Um halb acht drängten sich bereits die Gäste im Dog and Gun, und die Lounge Bar war fast voll. Es war ein langer, schmaler Raum, von dessen Mitte ein kaum erkennbarer, seitlicher Durchlaß abging. Das Publikum saß eng zusammengepfercht an kleinen Tischen, und damit sich niemand für die Getränke von der Stelle rühren mußte, hatte man einen weißbekittelten Kellner angeheuert, der sich mühsam seinen Weg durch das Getümmel bahnte, ein randvoll mit dunklem und hellem Bier beladenes Tablett bedrohlich in Schulterhöhe balancierend. Die Musikbox war für diesen Abend außer Betrieb, statt dessen rieselte dezente, folkloristische Hintergrundmusik aus den Lautsprechern. Am anderen Ende des Raums war ein niedriges Holzpodest zu erkennen - eine Behelfskonstruktion, die es kaum rechtfertigte, als Bühne bezeichnet zu werden -, mit etlichen Mikrofonen an Ständern und Querbalken, zwei voluminösen Boxen, drei Barhockern und einer Verstärkeranlage, deren Lichter rot aufblinkten.
Banks und Sandra saßen mit Harriet und David etwa in der Mitte des Raums, an einem Tisch auf der rechten Seite. Harriet war eine lebhafte, intelligente Frau mit dem Aussehen eines pfiffigen Kobolds und betrieb eine rollende Leihbücherei, mit der sie die entlegensten Dörfer der Dales besuchte. Ihr Mann David war stellvertretender Filialleiter einer Bank in Eastvale und - um die Wahrheit zu sagen - ein ziemlicher Langweiler. Jedenfalls für Banks.
Offensichtlich hatte der Langweiler gerade eine Bemerkung gemacht, auf die er etwas mehr als ein stummes Nicken erwartete. Banks hatte allerdings nicht hingehört, da er eben einen Camper beobachtet hatte, einen jungen Mann mit frischem Teint, der mit seinen knapp achtzehn Jahren schon den standfesten Trinker hervorkehrte, um die kleine Freundin zu beeindrucken.
«Wie bitte?» fragte Banks nach und wölbte die Hand vors Ohr, als sei er schwerhörig.
«Ich sagte, daß Sie vermutlich selbst bestens Bescheid wissen über Computer, da Sie ja bei der Force sind», wiederholte David. «Aber ich fürchte, ich langweile Sie.»
«Nein, durchaus nicht», log Banks, drückte den Tabak in seiner Pfeife fest und zündete sie an, als habe er Sandras mißbilligendes Sitrnrunzeln nicht bemerkt. «Keineswegs, aber es stimmt schon, mir sind natürlich auch ein paar Begriffe aus der Computersprache zu Ohren gekommen», lächelte er und dachte dabei eher an die altmodische Redensart von der <Force>, die eine ziemlich seltsame Auffassung von seinem Beruf verriet. Welche <Force> sollte das sein? Die von Recht und Gesetz vermutlich. Nach dem Motto «May the force be with you». Die Macht des Guten gegen das Böse? Eine Phrase, steif und trocken und kaum geeignet, diesem Job gerecht zu werden.
Während er David auseinandersetzte, wie wenig er zu diesem Thema beizutragen hatte, beobachtete er, wie Penny Cartwright und Jack Barker das Lokal betraten, sich nach vorn zu dem Podest durchkämpften und auf den Stühlen Platz nahmen, die man dort reserviert hatte. Kurze Zeit darauf erschien ein sichtlich aufgeregter, pickliger junger Mann auf der Bühne, klopfte gegen die Mikrofone, sprach in jedes das Wort «Test» mehrmals hintereinander und begrüßte schließlich die Gäste zur großen Folknacht im Dog and Gun. Nach und nach verstummten die Gespräche, bis man nur noch das leise Brummen des Verstärkers hörte und das Klingeln der Kasse, in die der Barkeeper die verkauften Getränke eintippte. Das Mikrofon gab ein schrilles Pfeifen von sich, als der junge Mann zu dicht herantrat. Er zog eine Grimasse und wich hastig ein wenig zurück, um schließlich das Programm bekanntzugeben. Banks konnte die Namen der einzelnen Gruppen nicht verstehen, hatte aber immerhin mitbekommen, daß Penny zwei Sets von jeweils fünfundvierzig Minuten bestreiten würde, den ersten um halb neun und den zweiten gegen halb elf.
Nach diversen weiteren Ankündigungen und Erklärungen erklomm schließlich ein Duo das Podest. Der junge Mann hatte nur eine Gitarre in der Hand, während das Mädchen ein ganzes Sortiment von bizarren alten Zupfinstrumenten bei sich trug und auf dem Boden verteilte. Als erstes versuchten sie sich an einem Song von Bob Dylan und schafften es immerhin, wie Banks fand, das fehlende Talent durch besondere Begeisterung wettzumachen. Nach dem Applaus machte der junge Mann ein paar Witze, entschuldigte sich, daß er seine Noten vergessen und noch nicht genügend Zeit gefunden habe, seine Technik zu verbessern, und hatte das Publikum im Nu dazu gebracht, daß es mehr von ihm hören wollte und bereit war, die kleinen Mängel zu übersehen.
Das Mädchen hatte unterdessen geschwiegen und sich darauf konzentriert, ein Instrument zu stimmen, das für Banks wie eine Mandoline aussah und mit dem sie nun, äußerst gekonnt, ein Medley aus alten englischen Tänzen intonierte. Das Publikum zeigte sich überwiegend aufmerksam und respektvoll, und alles war ruhig, bis auf die obligaten gelegentlichen Unterbrechungen, wenn der Kellner vorbeikam und neue Bestellungen aufnahm, und einen entrüsteten Zwischenruf, um den betrunkenen jungen Camper zur Ordnung zu rufen.
Banks und David hatten jeder eine Runde bestellt, Bitter für die Herren und Lager mit Schuß für die Damen. Banks war entschlossen, seinen Bierkonsum unter Kontrolle zu halten, schließlich war es nicht besonders sinnvoll, sich auch nur andeutungsweise alkoholisiert zu zeigen, in einem Dorf, wo man in einer Mordsache zu ermitteln hatte. Zwei Pints für anderthalb Stunden waren ein ganz ordentlicher Schnitt, wie er fand, allerdings war es auch erst kurz nach acht, und er kannte seine Neigung, das Trinktempo zu beschleunigen, wenn es auf Lokalschluß zuging.
Inzwischen war die erste Pause gekommen, und ein allgemeines Gedränge zu den Toiletten und zur Theke setzte ein. Auch Jack Barker bahnte sich seinen Weg zur Bar, sah Banks und sein Gefolge am Tisch sitzen und kam näher.
«Guten Abend», grüßte er und streckte die Hand aus. «Das ist aber eine Überraschung! Ich wußte gar nicht, daß Sie ein Folkie sind.» Ein leichtes Funkeln war in seinen Augen, gerade deutlich genug, um die Ironie seiner Bemerkung erkennen zu lassen. «Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?» Er griff nach einem freien Stuhl und zog ihn an den Tisch, bevor Banks protestieren konnte. «Ich nehme an, Sie sind wegen Miss Cartwright gekommen, nicht wahr?»
«Missis Cartwright, soweit ich weiß», korrigierte Banks. «In der Tat, ja, ich habe mir sagen lassen, daß sie eine sehr gute Sängerin ist», erklärte er barsch, in der Hoffnung, daß sich Barker schnell wieder verabschieden würde.
«Na, da steht Ihnen aber ein echtes Fest bevor, Chief Inspector, wirklich, ein echtes Fest. Die Leute fahren meilenweit, nur um Penny singen zu hören. Hat einen fabelhaften Ruf hier in der Gegend, vor allem, seit sie den ganzen Kram hingeschmissen hat - Geld und Ruhm und das alles - und wieder in die Heimat gekommen ist. Back to the roots, so was wissen die Leute zu schätzen.»
Wertschätzung war wohl kaum die angemessene Bezeichnung für den üblen Klatsch, mit dem die Dorfbewohner Pennys Rückkehr zu ihren Wurzeln begrüßt hatten, fand Banks, sagte aber nichts dazu.
Barker hatte offensichtlich vor, mit Penny anzugeben, und es gab keine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten. Allenfalls, indem er grob wurde, aber inzwischen war Sandra von der Toilette zurück und musterte den Neuzugang interessiert. Keine Frage, es gab kein Entrinnen, begriff Banks, innerlich fluchend - er mußte die beiden miteinander bekannt machen.
Barker bedachte die Damen mit einem strahlenden Clark-GableLächeln, an dem er lange geübt hatte, wie Banks argwöhnte, griff nach Sandras Hand und sprach mit gestelztem Ton: «Welche Ehre! Ich hätte nie damit gerechnet, daß die Frau eines Polizisten so schön und bezaubernd sein könnte!»
David guckte etwas ratlos, ein leeres Lächeln auf dem Gesicht, während Banks ausgesprochen verstimmt wirkte. Es war nicht nur Barkers Charme oder seine gesellschaftliche Finesse, die ihn ärgerten. Auch die Tatsache, mit ihm an einem Tisch zu sitzen, ließ sich gerade noch ertragen, aber mit ansehen zu müssen, wie die eigene Frau in aller Öffentlichkeit mit einem Verdächtigen fraternisierte - das war nun wirklich ein Tiefschlag gegen seine elementarsten Instinkte als Kriminalbeamter. Schon allein weil er den Eindruck hatte, auf dem Präsentierteller zu sitzen - und das war ein Gefühl, das ihm gar nicht behagte. Alles schön und gut mit Gristhorpes Rat, sich unters Volk zu mischen und die Leute reden zu lassen - aber es gab schließlich auch noch Grenzen. Das hier war kein Dienst, sondern eine private Geselligkeit, und zwar eine, die für seinen Geschmack allmählich in Vertraulichkeiten ausartete. Erbittert saugte er an seiner kalten Pfeife und gab einsilbige Kommentare, wenn es ganz unumgänglich war.
«Wie haben Sie es geschafft, hier akzeptiert zu werden?» wollte Sandra von Barker wissen, nachdem er ihr von seiner Tätigkeit berichtet hatte. «Ich dachte, daß man Schriftstellern im allgemeinen mit Mißtrauen begegnet, oder?»
Barker nickte. «Das ist wahr, und zu Anfang war man in der Tat nicht sonderlich begeistert von mir», entgegnete er. «Es stimmt schon, in kleinen Gemeinden gelten Schriftsteller nicht gerade als vertrauenswürdig, was man den Leuten nicht verübeln kann. In einigen Ortschaften hat man genügend schlechte Erfahrungen gemacht mit solchen Typen, die sich ins dörfliche Leben einschleichen, sich mit allen anfreunden, dann aber hingehen und vernichtende Kritiken über das Landleben vom Stapel lassen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Namen oder Identitäten diskret zu verpacken. Es ist ähnlich wie mit den Indianern, die sich gegen Fotos wehren, weil sie glauben, man könne ihnen ihre Seele stehlen. Eine ziemlich zutreffende Einschätzung, meiner Ansicht nach. Schriftsteller wie diese scheinen in der Tat keine Skrupel zu haben und bringen die ganze Innung in Verruf.»
«Meinen Sie denn nicht, daß Schriftsteller einfach ein bißchen rücksichtslos sein müssen?» erkundigte sich Harriet. «Schließlich erwartet man doch, daß sie sich an die Wahrheit halten.»
«Mag sein, aber die, von denen ich hier rede, nutzen die Gastfreundschaft der Leute aus, um sie dann mit Worten nackt auszuziehen. Manche schleichen sich sogar in das Vertrauen der Menschen, ermuntern sie zu persönlichen Bekenntnissen, indem sie bestimmte Situationen aufbauen und die Wirklichkeit manipulieren, nur um zu erfahren, wie ihre <Charaktere> reagieren. Ich habe beispielsweise einen Typen kennengelernt, der eigens zu diesem Zweck Partys veranstaltete - in London war das -, regelrechte Gelage, bei denen an nichts gespart wurde. Mit Champagner, Single Malt Scotch, BelugaKaviar, Wachteln und dergleichen. Und wenn dann alle betrunken waren und anfingen, sich zu streiten, herumzubrüllen oder sich an anderer Leute Partner zu vergreifen, saß der große Meister stocknüchtern in seiner Ecke, beobachtete das Treiben und machte sich im Geist Notizen. Es dauerte eine Zeit, bis die Leute merkten, was da vorging - immerhin verbrachten sie ja einen fröhlichen Abend -, aber dann dämmerte ihnen, daß sie sich eines Tages in seinen Geschichten wiederfinden würden, die er in irgendwelchen Magazinen veröffentlichte, als Figuren, die nur spärlich getarnt waren und sich leicht erkennen ließen, von sämtlichen Freunden und Kollegen. Mehrere Ehen sind darüber zerbrochen, ehrbare Bürger gerieten in Verruf - und das alles im Namen der <Kunst>. Mit dem Ergebnis, daß der Zulauf zu diesen Festen erheblich abnahm.»
«Was ist aus ihm geworden?» fragte Harriet, die gespannt auf ihrer Stuhlkante saß.
«Oh, ich vermute, er ist weggezogen», meinte Barker mit einem Achselzucken. «Keine Ahnung, wo er hin ist. Sicher auf zu neuen Ufern. Jedenfalls publiziert er immer noch.»
«Und was ist mit Ihnen, Mr. Barker?» wollte Sandra wissen. «Drängen Sie sich auch in das Vertrauen der Menschen und rauben ihnen ihre Seele?»
Barker lachte. «Nennen Sie mich doch Jack, bitte», schlug er vor, und Banks spürte, wie sich seine Oberlippe zusammenzog. «Nein, das tu ich nicht, ganz bestimmt nicht. Anfangs waren zwar alle mißtrauisch, aber das sind sie schließlich immer mit Zugereisten, wie man hier sagt. Nach einer Weile hat dann irgendwer damit angefangen, mal in meine Bücher zu gucken - aus reiner Neugier, nehm ich an -, dann noch einer und noch einer, bis sich schließlich herumgesprochen hat, daß ich ausschließlich von hartgesottenen Privatdetektiven aus den dreißiger Jahren schreibe und sich meine Geschichten im sonnigen Kalifornien abspielen. Seither gelte ich nicht mehr als Bedrohung und habe - ob Sie's glauben oder nicht - sogar ein paar richtige Fans hier im Ort.»
«Ich weiß», mischte sich Harriet ein, «ich schleppe genug von Ihren Werken in meiner rollenden Leihbücherei durch die Gegend.»
Barker belohnte sie mit einem charmanten Lächeln. «Sobald die Leute wissen, daß man völlig harmlos ist», fuhr er fort, «wird man bis zu einem gewissen Grade akzeptiert. Bei Harry war das genauso.»
«Harry? Was meinen Sie?» schaltete sich Banks ein und versuchte, möglichst beiläufig zu klingen, was ihm jedoch kläglich mißlang und ein Stirnrunzeln seiner Frau eintrug. Es war klar, daß sie ihn als Spielverderber betrachtete.
«Ich meinte nur, daß Harry schließlich auch ein Schriftsteller war, auf seine Art», erläuterte Barker, «aber da er sich nur mit den alten Römern beschäftigt hat und seinen verlassenen Bleigruben, hat sich niemand darum gekümmert. Außer Penny und Michael Ramsden natürlich, die haben sich schon dafür interessiert. Für die meisten ist der Stoff allerdings ein bißchen zu trocken, staubtrocken sogar.» Erneut bedachte er die Damen mit einem strahlenden Lächeln, offensichtlich in der Hoffnung, sich mit ihrer Hilfe wieder einem angenehmeren Gesprächsthema widmen zu können.
«Kennen Sie Ramsden näher?» erkundigte sich Banks, ungerührt von Barkers offenkundigem Unbehagen und Sandras durchdringenden Blicken. Die beiden Damen begannen daraufhin, ostentativ miteinander zu plaudern, während David weiterhin mit verlorenem Blick in die Luft schaute.
«Ich bin ihm gelegentlich begegnet», antwortete Barker, kurz angebunden.
«Was halten Sie von ihm?»
«Ein recht angenehmer Mensch», meinte Barker mit einem hilfesuchenden Blick zu den Damen, «aber Sie können wohl kaum erwarten, daß sich ein Schriftsteller positiv zu einem Verleger äußert, oder? Sie müssen sich vorstellen, daß ich in manche Passagen zwei Tage Arbeit investiere, um eine gute Beschreibung zu liefern. Und dann kommt mein Verleger und will sie streichen, weil sie den Handlungsablauf behindern.»
«Ramsden ist doch aber kein Verleger, oder?» insistierte Banks.
«Großer Gott, nein. Er macht nur seine Geschäfte mit diesem hochgestochenen, akademischen Zeug.»
«Wußten Sie von ihm und Penny Cartwright?»
«Das ist doch ewig her! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?»
«Ich will nur etwas Ordnung bringen in die Beziehungen untereinander, weiter nichts», erklärte Banks lächelnd.
«Da, es geht weiter», stellte Barker fest und stand auf. «Wenn Sie mich bitte jetzt entschuldigen würden...» Er verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung von Harriet und Sandra und ging wieder zurück zu seinem Platz. Inzwischen war es kurz vor halb neun. Während das Licht im Saal langsam schwächer wurde, beobachtete Banks, wie Barker auf Penny einredete und von Zeit zu Zeit einen raschen Blick über seine Schulter warf. Bevor es ganz dunkel wurde, sah er gerade noch, daß ihr Barker etwas ins Ohr flüsterte, worauf sich Penny umdrehte und laut lachte.
Als der Zeremonienmeister erneut zu seinen weitschweifigen Erklärungen und Begrüßungen ansetzte, beugte sich Sandra zu Banks vor und meinte: «Ich finde, du warst ein bißchen unhöflich zu ihm. Mußte das sein? Du hattest mir doch einen ganz privaten und unterhaltsamen Abend versprochen.»
Banks murmelte widerstrebend eine Entschuldigung und beschäftigte sich angelegentlich mit seiner Pfeife. Es kam häufig vor, daß sich berufliche Dinge störend in ihr Privatleben drängten, die Situation war also nicht neu, führte aber immer wieder zu Spannungen. Möglicherweise hatte Sandra erwartet, daß mit dem Wechsel in den Norden alles anders würde, daß ein neues Leben begann, was natürlich Unsinn war. Die Landschaft mochte anders sein, aber die Menschen waren dieselben, mit denselben, ewig gleichen Schwächen, dachte Banks und gab dem Kellner ein Zeichen, eine neue Runde zu bringen. Scheiß drauf, sollte doch ein anderer den Chauffeur machen, immerhin war er doch eben noch daran erinnert worden, daß man zum Vergnügen hier war...
Unter lautem Beifall und durchdringenden Pfiffen aus dem Hintergrund betrat Penny Cartwright die Bühne. Immer noch wütend auf Jack Barker, dessen gottverdammten Charme und geistreiches Geplauder, auf Sandra, die den Kerl auch noch ermutigt hatte, und auf sich selbst, weil er allen die Stimmung verdorben hatte, stürzte er sich mit erbitterter Entschlossenheit auf sein frisches Bitter und starrte finster in seine Pfeife, als sei dieses kümmerliche Utensil die Wurzel allen Übels. Tatsächlich war sie schon wieder ausgegangen, und es machte ihn einfach krank, dieses ewige Hin und Her, Tabak rein, Tabak raus, putzen, kratzen, wieder stopfen und wieder anzünden.
Penny begann ohne Musikbegleitung mit dem Titel «Still Growing», einer traurigen Ballade von einer arrangierten Heirat zwischen einer Frau und einem Knaben an der Schwelle zum Mannesalter, den ein früher Tod ereilt, betrauert von seiner Witwe mit den Worten «Once I had a sweetheart, but nowl have none / Death has put an end to his growing». Die Geschichte war einfach und sparsam erzählt, und Banks fühlte, wie ihn die Musik mehr und mehr gefangennahm. Die Töne trugen ihn davon, wie bei seinen geliebten Opernarien, hüllten ihn ein, legten sich sachte um seine düsteren Gedanken und drängten sie weit nach hinten, in eine dunkle Ecke seines Hirns. Pennys Stimme hatte Leidenschaft, aber auch die nötige Gefaßtheit - es war die Stimme einer Überlebenden, die mit echtem Mitgefühl die Verlorenen besang, die vom Schicksal weniger begünstigten Seelen. Es war eine Altstimme, etwas tiefer, als Banks erwartet hatte, rauchig bei den dunklen Tönen, aber klar und rein in den Höhenlagen.
Er applaudierte laut, als sie geendet hatte, und bemerkte, daß ihn Sandra mit hochgezogenen Augenbrauen, aber auch mit einem Lächeln der Zustimmung musterte. Es folgten weitere Songs im traditionellen Folkstil, zu denen sich Penny ab und an selbst auf der Gitarre begleitete, während eine weitere junge Frau die Flöte spielte oder die Geige mit einfiel zu einer bunten Mischung aus Liedern von leidenschaftlichen Gefühlen und verbotenen Lieben bis zu munteren Tänzen und schaurigen Balladen wie «The Murder of Maria Marten».
Trotz seiner Freude an der Musik bemerkte Banks, wie seine Gedanken wieder zurückwanderten zu Barker und zu dessen Reaktion auf Michael Ramsden. Allem Anschein nach gab es da eine Abneigung, die weit über die generellen Antipathien zwischen Autor und Verleger hinausgingen. Ramsden war ein enger Freund gewesen von Steadman, und er hatte Penny Cartwright gekannt, seit ihrer Kindheit. Spielte sich vielleicht doch noch etwas ab zwischen den beiden? War Barker möglicherweise einfach eifersüchtig ? Und wenn das für Ramsden galtmußten dann seine Gefühle gegenüber Steadman nicht ähnlich gewesen sein?
Er sah zu Penny und beobachtete aus den Augenwinkeln Barkers edel geformtes, schönes Profil. Kein Zweifel, dieser Mann liebte Penny, Ramsden hatte ganz recht mit seiner Vermutung. Außerdem war es nur allzu begreiflich, Penny war eine Schönheit und eine große Begabung dazu. Trotzdem waren die beiden auseinandergegangen, Ramsden und sie, allerdings lag das Jahre zurück, bevor sie zu dieser Schönheit erblüht war, und es konnte durchaus nichts weiter als eine harmlose Jugendschwärmerei gewesen sein. Auf dem Lande vergaß man solche Dinge allerdings nicht so leicht, insofern war es auch vorstellbar, daß die böseren Zungen Penny bis heute für ein gefallenes Mädchen hielten, das dieser nette Michael Ramsden - völlig zu Recht - sitzengelassen hatte. Aber was dachte Ramsden selbst darüber? Wie empfand er wirklich über diese Trennung?
Penny kündigte den letzten Titel ihres ersten Auftritts an, «Little Musgrave and Lady Barnard». Banks deponierte die erkaltete Pfeife im Aschenbecher und widmete sich der Musik.
Gegen neun Uhr verließ Sally Lumb das Haus an der Hill Road. Wie an jedem Freitag war ihre Mutter zum Bingo nach Eastvale gefahren, mit Mrs. Crawford, während ihr Vater an einem Dartwettbewerb im Bridge teilnahm. Beide würden nicht vor elf Uhr zurück sein, so daß ihr reichlich Zeit blieb und keine unangenehmen Fragen zu befürchten waren.
Trotz der dunklen Wolken am Himmel war es noch immer sehr warm draußen, vielleicht ein wenig zu warm und etwas schwül, was nach Sallys Erfahrung darauf hindeutete, daß ein Gewitter im Anzug war. Am Fuße des Hügels angekommen, bog sie am Bridge nach links ab in die High Street. Weit und breit war niemand zu sehen, Helmthorpes Bewohner hatten sich in den Pubs versammelt oder klebten zu Hause an der Glotze. Bis zur Polizeistunde war bestimmt alles ruhig, falls nicht irgendwelche betrunkenen Camper in der Disco vom Hare and Hounds randalierten und Big Cyril die Burschen vor die Tür setzen mußte.
Sie ging die Straße hinunter bis zum Dog and Gun und blieb einen Moment vor der offenen Tür stehen. Von drinnen ertönte Gesang, dem Klang nach zu urteilen, war es Penny Cartwright. Sally kannte ihre Stimme von anderen Anlässen, hatte aber nichts von diesem heutigen Auftritt gewußt. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. Reichlich Zeit noch. Die Klänge der Musik wehten sanft durch die feuchte Abendluft, und die Liedworte waren deutlich zu hören: «A grave, a grave», Lord Barnard cried, «To put these lovers in; But bury my lady on the top For she was of noble kin.»
Die vertraute Weise in Gedanken mitsingend, setzte Sally ihren Weg fort, verhielt einen Augenblick an der Brücke, um dem Rauschen des Wildbachs zuzuhören, und beschleunigte dann ihre Schritte, um die Straße zu verlassen und sich nach Süden in die Büsche zu schlagen, geradewegs zu den einsamen weiten Höhen, auf denen Kevin und sie noch vor kurzem Penny Cartwright begegnet waren. Sie hatte eine Verabredung einzuhalten, eine Warnung zu übermitteln. Bald würde sie Klarheit haben und die Lösung wissen.
In der Pause zwischen ihren beiden Auftritten verließ Penny Cartwright den Pub und begrüßte Banks im Vorbeigehen mit einem kühlen Lächeln. Barker folgte dicht hinter ihr, nickte Banks kurz zu und vollführte eine knappe Verbeugung vor Harriet und Sandra.
«Wirklich eine Schönheit und so begabt», meinte Sandra, als die beiden verschwunden waren. «Du wirst sie doch wohl hoffentlich nicht verdächtigen ?»
Banks begnügte sich mit der Erklärung, daß sie lediglich zu den näheren Freunden des Mordopfers zähle, und Sandra beließ es dabei. Danach plauderte man eine Zeitlang über die Musik, die alle sehr genossen hatten, bestellte frische Getränke, ließ sich eine dankenswerterweise kurze Einlage zeitgenössischer «Protest»-Folkmusic gefallen und wartete auf Pennys zweiten Auftritt. Pünktlich um Viertel nach zehn war sie zurück und ging geradewegs zur Bühne.
Diesmal hatte ihr Vortrag einen seltsamen neuen, leicht distanzierten Ton, immer noch engagiert, aber ohne rechte emotionale Beteiligung. Banks lauschte den Texten der alten Lieder, den scheinbar längst vergangenen Ereignissen und Gefühlen, die sich darin ausdrückten und die denen, die ihm täglich begegneten, doch so verblüffend ähnlich waren, und er fragte sich, wie wohl die Moritat von Harold Steadman enden würde. Natürlich nicht, indem man jemanden «hoch am Galgen» aufknüpfte, das gehörte der Vergangenheit an - aber wen würde man schließlich als Mörder enttarnen? Aus welchen Motiven hatte er getötet, und welche Rolle würde er selbst, Banks, in dieser finsteren Ballade einnehmen? Ihm war, als habe man ihn plötzlich zurückversetzt in ein fernes, vergangenes Jahrhundert, als lasse diese schöne junge Frau, die da vorn im Scheinwerferlicht von den Enttäuschungen und Grausamkeiten des Lebens sang, mit einem Gefühl, das ihre Schönheit noch betörender machte, die schauerliche Moritat von Harold Steadmans Mörder erklingen.
Unvermittelt wechselte die Musik zu einem lebhaften Rundgesang und riß ihn aus seinen Träumen. Er trank sein Bier aus und verspürte augenblicklich Lust auf ein neues. Ein Zeichen dafür, daß er betrunken war, beschwipst zumindest, und daß der Abend seinem Ende zuging. Wenn es stimmte, daß Barker das Mädchen liebte, und wenn Steadman etwas mit ihr gehabt hatte... wenn Ramsden sie immer noch... wenn Mrs. Steadman davon wußte... wenn ihre Ehe doch nicht so gut gewesen war, wie es den Anschein hatte... Wahllos trieben seine Gedanken dahin, stiegen in spiralförmigen Nebeln hoch wie Pfeifenrauch und lösten sich auf in der warmen Luft.
Die Vorführung endete mit einem kräftigen und lang anhaltenden Applaus. Banks entschloß sich, noch ein letztes Bier zu trinken, und griff nach dem Kellner, der gerade vorbeikam. Sandras leicht vorwurfsvollen Blick mit einem Achselzucken und albernen Grinsen quittierend, bestellte er ein frisches Pint für sich selbst und einen weiteren Halben für David. Er hatte keine Probleme mit Alkohol, nie gehabt, aber manchmal führte er sich schon ein bißchen kindisch auf, wenn er gedankenlos die Pints in sich reinschüttete. Sandra hatte sicher Angst, daß er sich lächerlich machen würde, aber dieses eine Glas konnte er schon noch vertragen, klarer Fall. So schrecklich viel war's nun schließlich auch nicht gewesen, und vielleicht hatte er sogar noch Platz für ein weiteres Gläschen, wenn noch etwas Zeit blieb...
Ganz bestimmt gab es heute noch ein Gewitter, dachte Sally, während sie auf der flachen Mauer der ehemaligen Packpferd-Brücke saß, die Beine über den warmen Stein baumeln ließ und beobachtete, wie die Sonne hinter den Hügeln verschwand, einen rotgoldenen Strahlenkranz über den Himmel werfend, als habe sich die Erde geöffnet vor einem gewaltigen Glutball, in dessen Licht die schweren grauen Wolken zu riesigen Türmen emporwuchsen.
Insekten summten durch die feuchtschwüle Luft, ansonsten herrschte vollkommene Stille an diesem entlegenen, für Autos kaum passierbaren Ort, der geradezu ideal geeignet war für ein verschwiegenes Treffen. Auf dem ganzen Hinweg schon hatte Sally diese Stille genossen und die seltsamen Schwingungen gespürt, die die Landschaft in Vorahnung des nahenden Gewitters erzittern ließen. Alle Farben schienen satter geworden, die wilden Blumen und Gräser zu sprühen vor Leben und die schweren Wolken über den fernen Hängen zum Greifen nah.
Inzwischen aber war sie ein wenig nervös geworden, ohne besonderen Grund. Wahrscheinlich lag es an dem drohenden Gewitter, an der mit Elektrizität geladenen Luft, der Einsamkeit und der nahenden Dunkelheit. Nicht mehr lange, und der Wind würde über das rauhe Moor peitschen, der Regen vom Himmel prasseln und das Tal blank waschen. Wirklich perfekt, dieser Platz, für ein verschwiegenes Stelldichein, keine Frage. Besser, als wenn man zusammen gesehen wurde, womöglich dieser Chief Inspector davon erfuhr und einem peinliche Fragen stellte. Schließlich hatte sie beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, vielleicht sogar ein Leben zu retten oder den Mörder höchstpersönlich zu schnappen. Trotzdem, irgendwo tief in ihrem Innern war so eine Ahnung, daß die seltsamen Schauer, die ihr über den Rücken liefen, vielleicht nicht nur mit dem Wetter zusammenhingen.
Gedankenverloren nahm sie einen losen Stein und warf ihn über die Mauerbrüstung in den seichten, langsam dahinrieselnden Wildbach. Wenn es erst geregnet hatte, überlegte sie, würde er anschwellen und Wasser in sprühenden, rauschenden Kaskaden ins Tal ergießen, bis hinunter zur High Street von Helmthorpe.
Wieder schaute sie auf die Uhr. Zwanzig vor zehn. Das Warten wurde allmählich langweilig, und sie wünschte sich, das Ganze schon hinter sich zu haben. Die letzte Helligkeit der untergehenden Sonne schwand rasch dahin, und die Wolkendecke wurde immer dichter. Aus der Ferne ertönte der klagende Ruf einer Schnepfe, und die Einsamkeit rundum hatte plötzlich etwas Schauerliches, wie in einer Gruselgeschichte. Es war unheimlich, obwohl sie diese Gegend doch kannte und schon oft hier gewesen war. Ein Zug Krähen flatterte durch die Luft wie ein Haufen schmutziger Lappen, und mit einem Mal drang ein neues Geräusch durch die Stille, eine Art Surren oder leises Brummen. Ein Auto. Sally spitzte die Ohren, warf noch eben einen Kiesel in den Bach und stand auf, um den Weg hinunterzuschauen. Ja, da waren sie schon zu sehen, die beiden Scheinwerfer, auf und ab hüpfend auf der holprigen Strecke. Gleich war es soweit.
Gegen fünf Uhr morgens setzte endlich das Gewitter ein. Lautes Donnern riß Banks aus einem seltsam bedrückenden Traum. Sein Mund fühlte sich pelzig an, sein Kopf schwer wie Blei. Soviel zum Thema Mäßigung in Sachen Alkohol. Immerhin hatte er sich wenigstens nicht auffällig benommen; daran konnte er sich noch erinnern.
Er stand vorsichtig auf, um Sandra nicht zu wecken, trat an das Fenster zum Garten und kam gerade noch zurecht, um einen gewaltigen Blitz aufleuchten zu sehen, der von Nord nach Süd über den Himmel zuckte. Dann die ersten Regentropfen, die groß und schwer vereinzelt gegen die Fensterscheibe klatschten und mit kurzen Unterbrechungen auf das schräge Schieferdach des Werkzeugschuppens trommelten, um schließlich immer dichter und schneller auf das Laub der Bäume zu prasseln, die jenseits des Gartentors die schmale, dunkle Allee säumten. Kurz darauf hatten sich die Schleusen des Himmels ganz geöffnet, und das Wasser strömte in breiten Bächen an den Scheiben hinunter über das Dach des Schuppens, bevor es gurgelnd durch die Regenrinne in den Garten floß.
Banks ging ins Badezimmer, schluckte zwei Panadol und legte sich wieder ins Bett. Sandra war nicht wach geworden, und die Kinder schienen ebenfalls fest zu schlafen. Früher hatte sich Tracy vor Gewittern gefürchtet und sich jedes Mal ins Bett der Eltern verkrochen, doch inzwischen hatte sie gelernt, wie diese Elektrizität in der Luft zustande kam - vermutlich wußte sie sogar mehr darüber als er selbst und seither war ihre Angst verschwunden. Auf Brian hingegen hatten nächtliche Gewitter nie sonderlichen Eindruck gemacht, abgesehen von der Tatsache, daß er es lästig fand, mitten in seinem Lieblingsprogramm unterbrochen zu werden, weil Banks das Fernsehkabel aus der Steckdose zu ziehen pflegte, wie es sein Vater stets getan hatte. Ein Beispiel, das er einfach nachgeahmt hatte, ohne recht zu wissen, warum.
Der stetige Rhythmus des Regens und die plötzliche Entladung der Atmosphäre durch das einsetzende Gewitter wirkten entspannend genug, um ihn langsam wieder in einen leichten, unruhigen Schlaf fallen zu lassen. Als der Wecker klingelte und es Zeit war, zur Arbeit zu gehen, hatte er das Gefühl, daß nur Sekunden vergangen waren.
Zu seiner Überraschung fand er sein Büro in hektischer Betriebsamkeit vor. Superintendent Gristhorpe wartete bereits ungeduldig auf sein Erscheinen.
«Was ist los, um Himmels willen?» fragte Banks, während er seinen durchnäßten Regenmantel in den schmalen Spind hängte.
«Ein junges Mädchen wurde als vermißt gemeldet», erklärte Gristhorpe, die buschigen Brauen zu einem breiten, durchgehenden Balken gerunzelt.
«Aus Eastvale?»
«Holen Sie sich erst mal einen Kaffee, mein Junge. Dann reden wir weiter.»
Den Becher in der Hand, marschierte Banks hinüber in die enge Kantine, goß sich frischen Kaffee ein und begab sich zurück in sein Büro, wo er sich hinter den Schreibtisch setzte, in kleinen Schlucken seinen Kaffee trank und darauf wartete, daß Gristhorpe zur Sache kam. Die Erfahrung lehrte, daß man den Superintendent nicht hetzen durfte.
«Aus Helmthorpe», ließ sich Gristhorpe schließlich vernehmen. «Constable Weaver, der Bobby vor Ort, ist mitten in der Nacht - kurz nachdem das Gewitter losgegangen war - von den Eltern aus dem Bett geklingelt worden. Anscheinend war ihr Früchtchen von Tochter nicht nach Hause gekommen, und sie fingen an, sich Sorgen zu machen. Wie die Mutter sagt, ist das gute Kind schon mal öfter lange weggeblieben - muß wohl in dem bewußten Alter sein, sechzehn oder so was -, weshalb sie sich erst mal keine Gedanken gemacht haben. Bis sie dann von diesem Unwetter wach geworden sind und festgestellt haben, daß sie immer noch nicht da war... Allem Anschein nach ist das noch nie vorgekommen, bislang.»
«Wie heißt denn das Mädchen?»
«Sally Lumb», antwortete Gristhorpe, in einem Ton, der etwas merkwürdig Entscheidendes und Endgültiges hatte.
Banks rieb sich nachdenklich das Gesicht, nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee und meinte schließlich: «Ich kenne sie, hab sie neulich noch hier gehabt, in meinem Büro. Sie wollte mich unbedingt sprechen.»
Gristhorpe nickte. «Weiß ich, hab das Protokoll gelesen. Deshalb wollt ich auch mit Ihnen sprechen.»
«Ein hübsches junges Ding», meinte Banks gedankenvoll und mehr zu sich selbst. «Sah älter aus, als sie war. Sechzehn, hm... Möchte wohl Schauspielerin werden und kann es gar nicht abwarten, von hier wegzukommen, in die Großstadt.» Unvermittelt mußte er an Penny Cartwright denken, die in so vielen Großstädten gewesen war, um am Ende doch wieder in Helmthorpe zu landen.
«Diese Möglichkeit wird gerade überprüft. Wir wissen ja beide, Alan, wie solche Geschichten normalerweise ausgehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie einfach ausgerissen, nach Manchester oder nach London. Die Mutter hat Constable Weaver erzählt, daß es in letzter Zeit oft Streit gegeben hat zu Hause. Sieht so aus, als ob die junge Dame mit dem Herrn Papa nicht so gut zurechtgekommen ist. Bestimmt ist sie einfach auf und davon.»
«Ja, sehr wahrscheinlich», nickte Banks.
«Aber Sie glauben nicht so recht daran, oder?»
«Das hab ich nicht gesagt, Sir.»
«Nein, es hat nur so geklungen.»
«Der plötzliche Schock, nehm ich an. Schließlich kann es ja auch einen Unfall gegeben haben. Sie hat einen Freund, mit dem sie sich an verschwiegenen Plätzchen trifft, wo man ungestört küssen und knutschen kann, Sie verstehen? Und hier in der Gegend wimmelt's nur so von alten Bleigruben und gefährlichen Bergwerksschächten.»
«Ja, das könnte sein. Gehen wir also vorläufig mal von dieser Vermutung aus oder von der Möglichkeit, daß sie einfach ausgerissen ist. Die Personenbeschreibung ist bereits an alle größeren Städte durchgegeben, und ich hoffe inständig, daß wir es nicht mit einem Sexualmörder zu tun haben.» Er machte eine Pause und schaute hinunter auf die vom anhaltenden Regen fast leergefegte Market Street und den angrenzenden Platz, auf dem nur ein paar Unverdrossene unter ihren Regenschirmen zu den Geschäften strebten. «Das Problem ist nur», fuhr er fort, «daß wir bei diesem Wetter keine Suchtruppe losschicken können. Verdammt gefährlich, die Leute da oben im Moor und an den Bergwänden rumkraxeln zu lassen.»
«Was kann mit ihr passiert sein? Was glauben Sie?» erkundigte sich Banks.
«Ich?» Gristhorpe schüttelte den Kopf. «Ich habe keine Ahnung, Alan. Wie gesagt, ich hab mir dieses Vernehmungsprotokoll angesehen, aber nichts entdecken können, was nach einem handfesten Hinweis aussieht. Sie hat uns lediglich dazu verholfen, den genauen Zeitpunkt bestimmen zu können, an dem die Leiche da oben deponiert wurde, das ist alles. Ansonsten hat sie doch allem Anschein nach nichts gesehen.»
«Sie meinen also, daß sie keine Gefahr darstellt für... für den Mörder zum Beispiel?»
«Nun, selbstverständlich geben einem solche Zufälle schon zu denken, schließlich ist man Polizist, aber andererseits darf man sich davon auch nicht den Blick verstellen lassen. Im Moment wissen wir lediglich, daß wir einen Mordfall zu lösen haben und daß außerdem ein junges Mädchen vermißt wird.»
«Aber Sie halten es doch für möglich, daß da eine Verbindung besteht?»
«Das will ich, verdammt noch mal, nicht hoffen! Die Idee, daß da draußen jemand rumläuft, der diesen einen Mord auf dem Gewissen hat, ist schlimm genug - aber sich vorzustellen, daß jetzt auch schon Kinder getötet werden, ist ja wohl der Gipfel des Horrors.»
«Es steht doch noch gar nicht fest, daß sie tot ist, Sir.»
Gristhorpe betrachtete Banks einen Moment lang mit unbewegtem Blick und wandte sich wieder zum Fenster. «Nein, das ist wahr», räumte er ein. «Gibt es sonst noch was? Ich meine irgendwelche anderen Hinweise, daß sie mit dem Fall Steadman zu tun hat?»
«Nicht, daß ich wüßte. Ich habe sie nur dieses eine Mal gesehen, als sie hier war, um mir von dem Auto zu berichten, das sie gehört hatte. Und ich habe den Eindruck gewonnen, daß sie einigermaßen enttäuscht von hier weggegangen ist, weil ich die Lichter der Großstadt aufgegeben habe. Willy Fisher war übrigens auch gerade hier und hat draußen auf dem Gang ein kleines Handgemenge mit zwei Uniformierten veranstaltet. Ich glaube, das hat sie ein bißchen verunsichert.»
«Worauf wollen Sie hinaus, Alan?»
«Nichts Bestimmtes, wirklich. Aber vielleicht hatte sie doch irgendwas im Sinn und wollte nur nicht damit herausrücken vor jemandem wie mir.»
«Kein Grund, sich deshalb Vorwürfe zu machen», erklärte Gristhorpe ermattet und quälte sich von seinem Stuhl hoch. «Hoffen wir, daß sie einfach nur irgendwohin ausgerissen ist, aber diesen möglichen Querverbindungen muß natürlich trotzdem nachgegangen werden. Hatten Sie die Absicht, heute nach Helmthorpe zu fahren?»
«Nein, ich wollte eigentlich den Papierkram durcharbeiten bei diesem scheußlichen Wetter. Aber warum fragen Sie?»
«Weil es mir lieber wäre, wenn Sie doch fahren würden. Die Papiere können warten.»
«Sicher. Und was soll ich dort tun?»
«Knöpfen Sie sich für alle Fälle schon mal den Freund unserer jungen Dame vor. Stellen Sie fest, ob er sie gestern gesehen hat, beziehungsweise, warum nicht. Außerdem hat mir Weaver von einem Cafe erzählt, wo sie sich regelmäßig mit drei anderen Mädchen getroffen hat. Mal sehen, was die Freundinnen zu erzählen haben. Die Namen und alles übrige erfahren Sie von Weaver. Wenn die Kleine irgendwas gewußt oder vermutet hat, wird sie ihre Theorien wohl eher ihren Freundinnen statt den Eltern anvertraut haben. Aber gehn Sie's möglichst langsam an, es gibt keinen Grund, den Mädchen angst zu machen.» Banks war ausgesprochen erleichtert. Wie er aus zwei anderen Fällen wußte, gab es nichts Schlimmeres, als sich mit den Eltern der vermißten Kinder auseinandersetzen zu müssen.
«Ich kümmere mich dann um den Rest», erklärte Gristhorpe, «und werde die Suchaktion starten, sobald es nicht mehr so sehr schüttet.»
«Soll ich mich gleich auf den Weg machen?» fragte Banks.
«Nur keine Hast. Wahrscheinlich ist es sogar besser, wenn Sie sich noch bis zum Mittag gedulden. Ich kann zwar nicht behaupten, mich in den Gewohnheiten junger Damen auszukennen, aber ich nehme doch an, daß es noch eine Weile dauern wird, bis sie ausgehfertig sind. Und es ist sicher am praktischsten, direkt in dieses Lokal zu gehen. Man hat die richtige Umgebung für ein lockeres Gespräch und außerdem alle beisammen.»
Banks nickte. «Halten Sie mich auf dem laufenden, falls sich irgendwas Neues ergibt?»
«Selbstverständlich. Melden Sie sich schon mal bei Weaver an, ich werde dann später noch Sergeant Hatchley zu Ihnen schicken. Im Moment ist er noch damit beschäftigt, die Beschreibung des Mädchens an sämtliche Dienststellen weiterzuleiten.»
«Noch eins», sagte Banks, «wir sollten mal bei den Theatergruppen, Schauspielschulen und solchen Vereinen nachfragen. Wenn sie wirklich von zu Hause ausgerissen ist, spricht einiges dafür, daß sie dabei die große Bühnenkarriere im Sinn hat.»
«Gut, ich werde mich darum kümmern», versprach Gristhorpe. Er wirkte müde und besorgt, als er das Büro verließ.
Draußen auf der Market Street schüttete es immer noch wie aus Kübeln, und es war kein Ende dieser Sintflut abzusehen. Banks schaute hinunter auf das sich ständig bewegende Muster der Regenschirmdächer. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und stieß auf einen Streifen Bartstoppeln, die er bei der schnellen morgendlichen Elektrorasur übersehen hatte. Gristhorpe hatte recht; der Gedanke an eine Verbindung mit dem Fall Steadman lag nahe, und man mußte diesem Gedanken unverzüglich nachgehen. Die Ironie war nur, daß man zugleich nur hoffen konnte, sich zu irren.
Er nahm noch einmal Sallys Vernehmungsprotokoll zur Hand und versuchte, sich ihr Bild ins Gedächtnis zurückzurufen, wie sie hier vor ihm gesessen hatte. Gab es etwas, was sie ihm nicht gesagt hatte? Während er die Worte las, die er an Hand seiner Notizen in die Maschine geschrieben hatte, sah er ihr Gesicht vor sich, erinnerte sich an die Pausen im Gespräch, an den Wechsel ihrer Mimik. Nein, wenn es etwas gab, dann war es ihr erst später eingefallen, nach dem Gespräch, und in diesem Fall hatte sie ihre Informationen oder Vermutungen möglicherweise der falschen Person anvertraut. Er sah bereits ihren zerschmetterten Körper am Fuße eines stillgelegten Minenschachts, versuchte, das Bild zu verdrängen, was ihm nicht ganz gelingen wollte. Sie war vielleicht ein wenig zu versessen auf die Verheißungen der Großstadt, aber alles in allem war sie ihm recht vernünftig erschienen, von eher nüchternem Verstand sogar, eine Person, die jeden Schritt sorgfältig plante und ohne Umschweife in die Tat umsetzte, wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen war. Nach Auskunft der Mutter hatte sich zu Hause nichts Spektakuläres zugetragen, was sie veranlaßt haben konnte wegzulaufen. Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten gab es überall, und wenn überhaupt, waren ihre Eltern allenfalls zu nachsichtig gewesen, wie es schien. Während er versuchte, seine Pfeife in Gang zu bringen, erinnerte er sich an die eigene Jugend, an den Hausarrest, mit dem man ihn so häufig bestraft - und den er fast ebenso häufig gebrochen hatte. Die Pfeife war widerspenstig wie immer, und mit einemmal hatte er genug von dem verflixten Ding. In einem plötzlichen Anflug von Wut und Frustration schleuderte er sie quer durch den Raum und sah, wie sie in der Mitte entzweibrach.
Als er am späten Vormittag in Helmthorpe ankam, sah er das dunkle Wasser des Wildbachs in schäumenden Wellen dahintanzen, während drüben auf dem Campingplatz die bunten Zelte an ihren Leinen zerrten und im Sturm flatterten wie die Segel gespenstischer Boote. Die Häuser wirkten bei diesem Wetter wie ein unbehauener Auswurf des Felsens, aus dessen Gestein sie erbaut waren, und die Hänge der Berge hatten sich in einen Schleier aus waberndem Dampf gehüllt. Ab und zu ließ sich ein Dorfbewohner auf den Straßen blicken, und vereinzelt trabten ein paar glücklose Urlauber durch die Nässe.
Banks stellte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz neben der Polizeiwache ab und stolperte sofort über Weaver, als er das Gebäude betrat. Der Constable wirkte blaß und übernächtigt und hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
«Wir können nicht mal einen Suchtrupp losschicken», platzte er heraus und deutete mit einer vielsagenden Geste aus dem Fenster. «Die Männer würden sofort versinken da oben im Moor, und die Sicht ist gleich Null.»
Banks nickte. «Und sie hat kein Wort darüber gesagt, wo sie hin wollte?»
«Nein, Sir, aber ihre Mutter meint, daß sie sich vielleicht irgendwo mit ihrem Freund getroffen hat.»
«Und? Hat sie?»
«Er sagt nein, Sir», antwortete Weaver und wies auf einen völlig aufgelösten jungen Burschen mit tropfnassem, am Körper haftendem T-Shirt, durchweichten Jeans und triefendem, an der Kopfhaut klebendem Haar. «Das ist er, Sir. Total fassungslos über die Sache, und ich sehe eigentlich keinen Grund, ihm nicht zu glauben.»
«Haben Sie ihn schon vernommen?»
«Nur ein bißchen mit ihm geredet, Sir, wirklich. Nicht so richtig vernommen, Sie verstehen, ich dachte, das überlaß ich lieber...»
«Sehr gut, Constable», lobte Banks mit einem beifälligen Lächeln, «das haben Sie ganz richtig gemacht.»
Damit ging er hinüber zu Kevin, der an seinen Fingernägeln kaute und unverwandt auf ein Poster mit der Aufschrift «Verbrechen zahlt sich nicht aus» starrte. Banks stellte sich vor und setzte sich zu ihm auf die Bank.
«Seit wann kennen Sie Sally?» fragte er.
Kevin rieb sich die Augen. «Schon ewig, aber zusammen sind wir erst seit dem vorigen Sommer.»
«Wie gefällt es Ihnen in Swainsdale?»
«Was?»
«Ich meine, leben Sie gerne hier in den Dales, wo Sie zu Hause sind? Sally doch wohl nicht, oder? Soweit ich weiß, hat sie immer davon geredet, von hier wegzugehen.»
«Ja, geredet schon», meinte Kevin mit düsterem Blick, «sie redet überhaupt viel. Spuckt große Töne und hat immer gewaltige Pläne.»
«Dann halten Sie es also nicht für möglich, daß sie vielleicht nach London oder sonstwohin ausgerissen ist?»
Kevin schüttelte den Kopf. «Nein, kann ich mir nicht vorstellen, daß sie einfach so abgehauen ist. Deshalb mach ich mir ja soviel Sorgen. Sie hätte mir bestimmt was gesagt.»
«Vielleicht ist sie ja auch vor Ihnen weggelaufen, kann das sein?»
«Quatsch! Hatte doch grade erst angefangen mit uns. Wir waren schließlich verliebt.» Er beugte sich vor und legte den Kopf in seine Hände. «Ich liebe sie jedenfalls. Wir wollten heiraten, uns 'ne kleine Farm zulegen... Ich kenn Sally, sie würde nicht einfach weglaufen, ohne mir was zu sagen. Nie und nimmer.»
Banks unterdrückte das Bedürfnis, ihm zuzustimmen. Was auch immer Kevin glauben mochte, es gab noch Hoffnung, auch wenn er nicht so recht daran glauben konnte, daß sich Sally Lumb mit einem einfachen Leben auf dem Lande begnügt hätte. Kevin mußte sicher noch einiges lernen, über Frauen und über Träume, aber er machte immerhin den Eindruck eines recht anständigen und ehrlichen Burschen. Alles in allem war Banks geneigt, Weavers Auffassung zuzustimmen und den Jungen als harmlos anzusehen, ein bißchen mehr Druck konnte allerdings wohl nicht schaden.
«Haben Sie Sally gestern gesprochen?» erkundigte er sich.
Kevin schüttelte den Kopf.
«Sie haben sie also gar nicht gesehen, gestern abend?»
«Nein, ich hab Kricket gespielt, drüben in Aykbridge. Mit ein paar Kumpels.»
«Wußte Sally davon ? Hat sie nicht erwartet, daß Sie sich mit ihr treffen?»
«Klar wußte sie das. Man kann sich schließlich nicht jeden Abend sehen, oder?»
Offensichtlich machte er sich Vorwürfe, und Banks hielt es für besser, seine Schuldgefühle nicht noch zu vermehren. Er hätte ihn gerne noch über den Abend befragt, an welchem die beiden den Wagen gehört hatten; auch darüber, ob Sally ihm vielleicht noch irgendwelche Andeutungen gemacht hatte oder ob einem von beiden etwas aufgefallen war, was sie bislang nicht erwähnt hatten - aber wenn er das tat, brachte er Kevin nur auf dumme Gedanken, vielleicht sogar auf die Idee, daß Sallys Verschwinden auf irgendeine Weise mit dem Mord an Steadman zu tun hatte. Möglicherweise ließ sich das irgendwann nicht mehr vermeiden, aber im Moment war es sinnvoller, noch damit zu warten. Falls Kevin wirklich etwas wußte, bestand immerhin die Gefahr, daß er mit diesem Wissen an der falschen Stelle herausplatzte, in dem Bestreben, Sally wiederzufinden.
Inzwischen war es fast Mittag und, wie Weaver meinte, der richtige Zeitpunkt, um Sallys Freundinnen in ihrem Cafe anzutreffen, falls sie sich, wie üblich, dort verabredet hatten. Das Lokal war nicht weit entfernt, angesichts des Wetters verzichtete Banks jedoch auf einen Fußmarsch und hastete durch den strömenden Regen zu seinem Wagen. Binnen Sekunden war sein Kragen durchnäßt, und das Wasser rann ihm über den Rücken.
Die drei Mädchen hatten sich um einen fleckigen, zerkratzten Kunststofftisch versammelt und spielten schweigend mit den Strohhalmen, die aus ihren Cola-Dosen ragten. Die Videogame-Apparate gaben keinen Laut von sich, und der Flipper war ebenfalls verstummt. Banks stellte sich vor, zog einen Stuhl heran und setzte sich.
«Können Sie sich vorstellen, daß Sally einfach wegläuft, ohne irgendwem etwas zu sagen?» lautete seine erste Frage.
Alle schüttelten bedächtig den Kopf, bis das unscheinbare Mädchen mit der dicken Brille, das sich als Anne Downes vorgestellt hatte, schließlich sagte: «Hat immer die wildesten Ideen, die gute Sally, aber damit hat sich's auch. Sie ist garantiert nicht weggelaufen. Wohin auch? Sie kennt doch keinen Menschen außerhalb von Swainsdale.»
«War sie gut in der Schule?»
«Gut genug», meldete sich Kathy Chalmers, das Mädchen mit dem hennaroten Haar. «Sally ist clever, aber kein Streber oder so was. Braucht nicht viel zu tun, um gut durchzukommen. Die Prüfungen schafft sie bestimmt.»
«Würden Sie sagen, daß sie eine vernünftige Person ist?»
«So vernünftig wie wir Jugendlichen eben sind», meinte Anne Downes mit einem deutlich ironischen Unterton. «Kommt auf den Standpunkt an.»
Kathy gab ein kurzes Kichern von sich und errötete. «Tut mir leid», entschuldigte sie sich und legte verschämt die Hand vor den Mund. «Ihre Eltern halten sie wahrscheinlich nicht für besonders vernünftig. Sie wissen ja, wie Eltern sind.»
Banks wußte es, aus eigener leidvoller Erfahrung. «Sie gehört also nicht zu den Mädchen, die...» Er machte eine Pause, um das eher zweideutige «in Schwierigkeiten kommen» zu vermeiden und nach einer passenderen Formulierung zu suchen. «Ich meine, sie macht doch keinen Ärger oder sonst irgendwelche Schwierigkeiten?»
Kathy schüttelte den Kopf. «Nein, ganz und gar nicht, dazu ist sie viel zu gut erzogen. Sie kommt gut zurecht mit den meisten Lehrern. Natürlich hat sie immer große Ideen im Kopf, wie Anne schon gesagt hat, und träumt sich was zusammen, aber sie würde nie etwas tun, was andere verletzen könnte.»
Banks fragte sich, ob die Mädchen Sallys Verschwinden möglicherweise mit dem Fall Steadman in Zusammenhang brachten. Immerhin war Sallys Besuch auf der Dienststelle Eastvale wohl genau die Art von Sensation, mit der sie ihre Freundinnen beeindrucken konnte. Er mußte herausfinden, ob sie irgendwelche Andeutungen gemacht hatte, allerdings stellte sich auch hier das Problem, möglichst behutsam vorzugehen und die Mädchen nicht in Panik zu versetzen.
«Sie wissen vermutlich, daß Sally vor ein paar Tagen bei mir im Büro war», begann er in möglichst beiläufigem Ton, «und ich muß sagen, daß sie auf mich in der Tat genau den Eindruck gemacht hat, den Sie beschreiben - intelligent, gut erzogen und voller großer Pläne. Wobei ich allerdings zugeben muß, daß ich nicht allzu viel über diese Pläne erfahren habe.»
Kathy Chalmers errötete erneut; auch Hazel Kirk - die einzige, die bisher einfach nur dagesessen und nichts gesagt hatte - schien sichtbar verlegen. Nur Anne Downes meldete sich wieder einmal zu Wort, mit einer selbstverständlichen Offenheit, die das Bild ihrer wachen, frühreifen Intelligenz harmonisch abrundete.
«Nun, nehmen wir zum Beispiel mal diese Sache mit dem Mord», meinte sie. «Ich nehme doch an, daß Sie deswegen bei Ihnen war ...?»
Banks nickte.
«Also - sie fand das alles ungeheuer toll und aufregend, ungefähr wie einen Krimi im Fernsehen. Womit ich nicht sagen will, daß es ihr nicht leid getan hat um den armen Mr. Steadman - das hat's uns allen -, es ist nur so, daß sie die Dinge eben nicht von dieser Sicht aus betrachten konnte. Für Sally war es ein Abenteuer, verstehen Sie? Eine Art Bühnendrama, in dem sie die große Heldin spielte.»
Banks nickte beifällig zu dieser Einschätzung. Er hatte Anne auf dem richtigen Weg. «Hat sie viel über diese Sache gesprochen?» fragte er.
«Nur mit mysteriösen Andeutungen», antwortete Anne.
«Als ob sie etwas wüßte, von dem alle andern keine Ahnung haben?»
«Ja, ganz genau. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, daß es sie irgendwie bedeutend macht, etwas bemerkt zu haben und zu Ihnen ins Büro zu gehen. Zu Anfang hat sie gedacht, Sie wären ein ganz toller Hecht», Annes Miene blieb völlig unbewegt, als habe sie nicht die leiseste Ahnung, was ihre Bemerkung bedeutete, «aber dann war sie wohl ein bißchen enttäuscht von Ihrer Reaktion. Ich weiß nicht, wieso, sie hat nichts dazu gesagt, sondern nur immer geheimnisvoller getan im Lauf der Woche.»
«Hat sie nichts Konkretes erwähnt?»
«Oh, sie hat versucht, uns einzureden, daß sie auf einer ganz heißen Spur ist», erklärte Anne und schob ihre Brille hoch. «Daß sie so eine Idee hätte, wer's war. Sonst nichts, nur Andeutungen. Und sie hat wohl nichts weiter unternommen, soweit ich weiß.»
Irgendwann würde Anne unweigerlich der Sinn dieser Befragung aufgehen, und Banks fürchtete sich bereits vor diesem Moment. Aber glücklicherweise ließ er einstweilen noch auf sich warten. Er dankte den jungen Damen, ihm ihre Zeit gewidmet zu haben, und bemerkte im Hinausgehen, daß Hazel Kirk immer noch sehr verstört zu sein schien, beschloß jedoch, vorläufig auf weitere Fragen zu verzichten und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden.