ich weiß, schreibt Barker irgendwelche Taschenbücher.»
«Hat Ihnen Mr. Steadman jemals etwas erzählt über Barnes oder Jack Barker?»
«Eine ganze Menge. Denken Sie an etwas Bestimmtes?»
«Hat er Ihnen zum Beispiel Dinge erzählt, bei denen Ihnen der Gedanke gekommen ist, daß die Herren vielleicht nicht besonders fröhlich wären, wenn das allgemein bekannt würde?»
«Wollen Sie damit etwa andeuten, daß Harry ein Erpresser war?»
«Keineswegs. Aber wenn er doch etwas wußte, konnten die andern doch nicht sicher sein, wie er dieses Wissen verwenden würde, nicht wahr? Sie sagen, er war ein anständiger, rechtschaffener Mann - was würde er wohl Ihrer Meinung nach getan haben, wenn man ihn in irgendwelche illegalen oder unmoralischen Angelegenheiten verwikkelt hätte?»
«Ich verstehe, was Sie sagen wollen», meinte Ramsden und trommelte mit einem gelben Stift gegen die Zähne seines Unterkiefers. «Natürlich hätte er das einzig Richtige getan und die entsprechenden Behörden informiert. Trotzdem kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Er hat nie die geringste Andeutung darüber fallenlassen, daß Barnes oder Barker irgend etwas Ungesetzliches getan hätten.»
«Was ist mit Penny Cartwright?»
«Was soll mit ihr sein? Über sie hat Harry ganz bestimmt nichts Abfälliges gesagt.»
«Wie sind Ihre Beziehungen zu der Dame?»
Ramsden zögerte einen Moment. «Ich glaube nicht, daß Sie das etwas angeht.»
«Wie Sie meinen.»
«Das alles ist so lange her. Und es war sicher nichts Seltsames daran. Insofern seh ich nicht ganz, was es Ihnen nützen würde, das zu wissen.»
Banks blieb stumm.
«Na, schön, was soll's, zum Teufel?» meinte Ramsden. «Wie ich schon sagte - wir waren gute Freunde, bis sich unsere Wege trennten. Wir lebten zwar beide in London, ungefähr zur selben Zeit, bewegten uns aber in unterschiedlichen Kreisen. Da sie Sängerin war, hing sie immer mit irgendwelchen Musikern herum. Außerdem gab sie sich gerne rebellisch, ließ keine Gelegenheit aus, um zu beweisen, daß sie anders war als der Durchschnitt, Sie verstehen? Sie brachte ein paar Platten heraus und machte sogar Tourneen durch Europa und Amerika, soviel ich weiß. Mit guter alter Folkmusic - zu Anfang jedenfalls -, etwas verjazzt allerdings, mit Synthesizern und anderen elektronischen Instrumenten. Schließlich hatte sie genug vom schnellen Leben und kam zurück nach Hause. Ihr Vater nahm sie in Gnaden wieder auf, und sie ließ sich in ihrem Cottage nieder. Abgesehen davon, daß der alte Herr seine Fürsorge gelegentlich etwas übertreibt, führt sie alles in allem ihr eigenes Leben und tritt manchmal auch noch auf, in den hiesigen Pubs.»
«Was ist das für ein Mensch, ihr Vater?»
«Der Major? Gerechterweise muß man sagen, daß er den Tod seiner Frau wohl nie so ganz verwunden hat, aber er ist schon ein etwas komischer Vogel. Haust direkt an der High Street - über dem Buchladen des alten Thadtwistle - und teilt sich die Wohnung mit seinem Hund. Zumindest, seit Penny ausgezogen ist, was übrigens zu allerhand Spekulationen geführt hat. Ich sollte vielleicht nicht darüber reden, es ist nur der übliche dumme Dorfklatsch.»
«Keine Sorge, Mr. Ramsden, ich lasse mir nicht so schnell einen Bären aufbinden.»
Ramsden schluckte, sein Adamsapfel hüpfte einmal kurz auf und ab. «Es hieß, Vater und Tochter wären sich ein bißchen zu nahe gekommen nach dem Tod der Mutter. Angeblich sollte Penny ihren Platz in Vaters Bett einnehmen und ist deshalb so früh von zu Hause weggegangen. Wenn Sie meine Meinung dazu wissen wollen - so ganz unüblich ist so was nicht in dieser Gegend.»
Banks nickte. «Glauben Sie, daß es stimmt?»
«Nein, keine Sekunde. Aber Sie wissen, wie rachsüchtig diese Klatschmäuler sein können.»
«Was hatte man denn gegen die Cartwrights?»
Ramsden nahm seinen Stift wieder zur Hand und begann, ihn zwischen den Fingern hin und her zu rollen. «Man fand sie ein bißchen hochnäsig, das ist alles. Der Major gab sich immer sehr reserviert, und seine Frau war eine Zugereiste. Die Leute hier im Dale waren eben früher sehr viel engstirniger als heute, wo es überall jede Menge Ortsfremde gibt. Aber selbst jetzt gibt es hier noch Leute, die Penny für ein Flittchen halten.»
«Sie haben ihr doch recht nahegestanden. Hat sie jemals etwas davon erwähnt?»
«Nein, nie. Und ich denke, sie hätte es getan, wenn wirklich etwas Anormales vorgefallen wäre.»
«Hatte sie gute Kontakte zu Mr. Steadman?»
«Ja, die beiden waren sehr gute Freunde. Penny weiß eine Menge über Traditionen und Volksbräuche - durch ihre Musik, wissen Sie -, und Harold war immer begierig, etwas Neues zu lernen. Sie hat ihm sogar beigebracht, Gitarre zu spielen. Außerdem war sie nach ihrem Ausflug in die Welt des Glamours eine Zeitlang ziemlich desorientiert, und der Umgang mit Harry hat ihr sehr geholfen. Er hielt große Stücke auf Penny, sie machten lange Wanderungen, beobachteten die Vögel und die wilden Blumen und redeten über die Vergangenheit.»
Das mußte man weiterverfolgen, dachte Banks, aber für den Augenblick sollte es genügen. Bevor er weitere Fragen stellte, mußten die bisherigen Informationen erst einmal analysiert und verarbeitet werden.
Er dankte Ramsden, verabschiedete sich von ihm und überquerte den träge dahinfließenden Ouse, um zu seinem Wagen zu gelangen.
Beim ersten einigermaßen einladend wirkenden Dorfgasthof am Weg hielt er an und gönnte sich ein spätes, aber gemütliches Mittagessen mit Shepherd's Pie und einem guten, frisch gezapften Bitter der Marke Sam Smith's Old Brewery. Begleitet von den Melodien Henry Purcells, setzte er schließlich seine Fahrt nach Eastvale fort und ließ im Geist noch einmal Revue passieren, welche Personen mit welchen möglichen Motiven und Gelegenheiten in diesen Fall verwickelt waren.
Da war zunächst Teddy Hackett. Diese Grundstückssache war möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Wenn sich Steadman schon bei anderen, ähnlichen Projekten quergelegt hatte, mochte Hackett Grund genug gehabt haben, ihn loszuwerden.
Was Jack Barker betraf, so hatte er auf den ersten Blick zwar kein Motiv, allerdings auch kein Alibi, wie er selbst noch am Sonntag im Bridge eingeräumt hatte. Und sein Blick auf Penny Cartwright hatte Bände gesprochen. Wenn Steadmans Beziehung zu ihr möglicherweise enger gewesen war, als Ramsden zugegeben hatte, konnte durchaus Eifersucht im Spiel sein und damit ein sehr starkes Tatmotiv.
Das Alibi dieses Dr. Barnes war nicht annähernd so wasserdicht, wie er selbst zu glauben schien. Damit war er noch im Rennen, obschon sich bislang keine Hinweise auf ein Tatmotiv ergeben hatten.
Emma Steadman mit einzubeziehen, machte hingegen wenig Sinn. Zum einen war sie Linkshänderin, zum andern hatte sie den ganzen Abend über mit Mrs. Stanton vor dem Fernseher gesessen. Blieb die Sache mit dem Geld. Sie hatte eine Menge zu gewinnen durch den Tod ihres Mannes, vor allem, wenn die Beziehung der beiden nicht mehr allzu harmonisch gewesen war. Vielleicht hatte sie einen Killer angeheuert. Nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin möglich und damit nicht auszuschließen.
Ramsden hatte allem Anschein nach weder ein Motiv noch die Gelegenheit gehabt. Steadman repräsentierte für ihn gewissermaßen die Butter auf dem Brot, als bedeutender Geschäftspartner im Verlag und als Freund aus alten Zeiten. Möglicherweise beneidete er Steadman, aber das war kein hinreichender Grund, ihn zu töten. Ramsden war allerdings nicht so leicht auszuloten. Da war einmal die Sache mit diesem Roman, den er offenbar zu schreiben gedachte. Vielleicht hatte man große Hoffnungen in ihn gesetzt, auf künstlerischem Gebiet. Erwartungen, die er bisher nicht erfüllt hatte. Aber warum? Aus Trägheit? Aus Mangel an Talent? Jedenfalls gab er sich äußerst feingeistig und sensibel, vermutlich war er als Kind mächtig verhätschelt worden - wahrscheinlich von seiner Mutter - und in dem Glauben aufgewachsen, etwas Besonderes zu sein, eine große Begabung. Inzwischen war er Ende Zwanzig, ohne seine Talente bislang offenbart zu haben.
Bei Penny Cartwright bewegte er sich einstweilen in einer Art Grauzone. Sie mochte beides haben, Motiv und Gelegenheit, aber das blieb vorläufig offen. Auf alle Fälle hatte er den dringenden Wunsch, mit ihr zu sprechen, und beschloß, sie gleich heute abend in Helmthorpe aufzusuchen. Zweifellos mußte er sich auch mit ihrem Vater beschäftigen, irgendwann.
Das größte Problem war die Tatsache, daß man einen so langen Zeitraum abzudecken hatte. Wenn Steadman das Bridge tatsächlich um Viertel nach neun verlassen hatte, seine Leiche aber erst um vierzehn Minuten nach Mitternacht auf dieses Feld expediert worden war - wo hatte er dann in den verbleibenden dreieinhalb Stunden gesteckt? Irgend jemand mußte ihn doch wohl in der Zwischenzeit gesehen haben?
Während der lyrische Tenor sein klagendes «Retir'd from any Mortal's Sight» anstimmte und hinter den Pappeln und Ligusterhecken entlang der Straße die ersten Häuser von Eastvale in Sicht kamen, tauchte Banks langsam wieder aus seiner Versunkenheit auf.
«Du hast ihm also alles erzählt, wie?»
«Das wollt ich nicht, Kevin, ehrlich nicht. Dein Name und das alles - aber es ist mir einfach so rausgerutscht.»
Kevin grinste nur höhnisch. Sally verfärbte sich und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. «Du hast eine dreckige Phantasie, wirklich. Das war alles nur wegen dieser blöden Uhrzeit - vierzehn Minuten nach zwölf. Er hat genau gesehen, daß ich keine Digitaluhr habe. Warum mußt du auch unbedingt dieses dämliche Ding mit dir rumschleppen?»
Kevin schaute auf seine Uhr hinunter, als müsse er sie auf irgendwelche Mängel untersuchen. «Ich weiß auch nicht», meinte er.
«Außerdem piept sie ständig, nach jeder Stunde», beschwerte sich Sally und fügte, etwas sanfter, hinzu: «Egal, was man grade macht...»
Kevin beugte sich vor, nahm sie in den Arm und küßte sie. Während Sally sich unter ihm wand und krümmte, schob er die Hand unter ihre Bluse, legte sie um ihre warmen Brüste und preßte ihren Körper fest auf den Boden. Das Gras roch feucht und süß, und rundherum summten die Insekten. Schwer atmend löste sie sich schließlich von ihm. Kevin legte sich auf den Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schaute hinauf in den tiefblauen Himmel.
«Wie findest du ihn denn, diesen Überflieger aus London?» fragte er.
Sally schnaubte verächtlich. «Von wegen Überflieger. Der bringt es doch tatsächlich fertig, von London wegzugehen, um hier zu leben. Muß total bekloppt sein, der Kerl.»
Kevin stützte sich auf den Ellbogen und schaute sie aufmerksam an, während er an einem langen Grashalm knabberte. «Was hat er gesagt zu der Sache?»
«Nicht viel, hat ihn wohl nicht besonders interessiert. Er hat mir nur'n paar blöde Fragen gestellt. Ich weiß gar nicht, warum ich mir so viel Gedanken gemacht hab. Beim nächsten Mal bin ich jedenfalls nicht so schnell dabei, der Polizei zu helfen, das kannst du mir glauben.»
«Was meinst du damit - beim nächsten Mal?»
«Ich meine, falls ich noch irgendwas rausfinde.»
«Warum solltest du? War doch nur'n Zufall, daß wir den Wagen gehört haben. Und wir wissen nicht mal, was da überhaupt los war.»
«Wissen wir wohl. Bist du eigentlich gar nicht neugierig? Willst du nicht auch wissen, wer's war?»
Kevin zuckte mit den Achseln. «Ich will nichts damit zu tun haben. Überlaß das der Polizei, schließlich werden sie dafür bezahlt.»
«Typisch, so 'ne Einstellung. Echt kleinkariert», spottete Sally.
«Aber vernünftig.»
«So? Mir macht es aber keinen Spaß, wenn man immer vernünftig ist.»
«Worauf willst du hinaus?»
«Auf nichts. Ich glaube, ich werd selbst mal 'n bißchen rumhorchen, das ist alles. Schließlich hab ich hier mein ganzes Leben verbracht und muß doch wissen, was im Dorf so passiert.»
«Was willst du denn tun, was die Polizei nicht auch kann?»
«Keine Ahnung im Moment, aber ich mach's garantiert besser als die. Wär doch unheimlich aufregend, wenn ich den Fall für die lösen würde, oder?»
«Laß den Quatsch, Sally. Wir haben das doch alles längst besprochen, und du weißt, was ich davon halte. Es ist zu gefährlich.»
«Wieso?»
«Was ist, wenn der Killer rauskriegt, was du machst? Was ist, wenn er meint, daß du ihm zu dicht auf den Pelz rückst?»
Sally erschauerte leicht. «Ich bin schon vorsichtig, keine Sorge. Außerdem bringt man's zu nichts, wenn man vor jedem Risiko kneift.»
Kevin gab auf. Sally strich ihren Rock glatt und legte sich wieder ins Gras. Sie waren hoch oben in den Bergen, am Südhang des Dale, und hatten einen guten Ausblick auf das kreuzförmig angelegte Gratly und das Schachbrettmuster der Schieferdächer von Helmthorpe. Sally pflückte eine Butterblume und hielt sie neckisch an ihr Kinn, bis ihr Kevin die Blume aus der Hand nahm und mit den zarten Blütenblättern zärtlich über ihren Hals und ihre nackten Schultern strich. Dann küßte er sie, wanderte mit der anderen Hand unter ihren Rock, bis dicht zu ihrem Slip und streichelte die zarte Haut zwischen ihren Schenkeln.
Plötzlich hörte Sally ein Geräusch, als sauste eine dünne Rute oder ein größerer Ast durch die Luft. Blitzschnell setzte sie sich auf, so daß Kevin von ihr herunterfiel und mit dem Gesicht im Gras landete.
«Da kommt jemand», flüsterte sie.
Wenige Augenblicke später löste sich eine Gestalt aus dem kleinen Gehölz am Rande des Bachs. Sally hob die Hand, um ihre Augen gegen das Sonnenlicht abzuschirmen und festzustellen, wer da kam.
«Hallo, Miss Cartwright», rief sie, als sie die Gestalt erkannte.
Penny trat zu ihnen, kniete sich ins Gras und warf die lange schwarze Mähne zurück. «Hallo! Ist das nicht ein herrlicher Tag?»
«Ja», antwortete Sally. «Wir haben grade eine kleine Pause gemacht. Wir waren den ganzen Nachmittag unterwegs.»
«Früher bin ich auch viel hier rumgelaufen, als ich noch in eurem Alter war», meinte Penny, als spreche sie zu sich selbst. «Kommt mir vor, als wär das ewig lange her, dabei sind's nur zehn Jahre. Ihr werdet euch noch wundern, wie schnell die Zeit vergeht. Deshalb solltet ihr sie nutzen, so lange es geht.»
Sally wußte nicht so recht, was sie darauf antworten sollte, sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Nach einem kurzen, verlegenen Schweigen sagte sie schließlich: «Tut mir leid für Ihren Freund, Mr. Steadman, wirklich, tut mir leid. War ein netter Mann, echt.»
Penny richtete den Blick auf sie, als komme sie von sehr weit her. Einen Augenblick lang dachte Sally, ihre Beileidswünsche seien ungehört geblieben, bis Penny plötzlich freundlich lächelte und sprach: «Vielen Dank. Ja, wirklich, das war er.» Damit stand sie wieder auf, klopfte sich die losen Grashalme von ihrem langen Rock und sagte: «Wie dem auch sei - ich muß weiter. Man soll so junge Leute wie euch nicht langweilen mit seinen Erinnerungen.»
Schweigend sahen Sally und Kevin ihr nach, wie sie sich mit festem, entschlossenem Schritt über den Hügelkamm entfernte, eine einsame, wilde Gestalt. Wie die Catherine in Sturmhöhe, dachte Sally, wie die Frau im Moor, der wandelnde Geist dieser Landschaft. Dann war da wieder Kevin, der Druck seiner Hand an ihrem warmen, weichen Schenkel.
Weiter oben am Hang blieb Penny einen Augenblick stehen, setzte sich auf einen Pfosten und blickte zurück. Tief unter ihr erstreckte sich das Tal, das sie liebte. Da war die Kirche, dicht neben ihrem Cottage, dort die High Street und die weiß verwitterte Fassade des Dog and Gun. Auf der anderen Seite des Flusses, hinter dem Kricketplatz und Crabtree's Field, zog sich das Weideland hoch, dürrer und dürrer werdend, bis an den Crow Star, sein strahlendes, gleißendes Weiß, zu weiß fast und zu grell an einem sonnigen Tag wie heute.
Unmöglich, diesen Anblick länger zu genießen, ohne an Harry denken zu müssen. Er war es gewesen, der ihr die Geheimnisse dieses Tals gezeigt, der sie vertraut gemacht hatte mit den abgründigen Tiefen und dem prallen Leben jenseits aller oberflächlichen Schönheit. Und nun stand sie hier, ohne ihn, stellte sich vor, die zerfallene Mauer von Tavistocks Weide erkennen zu können, die Steine, die man benutzt hatte, um Harrys toten Körper zu bedecken, und die ihr dunkler erschienen als der Rest des Walls.
Ihr Blick ging zurück zu dem Weg, den sie gekommen war, zu den beiden jungen Menschen, die sich auf dieser Wiese umschlungen hielten, verschmolzen und eins geworden in der Liebe. Sie lächelte traurig, als sie daran dachte, wie verschreckt und verlegen die beiden ausgesehen hatten, als sie plötzlich aufgetaucht war.
Und wieder mußte sie an Harry denken, an das Picknick, das sie gehabt hatten, vor zehn Jahren. Genau an der Stelle, wo jetzt dieses andere Paar lag. Sie erinnerte sich noch deutlich an den Blick auf das Dorf, an den kleinen Wald und an Emma, die dort im Schatten gesessen und gestrickt hatte. Immer plastischer wurde das Bild, immer mehr Einzelheiten schälten sich heraus. Zu dieser Zeit hatte sich schon die Trennung angebahnt zwischen ihr und Michael. Er hatte dagesessen und die Gedichte von Shelley gelesen, sie erinnerte sich noch an das abgewetzte braune Leder des Bucheinbands, einer alten Ausgabe, die sie in einem Antiquariat gefunden und ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Harry hatte ihr geholfen, das rotkarierte Tischtuch auf der Wiese auszubreiten und das Picknick aus dem Korb zu holen. Dabei hatten sich ihre Hände berührt, ganz zufällig. Sie erinnerte sich, wie sie plötzlich rot geworden war und wie Harry angelegentlich nach dem Korkenzieher gesucht hatte. Für den Chablis. Ja, sie hatten tatsächlich Chablis getrunken an jenem Tag, einen wirklich edlen Tropfen, und noch heute, zehn Jahre später, meinte sie, den trockenen, erdigen Geschmack des kühlen Weins auf ihrer Zunge zu spüren.
Das Bild verblaßte so rasch, wie es gekommen war. Wie harmlos das alles noch gewesen war, wie verdammt unschuldig! Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, sprang von dem Pfosten herunter und ging schnellen Schrittes weiter.
Als Banks von seiner Fahrt nach York zurückkam, wartete Hackett bereits seit einer Stunde und wirkte nicht besonders erfreut.
«Na, hören Sie mal», protestierte er, als ihn Banks am Ärmel faßte und über die Treppe nach oben zog in sein Büro, «was erlauben Sie sich? Sie können mich doch nicht einfach hier reinschleppen, ohne jede Erklärung! Ich hab schließlich noch was anderes zu tun. Außerdem hab ich Ihnen gestern abend schon alles erzählt.»
«Gar nichts haben Sie», meinte Banks, nahm seinen Mantel ab und hängte ihn an den Haken hinter der Tür. «Setzen Sie sich», forderte er Hackett auf. «Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.»
Es war stickig im Raum, und Banks öffnete das Fenster, um frische Luft und die Düfte der Market Street einzulassen: Auspuffgase, den Geruch von frischgebackenem Brot und die süßen und klebrigen Dämpfe aus dem Süßwarengeschäft. Hackett ließ sich angespannt auf einem Stuhl nieder und verfiel in ein beleidigtes Schweigen.
«Kein Grund, sich aufzuregen», meinte Banks, holte seine Pfeife hervor und klopfte sie über dem Papierkorb aus.
«Warum hat mich Ihr Sergeant dann regelrecht gekidnappt und hierhergeschleppt? Ich verlange meinen Anwalt zu sprechen.»
«Lieber Himmel, Mr. Hackett, beruhigen Sie sich! Es gibt wirklich keinen Grund, so melodramatisch zu werden. Sie haben wohl zu viele amerikanische Fernsehserien gesehen. Ich habe Sie doch nicht hierherbringen lassen, um Sie unter Anklage zu stellen oder ähnliches. Tut mir leid, wenn Sergeant Hatchley vielleicht ein bißchen ruppig geworden sein sollte - das ist eben so seine Art. Ich wollte Ihnen einfach nur ein paar Fragen stellen, das ist alles.» Er warf Hackett einen durchdringenden Blick zu. «Da sind noch ein oder zwei Kleinigkeiten, die wir gerne geklärt hätten.»
«Und warum versteifen Sie sich auf mich? Warum fragen Sie nicht Jack oder den Doc?»
«Fällt Ihnen denn irgendein Grund ein, warum einer der beiden Mr. Steadman getötet haben könnte?»
«Nein, natürlich nicht, so hab ich das nicht gemeint. Es ist nur...»
«Hat er Ihnen gegenüber vielleicht mal eine Bemerkung gemacht, aus der Sie hätten schließen können, daß ihn der eine oder andere aus dem Weg räumen möchte?»
«Nein, nichts dergleichen. Ich habe keineswegs die Absicht, irgendwen zu beschuldigen. Ich will lediglich wissen, warum Sie sich ausgerechnet mich ausgesucht und in dieser Form hier vorgeführt haben.»
«Wegen Crabtree's Field.» Banks nahm seine Pfeife und griff nach den Streichhölzern.
«Aha, das ist es also», seufzte Hackett. «Man hat Ihnen irgendwelche Märchen erzählt. Hätt ich mir eigentlich denken können, daß Sie früher oder später dahinterkommen.»
Banks zündete sich die Pfeife an und schaute angelegentlich zur Decke. Aus dem Mundstück rannen Reste alten Tabaksafts in seinen Rachen; er hustete und verzog angewidert das Gesicht.
Hackett warf ihm einen erbosten Blick zu. «Sie geben doch wohl nichts auf diesen Blödsinn, oder? Egal, wie, schließlich ist das meine Sache, was -»
«Jetzt nicht mehr, Mr. Hackett. Jetzt ist es Sache der Polizei», fiel ihm Banks ins Wort, legte die Pfeife zur Seite und trank den Becher aus, der noch ein paar Reste kalten Kaffees enthielt. «Und wenn es Ihnen egal ist, wie Sie sagen, sollten wir die Angelegenheit vielleicht klären. Je schneller, desto besser.»
Hackett rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und glättete seinen matt herabhängenden Schnurrbart. «Da war überhaupt nichts», meldete er. «Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit wegen eines Stückchen Lands, weiter nichts.»
«Man hat schon ganze Länder erobert für weitaus weniger», merkte Banks an und informierte Hackett über die Dinge, die ihm in dieser Sache bisher zu Ohren gekommen waren.
«Ja», bestätigte Hackett, «so hat es sich mehr oder weniger abgespielt. Allerdings würde ich deshalb niemanden umbringen, am allerwenigsten einen guten Freund wie Harry. Selbst wenn er vorgehabt hätte, sich das ganze verdammte Tal unter den Nagel zu reißen und dem Denkmalschutz zu übergeben - ich mochte den Kerl! Ich habe seine Überzeugungen respektiert, auch wenn sie sich nicht mit meinen deckten.»
«Aber es hat doch einen Streit gegeben über dieses Feld, nicht wahr?» beharrte Banks.
«Sicher, wir haben gestritten, aber eher so zum Spaß. Sie können ja die andern fragen. Harry diskutierte gern einfach so, ohne daß es eine besondere Bedeutung hatte.»
«Geld hat immer eine besondere Bedeutung, Mr. Hackett. Wieviel hofften Sie eigentlich bei ihren Plänen mit diesem Grundstück herauszuholen?»
«Das kann man unmöglich sagen. Ich kann die Dinge selbstverständlich nicht auf die Ewigkeit anlegen und hätte das alles aus eigener Tasche vorfinanzieren müssen. Den Kaufpreis, den Bau, die Werbung... Es hätte wahrscheinlich Jahre gedauert, bis ich in die Gewinnzone gekommen wäre.»
«Mit anderen Worten, Sie haben sich nur aus Spaß an der Sache beteiligt?»
«Nein, nicht nur. Das Geschäftemachen gefällt mir, verstehen Sie, es ist die Art von Leben, die zu mir paßt. Ich mache gerne einen guten Deal, und ich baue gern etwas auf. Aber ich würde natürlich nie mein gutes Geld in irgendwelche Projekte investieren, bei denen nicht irgendwann mit einer ordentlichen Rendite zu rechnen ist.»
«Könnten wir uns vielleicht dahingehend einigen», schlug Banks vor, «daß Sie bei dieser Investition durchaus auf eine derartige Rendite hofften?»
«Ja, zum Teufel. Letzten Endes schon.»
«Und jetzt?»
«Was heißt das? Ich verstehe nicht ganz.»
«Kommen Sie, Mr. Hackett, spielen Sie nicht den Unschuldigen. Sie haben doch jetzt freie Bahn und können das Land kaufen.»
Hackett lachte und lehnte sich entspannt zurück. «Da sind Sie aber im Irrtum, fürchte ich. Harry scheint das Objekt aus dem Verkehr gezogen zu haben, zumindest hat man vorläufig einen Baustopp verhängt. Vermutlich wird der junge Ramsden das Werk des Meisters fortführen und die ganze Gegend aufbuddeln. Für ein römisches Feldlager, ich bitte Sie! Was können sie da schon finden, außer ein paar alten Scherben und Steinen? Kein Wunder, daß unsere Wirtschaft am Boden ist! Nur noch Vorschriften, keine Privatinitiativen mehr.»
«Oh», gab sich Banks überrascht, «und ich dachte immer, die Regierung stützt das aufstrebende junge Unternehmertum.»
Hackett starrte ihn wütend an, wobei nicht klar zu erkennen war, ob ihn die Anspielung auf seine unbedeutenden wirtschaftlichen Aktivitäten wurmte oder ob er nach einer möglichst vernichtenden Antwort suchte. «Sie wissen genau, was ich meine, Chief Inspector. Wir sind geradezu handlungsunfähig durch all diese Historiker, diese Denkmal- und Umweltschützer. Ein einziger Haufen von Romantikern, wenn Sie mich fragen. Ein Mythos, weiter nichts. Bilden sich offenbar alle miteinander ein, früher wär's besser, ordentlicher und schöner gewesen. Heiliger Strohsack! Dabei war das Leben beileibe kein Zuckerschlecken, kurz und schmerzhaft, wie es immer so schön heißt. Nur, weil ich nicht auf der Universität war, muß ich noch lange kein Ignorant sein! Schließlich hab ich auch ein paar Bücher gelesen, verstehen Sie? Wenn Sie mich fragen, hat der liebe Harry die Vergangenheit durch eine rosarote Brille gesehen. Genau wie Penny Cartwright. In Wirklichkeit muß das Leben früher doch ein einziges Elend gewesen sein. Stellen Sie sich nur mal diese Römer vor, die armen Kerle. Mußten sich hier im Norden die Eier abfrieren, dabei konnten sie zu Hause, auf ihren sieben Hügeln, in der Sonne rumsitzen, sich mit Vino begießen und die einheimischen Bräute flachlegen. Und was diese bescheuerte industrielle Revolution angeht, was war das schon? Ausbeutung, pure Ausbeutung, nichts als harte, dreckige Arbeit für die meisten. Ich sage Ihnen, Chief Inspector, alles Mist, was Harry erzählt hat. Keine Ahnung hat er gehabt von der Vergangenheit, trotz all seiner Diplome.»
«Sie sollten vielleicht von hier wegziehen», empfahl ihm Banks. «Nach Wigan oder Huddersfield zum Beispiel. Ich nehme an, daß man sich dort nicht sonderlich um Geschichte oder Denkmalschutz kümmert.»
«Sie werden sich wundern», meinte Hackett, «aber die Zeiten sind vorbei. Überall dasselbe. Man nennt das Bürgerstolz heutzutage. Selbst Bradford wollen sie uns jetzt verkaufen als das sogenannte Tor zum Land der Schwestern Bronte - und wenn sie mit so was durchkommen, können sie wirklich machen, was sie wollen. Außerdem gefällt's mir hier. Sie müssen nicht glauben, daß man als Unternehmer keinen Sinn für Natur hat. Ich bin auch für Umweltschutz, wie jeder andere Bürger.»
«Wo waren Sie am Samstag abend?» fragte Banks und startete einen weiteren Versuch, seine Pfeife zu reinigen.
Hackett kratzte sich an seinem zurückweichenden Haaransatz. «Nach dem Bridge bin ich mit dem Wagen rüber nach Darlington. Da hab ich mir erst mal ein paar Drinks genehmigt, in irgendeiner Kneipe, und bin dann weitergezogen zu diesem neuen Klub. Ich kenne nämlich den Besitzer, wir haben ein paar Geschäfte gemacht miteinander.»
«Wann sind Sie weg aus dem Bridge?»
«Etwa halb neun.»
«Und von da direkt nach Darlington?»
«Nun ja, ich war vorher noch zu Hause und hab mich umgezogen.»
«Wann genau sind Sie dann abgefahren?»
«Zehn Minuten vor zehn, ungefähr.»
«Und angekommen?»
«Um halb oder zwanzig vor elf.»
«Wann waren Sie in diesem Klub?»
«Halb zwölf oder vielleicht schon Viertel vor.»
«Wie heißt das Lokal?»
«KitKat-Klub. Hat erst vor ein paar Wochen aufgemacht. So 'ne Art Disco, aber nicht allzu laut. Eher etwas für die reifere Kundschaft. »
«Sie haben dort vermutlich Bekannte getroffen, die Ihre Auskünfte bestätigen können?»
«Ja, ich habe mit dem einen oder anderen gesprochen. Außerdem können Sie Andy Shaw fragen, den Besitzer.»
Während Banks die Angaben zu Papier brachte, einschließlich des Namens der Kneipe in Darlington, beobachtete ihn Hackett mit wachsender Nervosität.
«Noch etwas, was Sie mir sagen könnten, Mr. Hackett?»
Hackett kaute an seiner Unterlippe und legte die Stirn in Falten. «Nein, nichts.»
«Nun gut, dann wär's das», erklärte Banks und stand auf, um Hackett die Tür zu öffnen. Sobald Hackett die Polizeistation verlassen hatte, rief Banks Sergeant Hatchley zu sich, um zu erfahren, was die Durchsuchung von Steadmans Arbeitszimmer an Hinweisen erbracht hatte.
«Nichts von Interesse, nein», meldete Hatchley. «Ein paar Manuskripte und verschiedene Briefe an irgendwelche Gesellschaften zum Schutz von Altertümern... liegt alles auf meinem Schreibtisch, wenn Sie Lust haben, da mal reinzusehen.»
«Später.»
«Außerdem stand da noch so'n Computer, eins von diesen neumodischen Dingern zur Textverarbeitung oder so. Na ja, für irgendwas mußte er den Kies ja wohl ausgeben, oder? Können Sie sich noch erinnern an das Theater, das unsereins gehabt hat, damit uns die Verwaltungsheinis endlich auch so'n Apparat unten hinstellen?»
Banks nickte.
«Und jetzt darf dieser Schnösel von Richmond nett ans Meer fahren, damit er gemütlich lernt, wie man den Scheißkasten bedient», meinte Hatchley, schüttelte den Kopf und verließ das Büro.
Es war halb sieben, und der Feierabendverkehr - den man hierzulande hochtrabend als Rush-hour bezeichnete - war längst vorbei, als Banks seinen Wagen auf dem Parkplatz in der Ortsmitte von Helmthorpe abstellte. Zuvor hatte er noch der recht kurzen gerichtlichen Leichenschau beigewohnt, die Presse mit ein paar stichwortartigen Informationen versorgt und in aller Eile mit Sandra und den Kindern zu Abend gegessen.
Penny Cartwright stand am Küchenfenster, spülte das Geschirr vom Abendbrot und beobachtete das Spiel der untergehenden Sonne, die den letzten Glanz auf die schimmernden Fassaden der Häuser warf und ihre Lichtreflexe über die Mauern tanzen ließ. Als sie es draußen klopfen hörte, trocknete sie rasch die Hände an der Schürze und beeilte sich, die Tür zu öffnen. Vor ihr stand ein dunkelhaariger, drahtiger Mann, bei dessen Anblick ihr sofort klar wurde, daß es sich nur um diesen Polizeibeamten handeln konnte, von dem ihr Barker erzählt hatte. Daß er so gutaussehend war, traf sie allerdings etwas unvorbereitet, und sie fühlte sich augenblicklich hoffnungslos unansehnlich, mit ihrer Küchenschürze und dem straff nach hinten gekämmten, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar.
«Treten Sie ein», forderte sie ihn auf, «wir wollen doch den Nachbarn keinen unnötigen Gesprächsstoff liefern.» Sie deutete einladend auf einen zerschlissenen Sessel und verschwand in der Küche, wo sie sich eilends von ihrer fleckigen Schürze befreite, ihr Haar löste und mit ein paar flinken Bürstenstrichen locker um Gesicht und Schultern drapierte.
Banks war sichtlich beeindruckt. Nicht nur von der lässigen Selbstverständlichkeit, mit der ihn Penny empfangen hatte, sondern mehr noch von ihrer Schönheit. Sie sah umwerfend aus, mit ihren enganliegenden Jeans und der wallenden Mähne um die hohen Wangenknochen und das ganze edel geformte Gesicht, das keine Spur von Schminke aufwies. Dazu kam der verblüffende Kontrast zwischen dem tiefschwarzen Haar und dem leuchtenden Blau der Augen.
Nachdem sie sich auf einem steiflehnigen Stuhl vor dem Schreibtisch niedergelassen hatte, wandte sie sich an Banks und fragte, was sie für ihn tun könne.
Um dem Gespräch einen eher beiläufigen Charakter zu geben, entgegnete er in freundlich-lässigem Ton: «Möglicherweise überhaupt nichts, Miss Cartwright... Ich versuche nur, mir ein Bild von Mr. Steadman zu machen, und unterhalte mich deshalb mit den Menschen, die mit ihm befreundet waren.»
«Warum interessiert Sie das?» fragte Penny. «Ich meine, ist es für Sie denn wirklich so wichtig, zu erfahren, was für eine Art Mensch er war?»
«Vielleicht nicht auf die gleiche Weise wie für Sie», gab Banks zu, «schließlich habe ich ihn ja nicht gekannt. Aber es könnte mir helfen, seinen Mörder zu finden - und das ist mir in der Tat wichtig. Daß es sich um einen Mord handelt, steht außer Frage, das Problem ist nur, warum er ermordet wurde. Nach allem, was ich bislang gehört habe, muß er ein ganz fabelhafter Mensch gewesen sein. Ein Mann, der keine Feinde kannte, nirgendwo auf dieser weiten Welt.»
«Und was bringt Sie auf den Gedanken, von mir etwas Gegenteiliges erfahren zu können?» erkundigte sich Penny mit einem leicht spöttischen Lächeln.
«Oh, ich werfe nur die Angel aus.»
«Aber es wird niemand anbeißen, Inspector. Ich jedenfalls nicht. Er war wirklich so, wie Sie ihn beschreiben. Ich kann mir nicht vorstellen - und wenn's um mein Leben ginge -, wer den Wunsch hatte, ihm etwas Derartiges anzutun.»
Banks seufzte. Der Abend versprach anstrengend zu werden. «Glücklicherweise, Miss Cartwright», meinte er, «brauchen wir uns weniger um Ihr Leben als um das von Mr. Steadman zu sorgen - und dem hat irgend jemand ein ziemlich plötzliches und grausames Ende gesetzt. Wissen Sie vielleicht etwas über seine geschäftlichen Aktivitäten?»
«Meinen Sie dieses Theater mit Crabtree's Field? Also, wirklich, Inspector, kommt Ihnen der gute Teddy etwa wie ein Mörder vor? Hackett traut sich doch nicht mal, einen Wurm zu zertreten, selbst wenn sein Leben davon abhinge. Mag sein, daß er ein ziemlich rücksichtsloser Geschäftsmann ist - obwohl hier von harter Konkurrenz keine Rede sein kann und er sicher mehr Glück als Geschäftssinn hat, wenn Sie mich fragen -, aber ein Mörder? Hackett? Niemals!»
«Man hat schon Pferde -»
«Ja, ich weiß, es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, Horatio, als eure Schulweisheit sich träumen läßt», zitierte sie.
«Die Theorie mag abwegig sein», fuhr Banks fort, «aber es ist die einzige, die sich derzeit anbietet.»
«Typisch Polizist», mokierte sich Penny, «den erstbesten armen Trottel, der nicht absolut lupenrein ist, gleich festzunageln. Obwohl», fügte sie hinzu, «Hackett auch nicht gerade ein Verlust ist für die Menschheit. Im Gegensatz zu Harry.»
«Wie lange kannten Sie Mr. Steadman?» fragte Banks.
«Kommt drauf an, was Sie unter <kennen> verstehen», entgegnete sie und zündete sich eine Zigarette mit doppelt langem Filter an. «Als wir uns zum erstenmal begegneten, war ich noch ein Teenager, das ist Jahre her. Emma und er kamen in den Ferien immer nach Gratly, und beim zweiten- oder drittenmal hab ich die beiden kennengelernt. Durch Michael, Michael Ramsden. Seine Eltern vermieteten damals an Sommergäste, und die Steadmans wohnten immer bei ihnen, in dem Haus, das sie später gekauft haben. Ich war ungefähr sechzehn, Michael und ich waren ein Liebespaar zu dieser Zeit, und daher war es nur natürlich, daß ich den Steadmans häufig begegnete.»
Banks nickte und zog gedankenvoll an seiner Pfeife. Das fast schon archaische Wort <Liebespaar> hatte einen wunderbar erotischen Klang in Pennys Mund. Es schien wie aus ihrem Unterbewußtsein zu kommen und stand in einem seltsamen Kontrast zu ihrem ansonsten eher angespannten und aggressiven Verhalten.
«Wir machten lange Wanderungen zusammen», fuhr sie fort. «Harry wußte viel zu erzählen über das Land und dessen Geschichte. Und dann... nun, es war ein herrlicher Sommer, aber eines Tages ging er zu Ende, wie alle Sommer.»
«Ah, ja... doch wo blieb der Schnee vom vergangenen Jahr?» zitierte Banks zurück.
«Es war Sommer, und wir hatten nicht viel Schnee.»
Wieder bemerkte Banks ein winziges spöttisches Zucken um ihre bleichen Lippen. «Das ist vermutlich etwa zehn Jahre her, nicht wahr?» fragte er.
Sie nickte bedächtig. «Fast exakt, ja. Doch die Dinge änderten sich. Michael mußte zur Universität - er war achtzehn -, und ich zog auch fort. Jahre vergingen, bis Harry eines Tages zu Geld kam und das Haus kaufte. Acht Monate vorher war ich auch zurückgekommen. Die Heimkehr der verlorenen Tochter, wenn Sie so wollen. Oder eher des schwarzen Schafs. Man ließ mich links liegen, hatte keine Zeit für mich. Bis auf Harry.»
«Was meinen Sie damit, daß niemand Zeit für Sie hatte? Wo hatten Sie denn vorher gesteckt? Und warum sind Sie überhaupt zurückgekommen?»
«Das ist eine lange Geschichte, Inspector», meinte Penny, «und ich möchte bezweifeln, daß sie unter die Sorte von Informationen fällt, die man nicht zurückhalten darf. Aber um es kurz zu machen - ich war acht oder neun Jahre lang im Musikgeschäft und ständig unterwegs. Die meiste Zeit hatte ich einfach nur Heimweh, obwohl wir eine Menge Spaß hatten und einen ganz achtbaren Erfolg. Schließlich wurde ich immer zynischer und beschloß, daß es Zeit war, wieder nach Hause zu gehen. Man hat mich nicht gerade freundlich aufgenommen, die Leute hier lehnen alles ab, was ihnen irgendwie modern vorkommt, und niemand scheint so genau gewußt zu haben, was er jetzt mit mir anfangen soll. Ich bin sicher, daß sie sich die tollsten Geschichten ausgedacht haben, damit ich in ihr Bild paßte. Nicht, daß sie eine Ahnung gehabt hätten, wer oder was ich war, sie haben einfach kritiklos den ganzen Unsinn übernommen, den die Sonntagsblätter über die Musikszene verbreiten - die Sunday Times übrigens nicht ausgenommen. In den Augen der Leute bin ich also moralisch völlig verkommen, eine regelrechte Hure. Nicht erst seit heute, sondern immer schon, weil sie natürlich keinesfalls zugeben können, mich früher anders gesehen und sich in mir getäuscht zu haben. Beantwortet das Ihre Frage?»
Sie machte eine Pause, schaute Banks jedoch nicht an, als erwarte sie keine Reaktion. «Für meinen Vater war das ziemlich hart, aber er nahm mich trotzdem wieder auf. Warum ich nicht bei ihm lebe? Ist es das, was Sie wissen wollen? Meiner Gesundheit zuliebe, Inspector, meiner geistigen Gesundheit. Sagen wir, daß ihm mein Wohlbefinden einfach ein bißchen zu sehr am Herzen liegt, während ich glaube, daß ich schon ein ziemlich großes Mädchen bin. Insofern war es für uns beide die bessere Lösung, mich in diesem Cottage hier unterzubringen. Das werden Sie sicher verstehen, nicht wahr?»
«Selbstverständlich. Aber es scheint zu allerhand Gerüchten geführt zu haben, oder?»
Penny lachte. «Oh, darüber wissen Sie also auch schon Bescheid? Ist doch wirklich eine nette, traute Gemeinschaft, unser Dorf, finden Sie nicht? Aber tun Sie sich keinen Zwang an, Inspector, sagen Sie mir ruhig, was Sie wissen wollen. Nur zu, fragen Sie!»
Ihre strahlend blauen Augen funkelten vor Zorn, aber Banks blieb stumm. Sie musterte ihn noch einmal mit einem finsteren Blick, dann wandte sie sich ab und griff erneut nach ihren Zigaretten.
«Demnach waren also nur zwei Menschen nett zu Ihnen - Ihr Vater und Harold Steadman?»
«Ja.» Nach einem Zögern fügte Penny hinzu: «Und Jack Barker. Er war erst ein oder zwei Jahre hier und wußte nichts von diesen alten Geschichten. Außerdem hätte ihm das sowieso nichts ausgemacht. Er ist ein guter Freund.»
«Und wie stehen die Dinge heute?»
«Heute?» Penny lachte. «Oh, heute grüßt man mich allmählich wieder.»
«Und was war mit Mr. Ramsden?»
«Nicht sehr viel. Ich habe ihn eigentlich nur getroffen, wenn er mal ins Bridge schaute oder mit Harry bei mir vorbeikam. Wenn man einmal auseinander ist, findet man eben nie mehr so richtig zusammen.»
«Und Sie sehen keinen Grund für diese Tat an Mr. Steadman?»
«Nicht den geringsten, wie ich schon sagte.» Nachdenklich wölbte sie die elegant geschwungenen Brauen und schüttelte traurig den Kopf. «Er war weder habgierig noch intrigant und hat nie jemanden hintergangen oder belogen.»
«Wie dachte denn seine Frau über Ihre Beziehung zu ihm?»
«Emma? Ich würde sagen, sie hat sich gar nichts dabei gedacht. Vermutlich war sie eher froh, ihn von den Fersen zu haben.»
«Wie kommen Sie darauf? Waren die beiden nicht glücklich miteinander?»
Penny betrachtete ihn, als sei er ein seltsames Reptil, das eben unter einem Stein hervorgekrochen kommt. Sichtlich verärgert stieß sie eine dicke Rauchwolke aus und sagte: «Wie soll ich das wissen? Fragen Sie sie doch selbst.»
«Aber ich frage Sie», betonte Banks. Das Gespräch nahm eine Wendung, die er lieber vermieden hätte, allerdings mußte man bei einer Person wie Penny Cartwright, die offenkundig gegen das gesamte Establishment zu Felde zog, auf derartige Reaktionen wohl gefaßt sein. Zweifellos trieb sie schon die ganze Zeit ihre Spielchen mit ihm. «Nun, immer noch keine Antwort?» bohrte er.
«Ich sagte Ihnen doch - ich weiß es nicht», erwiderte sie. «Was, um alles in der Welt, erwarten Sie eigentlich?»
«War es eine normale Ehe?»
«Normal! Ha! Was, zum Teufel, heißt das schon - normal? Na schön, ich nehme an, sie war's, aber ich bin wohl kaum die geeignete Person, um das zu beurteilen. Schließlich war ich selbst nie verheiratet.»
«Waren die beiden glücklich miteinander?»
«Ich denke, ja, aber mehr weiß ich auch nicht. Schließlich war ich nicht seine Herzensfreundin oder die Schulter, an der er sich ausgeweint hätte.»
«Hätte er denn eine Schulter gebraucht?»
Penny seufzte und stützte ihren Kopf in beide Hände. «Hören Sie», protestierte sie, deutlich ermattet, «das bringt uns doch nicht weiter. Was wollen Sie eigentlich von mir?»
Ohne darauf zu antworten, setzte Banks hartnäckig nach: «Was haben Sie ihm eigentlich bedeutet? Was waren Sie für Mr. Steadman?»
«Ich sagte doch - wir waren Freunde, weiter nichts. Wir hatten einfach gemeinsame Interessen.»
«Und was sagte seine Frau dazu?»
«Zu mir jedenfalls nichts. Warum auch? Und Harry hat auch nie etwas erwähnt.»
«Demnach kennen Sie sie also?»
«Natürlich, was denken Sie denn? Harry und ich hatten doch schließlich keine heimliche Affäre oder was immer Sie sich vorstellen. Ich war zigmal bei den beiden zum Abendessen. Sie war immer äußerst nett und freundlich. Außerdem hat sie hervorragend gekocht.»
«Worüber haben Sie gesprochen?»
«Wenn Emma dabei war?»
«Ja.»
«Nichts weiter, die üblichen Sachen halt. Sie hatte nicht besonders viel Sinn für Harrys Neigungen, sie interessierte sich eher für Musik, für klassische vor allem. Meine Güte, was soll man schon groß reden mit jemandem, bei dem man zum Abendessen eingeladen ist?»
«Hatten Sie ein Verhältnis mit Harold Steadman?»
Die Frage war unvermeidlich, aber kaum war sie ausgesprochen, kam sich Banks wie ein Trottel vor angesichts der völlig überraschenden Reaktion. Er hatte damit gerechnet, daß sie ihrem aufgestauten Ärger Luft machen oder ihn einfach auslachen würde, doch statt dessen schien seine Frage die gespannte Atmosphäre dieses Gesprächs eher abgebaut zu haben. Penny musterte ihn mit ruhigem, festem Blick und einem leisen, spöttischen Funkeln in den saphirblauen Augen, als sei es ihr endlich gelungen, ihn zu den erwarteten Grobheiten zu veranlassen.
«Nein, Inspector», antwortete sie, «ich hatte kein Verhältnis mit Harry Steadman oder mit sonstwem in diesem Fall. Auch nicht mit Emma Steadman oder mit meinem Vater. Alles verhält sich genau so, wie ich es Ihnen geschildert habe. Meine Gefühle für Harry waren einfach nicht von dieser Art, und seine umgekehrt ebensowenig, soviel ich weiß.» Wenn das so war, überlegte Banks, mußte Steadman blind oder nicht ganz bei Verstand gewesen sein. «Er hat mich nicht körperlich gereizt», fuhr sie fort, indem sie sich eine Zigarette anzündete und rauchend in dem engen Zimmer auf und ab ging, «sondern mehr im Geist, in der Phantasie. Außerdem mochte ich ihn sehr. Ich glaube, er war ein guter Mensch, ein kluger, liebenswürdiger Mann. Möglicherweise habe ich ihn sogar geliebt, in einem rein platonischen Sinne, aber das wäre auch wirklich das Äußerste, was man dazu sagen kann.» Sie warf ihre schwarze Mähne zurück, setzte sich wieder hin und betrachtete ihn mit hocherhobenem Kinn. In ihren Augen glänzten Tränen, die nicht fließen wollten. «Da haben Sie's, Inspector», meinte sie würdevoll, «ich habe meine Seele vor Ihnen entblößt. Sind Sie jetzt zufrieden?»
Die Intensität ihrer Gefühle war offensichtlich und anrührend, aber Banks zog es vor, sich seine Anteilnahme nicht anmerken zu lassen.
«Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?» fragte er.
In ihren Augen spiegelte sich eine ganze Kette möglicher Antworten. Ein Phänomen, das Banks schon häufiger beobachtet hatte, wenn sich jemand rasch zu entscheiden versuchte, ob er lügen oder die Wahrheit sagen sollte.
Ihr Mund öffnete und schloß sich wieder. Schließlich zog sie ein letztes Mal an ihrer Zigarette, drückte sie halb geraucht im Aschenbecher aus und flüsterte fast: «Am Samstag. Samstag abend.»
«Um welche Zeit?»
«Etwa um neun.»
«Nachdem er das Bridge verlassen hatte?»
«Ja. Er ist anschließend hier vorbeigekommen.»
«Und warum, zum Teufel, sagen Sie mir das erst jetzt? Sie wissen verdammt gut, daß Sie wichtige Informationen nicht zurückhalten dürfen.»
«Sie haben mich nicht danach gefragt», meinte Penny achselzukkend. «Ich wollte mich da nicht hineinziehen lassen.»
«Nicht hineinziehen?» wiederholte Banks verächtlich. «Sie haben ihn also gemocht, und er hat Ihnen beigestanden, aber Sie finden es zuviel verlangt, uns dabei zu helfen, seinen Mörder zu finden?»
Seufzend griff sie nach einer Haarsträhne und begann, sie um ihren Zeigefinger zu drehen. «Ich weiß, es klingt ziemlich schäbig, Inspector», gab sie zu, «aber so ist es nun mal. Ich kann auch nicht erkennen, inwieweit Ihnen dieser Besuch bei mir weiterhelfen könnte. Und im übrigen», funkelte sie ihn an, «sehe ich, verdammt noch mal, nicht ein, daß ich der Polizei irgendwelche Gefälligkeiten schuldig wäre!»
«Darum geht es nicht. Ihre persönlichen Gefühle gegenüber der Polizei kümmern mich herzlich wenig. Mich interessieren lediglich die Zeiten, und insofern könnte uns Ihre Information vielleicht wenigstens dazu verhelfen, den genauen Tatzeitpunkt festzulegen. Wann hat er Sie also wieder verlassen?»
«Ungefähr um zehn.»
«Hat er gesagt, wo er hinwollte?»
«Vermutlich nach York. Er erwähnte so was.»
«Erwähnte er vielleicht noch irgendwelche anderen Besuche oder Umwege, die er vorher zu machen gedachte?»
«Nein.»
Immerhin, damit war eine weitere Stunde geklärt, dachte Banks. Es gab nichts mehr zu sagen, die Sitzung mit Penny hatte ihn ohnehin ausreichend strapaziert. Sie selbst schien die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht zu haben, und die Spannung zwischen ihnen war wieder fühlbar wie die Schwingungen einer scharfen Schneide. Schließlich brach sie das Schweigen.
«Hören Sie», setzte sie zögernd an, «das alles tut mir so leid, glauben Sie mir. Was mit Harry passiert ist, ist mir wirklich nicht gleichgültig, es ist nur so, daß die Polizei mir eigentlich immer nur Ärger gemacht hat. Ich war nie in meinem Leben in einen Mordfall verwikkelt, deshalb kann ich auch nicht wissen, was wichtig ist und was nicht. Wenn man jung ist und Musik macht und immer in solchen Kreisen lebt, bekommt man zwangsläufig eine etwas verzerrte Vorstellung von der Obrigkeit - von der Polizei, dem Zoll, den Einwanderungsbehörden und den Sicherheitskräften. Man glaubt, sie wären allesamt hinter einem her, sie sind einfach eine Pest.»
Banks mußte unwillkürlich grinsen. «Drogen?» fragte er.
Penny nickte. «Nicht meinetwegen, ich hatte nie was damit zu tun, jedenfalls nicht mit den härteren Sachen. Aber Sie wissen ja, wie das ist, in London. Man ist umgeben von dem Zeug, ob man's nun braucht oder nicht. Sicher, ich hab auch den einen oder anderen Joint geraucht oder mal ein paar Amphetamine genommen, um mich wach zu halten auf den Tourneen, nur das harte Zeug hab ich nie angefaßt. Aber versuchen Sie das mal einem Drogenfahnder beizubringen.»
Banks hätte ihr gerne widersprochen und die Polizei verteidigt, war aber zu müde für solche Anstrengungen, die ohnehin nichts bringen würden. Außerdem wußte er zur Genüge, daß Polizisten auch nicht besser waren als der Rest der Welt - ein Haufen mieser Kerle mit ein paar wenigen Ausnahmen. Beispielsweise erinnerte er sich an einen hohen Beamten aus der Drogenfahndung, der den Leuten, die er sich vom Halse schaffen wollte, routinemäßig illegale Substanzen untergeschoben hatte, ein Verfahren, das keineswegs selten oder unüblich war. Überdies lag in Pennys Cottage ein Geruch in der Luft, der ihm sehr vertraut war. Er wußte recht gut, woher diese Düfte rührten, hatte aber weder Lust, dieses Thema zu vertiefen, noch, seine Gastgeberin darüber aufzuklären, daß sein voller Titel der eines Chief Inspectors war. Erfahrungsgemäß faßten die meisten Leute das falsch auf.
Er stand auf, und Penny begleitete ihn zur Tür. Es war zu spüren, daß sie auf ein besänftigendes Wort von ihm wartete, auf eine Art Absolution für ihr Verhalten, das sich nicht mit ihren Gefühlen für Steadman deckte, aber ihm fiel nichts Rechtes ein. Schließlich verabschiedete er sich mit der Frage: «Ich höre, Sie sind Sängerin, Miss Cartwright?»
«Missis, um genau zu sein», korrigierte sie ihn mit einem übermütigen Lächeln, das ihre Augen erhellte. «Ja, ich singe.»
«Hier in der Gegend?»
«Manchmal. Im Dog and Gun am kommenden Freitag und Samstag. Ich trete gegen den Disco-Abend im Hare and Hounds an.»
«Ich werde mich bemühen dabeizusein», erklärte Banks. «Falls nichts dazwischenkommt.»
«Sicher, ganz wie Sie mögen», meinte Penny mit einer Spur von Zweifel in der Stimme, als habe sie einige Mühe mit der Vorstellung, daß sich ein Polizist für traditionelle Folkmusic oder für Musik überhaupt interessieren könne.
Er ging die schmale, kopfsteingepflasterte Straße hinunter, immer an der Kirchhofmauer entlang, und war eben an der Ecke angekommen, als er hinter sich eine Art Zischen hörte und sich umwandte. In der Tür zu Pennys Nachbarhaus stand eine alte Frau und winkte ihn zu sich heran. Als er sich auf wenige Schritte genähert hatte, wisperte sie ihm zu: «Sie müssen doch der Polizist sein, über den die alle reden.»
«Detective Chief Inspector Banks», stellte er sich vor und zückte seinen Ausweis. «Zu Ihren Diensten.»
«Nee, nee, Jungchen, laß man, ich glaub's schon», meinte sie und winkte seine Papiere zur Seite. «Bißchen geplaudert mit Euer Ladyschaft hier, was?» Ihr runzliger Daumen machte eine ruckartige Bewegung zur Tür von Pennys Cottage. Banks nickte, leicht verwundert.
«Na, hattse auch schön erzählt, was hier los war, Samstag nacht?»
«Was denn?»
«Also nich, hab ich mir doch gedacht», sagte die Alte triumphierend und verschränkte voller Genugtuung die Arme vor der Brust, «'n Riesenkrawall, das war los! Hat ihn rausgefeuert und in den Vorgarten geschmissen, der olle Major.»
«Geschmissen? Wen denn?»
«Na den, den se da abgemurkst ha'm», verkündete sie mit offensichtlichem Behagen. «Möcht nur mal wissen, warum verheiratete Männer immer um die jungen Dinger rumscharwenzeln müssen. Hat's aber auch faustdick hinter 'n Ohr'n, die Missy, kann ich Ihn'n flüstern. So isses, obwohl» - sie kicherte - «hat selber nich mehr alle Tassen im Schrank, der Major.»
«Wovon reden Sie, Mrs____?»
«Miss», berichtigte sie mit einigem Stolz. «Hab einundsiebzig Jahre aufm Buckel und bis heute keine Ahnung, wozu 'n Ehemann gut sein soll. Miss Bramford, bitte sehr, junger Mann. Und ich rede vom Samstag, wie nämlich der alte Cartwright hier vorbeigekommen is und sein Frollein Tochter erwischt hat mit diesem Burschen, den se kaltgemacht hab'n, klar? War so gegen zehn, ja, und fragen Se mich nich, was die zwei gemacht hab'n. War schließlich nich dabei, is aber fuchsteufelswild gewor'n, der Alte, und hat rumgebrüllt, daß er sich nich mehr blicken lassen soll.»
«Wollen Sie damit sagen, daß der Major handgreiflich geworden ist und Mr. Steadman vor Penny Cartwrights Tür befördert hat?» erkundigte sich Banks in dem Bemühen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Er hatte das sichere Gefühl, daß ihm sonst einiges entgehen würde bei dem Versuch, ihre Botschaft zu entschlüsseln.
«Tja, vielleicht nich mit so viel Worten...», versetzte Miss Bramford und ließ ihr Kinn tief in den Falten ihres Halses verschwinden. «War ja nich so genau zu sehn. Aber gestoßen hat er ihn, auf alle Fälle. So blaß und kränklich, wie der aussieht, der Bursche, is ja auch kein Wunder, wenn man Tag und Nacht über Büchern hockt. Hat se Ihn'n aber nix von erzählt, die junge Lady, wetten?»
Banks mußte zugeben, daß ihm Penny diesen Zwischenfall verschwiegen hatte. Tatsächlich hatte er den ganzen Komplex, der ihren Vater betraf, völlig aus den Augen verloren, nachdem sie ihn dazu provoziert hatte, sehr direkt zu werden.
«Ist sie anschließend noch einmal ausgegangen?» erkundigte er sich.
«Ihre Königliche Hoheit? Aber nein. Hab zwar die Tür gehört, so um elf, aber das war der Major.»
«Es gibt doch sicher auch eine Hintertür, oder nicht?»
«Aber ja», antwortete Miss Bramford, offensichtlich völlig im Bilde über die Bedeutung seiner Worte.
Banks bedankte sich, und die alte Frau schloß die Tür, ein selbstgefälliges Lächeln auf dem runzligen Gesicht. Nach einem letzten befremdeten Blick auf Pennys Cottage wandte sich Banks ab, machte sich auf den Weg zu seinem Wagen und fuhr endlich nach Hause.