* KAPITEL 9

 

* I

 

Es war Zeit, sich wieder auf den Fall Steadman zu konzentrieren, überlegte Banks. So beunruhigend Sally Lumbs Verschwinden auch sein mochte, war es doch ohne weiteres möglich, daß sie jeden Moment wieder auftauchte, in Birmingham oder Bristol oder sonstwo, während Steadman zweifellos tot war und sein Mörder immer noch frei herumlief.

  Er sagte Weaver, wo er zu finden war, und machte sich auf den Weg nach Gratly. Dort angekommen, überquerte er die schmale Brücke, bog rechts ein in Richtung Ortsmitte und folgte der Straße bis zu Jack Barkers umgebautem Bauernhaus, wo er den Wagen an der Uferseite abstellte. Der Wildbach war breiter und schneller geworden und strömte mit lautem Rauschen über die Stufen ins Tal. Wenn der Regen noch ein paar Tage anhielt und sich seinen Weg von den Mooren und Hängen nach unten suchte, würde das Wasser noch weiter ansteigen und den Bach in einen reißenden, tosenden Fluß verwandeln.

  Als er die Klingel betätigte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er Barker zum erstenmal in seinem Haus aufsuchte, und er war neugierig, was die private Umgebung wohl über diesen Mann aussagen mochte.

  «Ah, Sie sind's, Chief Inspector», meldete sich der etwas ratlos aussehende Hausherr nach einer ungewöhnlich langen Wartezeit.

  «Kommen Sie doch herein. Entschuldigen Sie meine Überraschung, aber ich bekomme nur selten Besuch.»

  Banks legte den triefenden Regenmantel und die nassen Schuhe in der Diele ab und folgte Barker ins Innere des Hauses. Die Jacke behielt er vorsichtshalber an. Es war zwar nicht besonders kalt, aber nach dem langen Regen sicher etwas feucht in dem alten Gemäuer.

  «Ist es Ihnen recht, wenn wir uns in meinem Arbeitszimmer unterhalten?» erkundigte sich Barker. «Da oben ist es etwas wärmer, weil ich gerade am Schreibtisch gesessen habe. Außerdem gibt's Kaffee, und Sie sehen aus, als ob Sie was Warmes brauchen könnten.»

  «Gute Idee», erklärte Banks und folgte seinem Gastgeber durch ein spärlich möbliertes Wohnzimmer und über eine bedrohlich schmale Steintreppe in einen gemütlichen Raum mit Aussicht auf die Berghänge an der Rückseite des Hauses. An der Wand neben der Tür stand ein Aktenschrank, daneben ein kleiner Schreibtisch voller Papiere. Zu beiden Seiten zogen sich bis zur Decke reichende Bücherregale hin, und direkt vor dem Fenster befand sich Barkers eigentlicher Arbeitsplatz, ein ausladender Tisch mit einer elektronischen Schreibmaschine, die leise vor sich hin summte. Das Panorama der steilen Hänge vor dem Fenster wirkte im strömenden Regen wie ein impressionistisches Gemälde. Mitten im Zimmer stand ein niedriger Tisch mit einer Kaffeemaschine. Das rote Lämpchen glühte, und in der halbvollen Glaskanne dampfte ein kräftiger Kaffee. Die Herren bedienten sich - beide nahmen ihren Kaffee schwarz - und ließen sich in den nicht besonders großen, aber bequemen Lehnstühlen nieder.

  «Tut mir leid, wenn ich Sie bei der Arbeit gestört habe», entschuldigte sich Banks und nahm dankbar einen Schluck von dem heißen, belebenden Getränk.

  «Keine Sorge, das ist gewissermaßen mein Berufsrisiko.»

  Banks zog fragend eine Augenbraue hoch.

  «Ich meine, wenn man zu Hause arbeitet, ist man eben immer zu erreichen», erläuterte Barker. «Sozusagen ein willkommenes Opfer für Handelsvertreter oder Geldeintreiber. Ich will damit sagen, daß es nach den strengen Lebensregeln der alten Puritaner eigentlich keine Arbeit ist, gemütlich zu Hause zu sitzen und Bücher zu schreiben. Wobei das eigentlich nicht einzusehen ist, schließlich war es vor der industriellen Revolution durchaus üblich, daß zum Beispiel die Weber oder solche Leute ihre Arbeit zu Hause verrichteten. Aber heutzutage muß die Arbeit offenbar unbedingt etwas Schlimmes sein, etwas Hassenswertes, was sich in irgendwelchen lauten, dreckigen Fabriken oder in antiseptischen, neonbeleuchteten Büros abspielt. Womit ich Ihnen natürlich nicht zu nahe treten wollte...»

  Offensichtlich war das Gegenteil der Fall, wie Banks an dem spöttischen Funkeln in Barkers Augen sehen konnte. «So hab ich es auch gar nicht aufgefaßt», parierte er. «Zumal ich es eindeutig vergnüglicher fände, in meinem neonbeleuchteten Büro zu sitzen, statt bei diesem Sauwetter durch die Dales zu kutschieren.»

  Barker lächelte und griff nach einer Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch. «Wie dem auch sei», meinte er, «ich scheine ohnehin wenig gefragt zu sein, von gelegentlichen Vertretern abgesehen. Auch nicht am Telefon, weil ich es gewöhnlich aushänge. Ich war übrigens gerade ganz gut am Zug, und ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, eine Pause einzulegen, wenn alles gut läuft. Auf diese Weise macht es mehr Spaß, sich später wieder an den Schreibtisch zu setzen.»

  «Eine interessante Art, mit der Arbeit umzugehen», bemerkte Banks und beobachtete mit mühsam unterdrücktem Verlangen, wie Barker seine Zigarette anzündete und tief den Rauch inhalierte.

  «Entschuldigung», sagte Barker und bot ihm eine Zigarette an, als habe er seine geheimsten Wünsche erraten.

  Banks schüttelte den Kopf. «Ich versuch es mir gerade abzugewöhnen.»

  «Ach, richtig, Sie sind ja Pfeifenraucher, stimmt's? Tun Sie sich keinen Zwang an, ich hab nichts gegen Pfeifentabak.»

  «Meine Pfeife ist leider hin.»

  Beide mußten lachen über die Zweideutigkeit dieser Bemerkung, bis Banks schließlich aufgab und meinte: «Vielleicht sollte ich doch eine nehmen.» Während er nach den Zigaretten griff, fiel ihm auf, daß sich Barker straffte und offensichtlich wappnete gegen die Fragen, die nun unweigerlich kommen mußten. Die Zigarette schmeckte köstlich, ein reines Vergnügen, wie in seiner Erinnerung. Kein Kratzen im Hals, kein Schwindelgefühl, überhaupt keinerlei Anzeichen dafür, daß er jemals aufgehört hatte, Zigaretten zu rauchen. Statt dessen das angenehme Gefühl, einen lange entbehrten Freund wiedergefunden zu haben.

  «Nun denn, was kann ich also für Sie tun, dieses Mal?» erkundigte sich Barker mit unnötig deutlicher Betonung auf den letzten beiden Worten.

  «Ich nehme an, Sie haben schon gehört von der Geschichte mit diesem Mädchen drüben aus dem Dorf - Sally Lumb?»

  «Nein. Was ist mit ihr?»

  «Wollen Sie etwa sagen, daß Sie nichts davon wissen? Ich dachte immer, daß sich die Neuigkeiten schnell verbreiten in so kleinen Gemeinden, über Harold Steadman haben die Leute jedenfalls im Nu Bescheid gewußt.»

  «Ich war nicht mehr vor der Tür, seit ich Penny gestern abend von ihrem Auftritt nach Hause gebracht habe.»

  «Das Mädchen ist verschwunden», teilte Banks mit. «Seit gestern nacht nicht mehr nach Hause gekommen.»

  «Großer Gott!» meinte Barker mit einem Blick zum Fenster. «Wenn sie sich bei dem Wetter da draußen verirrt hat... Was glauben Sie?»

  «Das ist im Moment schwer zu sagen. Möglicherweise hat sie sich tatsächlich verirrt, aber andererseits ist sie in dieser Gegend aufgewachsen und scheint ein recht vernünftiges Mädchen zu sein.»

  «Von zu Hause ausgerissen vielleicht?»

  «Auch möglich. Wir sind gerade dabei, das zu überprüfen.»

  «Aber Sie glauben nicht so recht daran?»

  «Wir wissen es nicht, das ist alles.»

  «Haben Sie schon eine Suchaktion gestartet?»

  «Unmöglich, bei diesem Wetter.»

  «Aber... aber man muß doch etwas unternehmen.»

  «Wir tun, was wir können», versicherte Banks. «Haben Sie das Mädchen gekannt?»

  Barkers Augen verengten sich. «Ich kann nicht behaupten, sie wirklich gekannt zu haben, nein. Nur so vom Sehen, ein kurzes Hallo da und dort. Und einmal war sie hier bei mir, wegen eines Schulprojekts. Hübsches Ding.»

  «Sehr hübsch», bestätigte Banks.

  «Aber ich nehme nicht an, daß Sie sich deswegen zu mir bemüht haben, oder?»

  «Nein.» Banks drückte seine Zigarette aus. «Ich wollte Sie zu Penny Cartwright befragen.»

  «Was ist mit Penny?»

  «Sind Sie verliebt in sie?»

  Barker lachte, aber man sah die Anspannung in seinen Augen. «Was für eine Frage! Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Daß es Sie nichts angeht - oder daß ich Sie zu Ihrem Scharfblick beglückwünschen muß.»

  «Es stimmt also, ja?»

  «Ich muß zugeben, ich bin ziemlich hingerissen von ihr, ja. Ist ja wohl auch kein Wunder für einen leidlich vitalen Junggesellen, oder? Aber ich kann leider nicht erkennen, was meine Gefühle für Penny mit dem ganzen Rest zu tun haben.»

  «Hatte sie ein Verhältnis mit Harold Steadman, was meinen Sie?»

  Barker schaute Banks einen Augenblick lang schweigend an. «Nicht, daß ich wüßte», antwortete er langsam. «Aber woher sollte ich das auch wissen?»

  «Nun, Sie waren doch mit beiden sehr gut bekannt.»

  «Das schon. Aber welcher Mann erzählt schon aus seinem Intimleben ... oder welche Frau? Wenn die beiden irgendwas zu verbergen hatten vor dem Rest der Welt, war das ja wohl ohne weiteres möglich, oder? Selbst in einem Ort wie diesem. Wenn Sie wirklich eine Antwort haben wollen, müssen Sie sich damit abfinden, daß ich nur eine Meinung äußern kann - genau wie Sie. Mir hat niemand irgendwelche Bekenntnisse gemacht oder was auch immer, aber ich würde sagen: Nein, die beiden hatten kein Verhältnis. Wie Sie bereits zutreffend festgestellt haben, liegt mir einiges an Penny, insofern bin ich zwangsläufig auch an ihren Beziehungen interessiert, und nach meinem Eindruck basierte ihre Freundschaft auf gegenseitiger Achtung und Bewunderung und nicht auf sexueller Anziehung.»

  Diese Auffassung deckte sich weitgehend mit den Aussagen von Mrs. Steadman und Penny selbst. Der einzige, der in diesem Punkt eine andere Meinung vertrat, war der Major, der allerdings eher ein Opfer seiner Obsessionen zu sein schien. Doch was war, wenn er recht hatte?

  «Sie waren ziemlich bissig gestern abend, als ich Michael Ramsden erwähnte», wechselte Banks das Thema. «Gibt es einen besonderen Grund für diese Abneigung?»

  «Von einer Abneigung kann keine Rede sein, ich kenne ihn ja kaum. Er war ein paarmal mit Harry im Bridge und schien durchaus unterhaltsam zu sein. Auf mich hat er allerdings, wie ich zugeben muß, immer etwas hinterlistig gewirkt, ein bißchen unsympathisch, aber das ist nur ein völlig untergeordneter persönlicher Eindruck, der nichts über sein Wesen besagt.»

  «Ich nehme an, Sie wissen von seiner früheren Beziehung zu Penny?»

  «Ja, und ich will auch gerne zugeben, daß da ein wenig die instinktive Eifersucht auf den früheren Liebhaber mitspielt. So gesehen, war ich vielleicht auch ein bißchen eifersüchtig auf Harry, auf dieses enge und selbstverständliche Verhältnis zu ihr - aber ich habe schließlich keinen Anspruch auf Pennys Gefühle, so traurig das auch ist. Und was Ramsden betrifft, so gehört die Geschichte ja auch der Vergangenheit an.»

  «Und wo waren Sie da?»

  «Was wollen Sie hören? Wo ich am 12. Februar 1963 war, in der Zeit von -»

  «Sie wissen genau, was ich meine.»

  «Vor zehn Jahren?»

  «Richtig.»

  «Da hab ich in London gelebt, in einem winzigen möblierten Zimmer, und richtige Romane geschrieben, die keiner haben wollte. Und Penny war schon nicht mehr hier, als ich nach Gratly zog, wir haben uns erst bei ihrer Rückkehr kennengelernt, wenn man davon absieht, daß ich sie schon einmal auf der Bühne erlebt hatte, unten im Süden.»

  «Warum sind Ramsden und Penny auseinandergegangen? Was glauben Sie?»

  «Woher soll ich das wissen? Ich hab mir diese Frage nie gestellt. Warum geht man wieder auseinander, wenn man jung ist? Keine Ahnung, aber wahrscheinlich, weil man sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Meine Güte, schließlich waren sie noch halbe Kinder, die zwei.»

  «Damals wohnte Michael noch bei seinen Eltern, nicht wahr? In dem Haus, das die Steadmans als Feriendomizil benutzten?»

  «Ja», antwortete Barker, «das war vor zehn Jahren, kurz bevor Michael wegging zur Universität und Penny gerade ihr musikalisches Talent entdeckte. Wie Harry mir erzählte, hatte er die alten Folksongs gesammelt und sie ihr beigebracht.»

  «Und in der Zeit ging das junge Paar auseinander?»

  «Nun ja, Michael mußte zur Universität, und Penny zog mit ihrer Gruppe durchs ganze Land. Diese Art Folkmusic war damals noch sehr populär und ist es wohl immer noch. Zumindest gibt es nach wie vor genügend Publikum für diese Lieder.»

  «Wie wurde Penny denn entdeckt?»

  «Auf die übliche Weise, soviel ich weiß. Durch den Agenten einer Schallplattenfirma, der die Provinz nach neuen Talenten, absuchte und ihr die Möglichkeit bot, ein Demoband zu machen. Danach war sie auf und davon, und der Rest ist Geschichte, wie es immer so schön heißt.»

  «Hat sie viel gesprochen von der Vergangenheit, von ihrer Zeit in der Musikszene?»

  «Nein, eigentlich nicht.» Barker schien sich inzwischen stärker als eigentlich beabsichtigt für das Thema zu erwärmen. Er schenkte noch etwas Kaffee ein und fuhr fort: «Ich denke, Chief Inspector, daß wir wohl alle in unserem Leben bestimmte Phasen durchgemacht haben, auf die wir nicht besonders stolz sind. Es gibt Zeiten und Umstände, die uns eine gewisse Leichtfertigkeit und Verantwortungslosigkeit erlauben, und die meisten von uns nehmen diese günstige Gelegenheit auch wahr. Ich selbst muß zu meinem Leidwesen gestehen, daß ich früher ein richtiger Halbstarker war und sogar ein paar Sessel aufgeschlitzt habe, in unserem Flohkino am Ort», erklärte er mit einem Grinsen. «Ich hoffe, Sie werden mich nicht verhaften wollen für meine Jugendsünden?»

  «Ich denke, daß diese Delikte wohl inzwischen verjährt sind», meinte Banks lächelnd, «und außerdem ziemlich schwer nachzuweisen.»

  «Wenn ich Sie so höre, fühle ich mich steinalt», seufzte Barker. «Aber ich glaube, Sie wissen, was ich meine, nicht wahr? Penny war nicht nur jung und unerfahren, sie hatte auch zum erstenmal reichlich Geld, war bekannt und prominent. Dazu werden auch Drogen gehört haben und ein lockeres Sexualleben, nach dem Motto <Make love, not war>, aber wichtig ist doch eigentlich nur, daß sie älter und reifer wurde, alles hinter sich gelassen und ein neues Leben angefangen hat. Das gelingt nur den wenigsten, die meisten gehen unter in diesem Geschäft. Aber warum, um alles in der Welt, sind Sie eigentlich so versessen darauf, in den Dingen herumzuwühlen, die sich vor zehn Jahren abgespielt haben?»

  «Das weiß ich auch nicht», bekannte Banks und kratzte sich an der Narbe neben seinem Auge. «Alle Welt lobt diesen Steadman in den höchsten Tönen. Er scheint nirgendwo Feinde gehabt zu haben - und doch hat ihn jemand umgebracht. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor? Er wurde nicht beraubt, man hat seinen Körper über den ganzen Hang bis zum Fuß des Crow Star geschleppt, und wir haben keine Ahnung, wo er getötet wurde. Was ich damit sagen will, Mr. Barker, ist folgendes: Wenn die Erklärung hierfür nicht in der Gegenwart zu finden ist - wonach es im Moment aussieht -, wird man sie wohl in der Vergangenheit suchen müssen, so unwahrscheinlich Ihnen das auch vorkommen mag.»

  «Hat Ihnen unser Gespräch denn nun irgendwelche Erkenntnisse gebracht?»

  «Nein, absolut keine, jedenfalls im Augenblick noch nicht. Aber da gibt es noch eine Frage, die mich beschäftigt: Halten Sie es für möglich, daß Harold Steadman homosexuell veranlagt war?»

  Barker erstickte fast an seinem Kaffee. «Das ist ja nun wirklich ein starkes Stück!» prustete er und wischte sich ein paar verschüttete Tropfen von der Hose. «Wie, um alles in der Welt, kommen Sie denn auf derart wilde Ideen?»

  Banks sah keinen Grund, ihn darüber aufzuklären, daß die Idee von Sergeant Hatchley stammte, der ihn im Queen's Arms auf die ihm eigene trockene Art gefragt hatte: «Was meinen Sie, warum dieser Steadman am Wochenende dauernd bei Ramsden rumgehangen hat? Ob er vielleicht schwul war?» Banks hatte zugeben müssen, diese Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen zu haben. Statt dessen war er immer davon ausgegangen, daß Steadman tatsächlich nur die Arbeit im Sinn gehabt hatte und daß die Angaben von Ramsden und Mrs. Steadman zu diesem Thema den Tatsachen entsprachen.

  «Leider hilft uns das auch nicht weiter, selbst wenn Sie recht haben», hatte Banks zu bedenken gegeben. «Möglich, daß ihn seine Frau getötet hat, aus Empörung und Ekel - aber sie hat ein Alibi. Und Ramsden wird ja wohl kaum seinen Bettgenossen umgebracht haben, auch wenn er vielleicht die Möglichkeit gehabt hätte.»

  «Gibt ja auch noch so was wie Erpressung», hatte Hatchley gemeint. «Steadman war schließlich kein armer Mann.»

  «Könnte sein, ja. Und wer käme dafür in Frage, Ihrer Meinung nach?»

  «Jeder, der ihn kannte. Barker, dieses Mädel, Barnes oder einer von seinen früheren Kumpels aus Leeds.»

  «Dann werden wir das überprüfen», hatte Banks erklärt. «Hören Sie sich mal um über diesen Ramsden, und ich werde sehen, was ich in Helmthorpe herausfinde. Allerdings mach ich mir keine besonderen Hoffnungen, es kommt mir irgendwie unwahrscheinlich vor.»

  Aber wie stellte man es an, jemanden zu fragen, ob sein Freund oder Bekannter homosexuell war? Sollte man gleich mit der Tür ins Haus fallen? Und woher sollten die anderen über diese Dinge Bescheid wissen? Penny hielt Ramsden sicher für völlig normal - falls er es zehn Jahre zuvor gewesen war -, allerdings gab es immerhin die Möglichkeit, daß sie über Steadmans Sexualgewohnheiten mehr wußte, als sie bisher zu erkennen gegeben hatte.

  Einstweilen saß er jedoch hier in Barkers Arbeitszimmer und wartete, daß sich sein Gegenüber von dem Schock erholte und zu einer Antwort fand. Das Ergebnis war jedoch enttäuschend. Barker wies den Gedanken als schlicht abwegig von sich und ließ sich auch mit einigem Nachdruck nur das Zugeständnis abringen, daß schließlich alles möglich, aber deshalb noch lange nicht wahr sei.

  «Schauen Sie», erklärte er und beugte sich ein Stück vor, «ich weiß sehr wohl, daß man mich zu den Verdächtigen rechnen muß in diesem Fall. Schließlich habe ich kein Alibi und kann Sie offenbar nicht davon überzeugen, daß ich nichts gegen Harry hatte. Allerdings kann ich Ihnen versichern - nur der Ordnung halber -, daß ich keineswegs schwul bin, daß ich ihn mit Sicherheit nicht getötet habe und jederzeit bereit bin, Sie bei den Ermittlungen zu unterstützen. Das Problem ist nur, daß ich nicht so genau weiß, wie ich helfen könnte, und daß mir manche Ihrer Überlegungen - mit Verlaub - einigermaßen unsinnig erscheinen.»

  «Ich verstehe», meinte Banks, «aber die Entscheidung darüber, was unsinnig ist oder nicht, liegt nun einmal bei mir.»

  «Sie sammeln nur hier und da ein paar Eckchen aus dem großen Elefantenpuzzle und setzen die Bruchstücke wieder zusammen, ohne daß Leute wie wir mehr als ein Stück Rüssel zu Gesicht bekommen, nicht wahr? Und am Ende sitzen Sie dann da und haben das komplette Vieh vor der Nase.»

  Banks quittierte die Metapher mit einem Lächeln. «Irgendwann, ja», meinte er, «zumindest hoffe ich das. Und woran arbeiten Sie zur Zeit - oder sprechen Sie nicht gern über Dinge, die noch im Fluß sind?»

  «Das macht mir nichts aus. Tatsächlich haben Sie mich sogar auf eine Idee gebracht mit diesen vielen kleinen Einzelteilen, die man nur zusammensetzen muß. Ich glaube, das kann ich brauchen für mein neuestes Werk aus der Serie Kenny Gibson. Haben Sie schon mal was von mir gelesen?»

  Banks schüttelte den Kopf.

  «Natürlich nicht», meinte Barker, «ich müßte inzwischen eigentlich wissen, daß die echten Kriminalbeamten keine Krimis lesen. Sei's drum - Kenny Gibson ist jedenfalls ein Privatdetektiv aus Los Angeles. Das übliche Serienzeug aus den Dreißigern, auf der Basis von Raymond Chandler und den alten Black Mas/c-Magazinen - aber sagen Sie bloß keinem, woher ich meine Informationen beziehe! Diesmal arbeitet Kenny im Auftrag einer wohlhabenden Frau aus den besten Kreisen, deren Ehemann verschwunden ist. Der Plot läuft praktisch von selbst - nur die Charaktere und die Kulissen machen ziemlich viel Arbeit.»

  «Wie steht's mit etwas Sex und Gewalt?»

  «Gerade genug, um ein paar tausend Exemplare an den Mann zu bringen.»

  «Rein interessehalber», erkundigte sich Banks, bereits im Aufbruch begriffen, «liegt das alles schon im voraus fest? Ich meine, der Plot und die Lösung?»

  «Lieber Himmel, nein», antwortete Barker, während er Banks über die Treppe nach unten folgte. «Der Plot entwickelt sich sozusagen von selbst, beim Schreiben. Zumindest hoffe ich das. Wenn's gut läuft, werden die Möglichkeiten immer enger und enger, bis eindeutig nur noch ein bestimmter Täter in Frage kommt. Manchmal weiß ich nicht mal von einem Tag auf den anderen, wohin die Reise geht, aber sonst wär's ja auch langweilig, meinen Sie nicht?»

  «Möglich», meinte Banks, während er Schuhe und Regenmantel überzog, «daß das aufs Schreiben zutrifft, für die Fiktion, aber beim wirklichen Leben bin ich da nicht so sicher. Ich würde es bei weitem einfacher finden, wenn ich wüßte, wer der Täter ist, statt mich durch ein ganzes Buch arbeiten und sämtliche Irrwege gehen zu müssen. Wie dem auch sei, auf Wiedersehen und danke für Ihre Geduld.»

  «Es war mir ein Vergnügen», verabschiedete sich Barker.

  Banks zog den Kopf ein und eilte durch den strömenden Regen zu seinem Wagen.

 

* II

 

Zurück auf der High Street, sah er Penny Cartwright soeben in der Tür des Bridge verschwinden. Nach Rücksprache mit seinem Magen und seiner Uhr stellte er fest, daß er einen kleinen Imbiß gut vertragen konnte. Die Mittagszeit war schon vorbei, aber der Wirt hatte vielleicht noch etwas Eßbares übrig.

  Penny stand an der Bar und schüttelte eben ihren Schirm aus, als sie Banks eintreten sah.

  «Kann man sich heutzutage nicht mal mehr seiner Trunksucht hingeben, ohne daß die Polizei erscheint?» erkundigte sie sich bissig.

  «Aber sicher», meinte Banks. «Vielleicht geben Sie mir sogar die Ehre, mir bei einem verspäteten Lunch Gesellschaft zu leisten?»

  Penny zog mißtrauisch die Augen zusammen. «Geschäftlich oder nur zum Vergnügen, Inspector?»

  «Ein kleiner Schwatz, weiter nichts.»

  «Mit anderen Worten, ein Verhör. Ich muß verrückt sein, aber bitte sehr. Dann kümmern Sie sich mal um die Bestellung.»

  Glücklicherweise war man bereit, ihnen noch zwei Pies mit Steak und Pilzen zu servieren. Banks nahm sein Bier und den doppelten Scotch für Penny und folgte ihr zu einem Tisch in der Lounge.

  «Warum machen sie bloß nichts aus diesem Lokal?» fragte er mit einem mißbilligenden Blick in die Runde.

  «Warum sollten sie? Gehören Sie etwa auch zu diesen Typen, die nicht ohne Hufeisen und Bettpfannen leben können?» erkundigte sich Penny, lehnte ihren Schirm an den Kamin, schüttelte die Mähne und setzte sich an den Tisch.

  «Ich dachte immer, das wären Wärmflaschen», lachte Banks. «Aber keine Sorge, so bin ich nicht. Mir genügen ein paar anständige Spucknäpfe und etwas Sägemehl auf dem Boden. Ich dachte nur, daß eine kleine Renovierung, langfristig gesehen, den Umsätzen zugute kommt.»

  «Ich sehe schon, Inspector Banks - Sie sind noch immer kein echter Yorkshire-Mann! Das bißchen Dreck und Speck macht uns doch nichts aus, wichtig sind nur die Leute und das Bier - und beides stimmt hier.»

  Banks grinste und nahm den Verweis mit einem ergebenen Seufzer hin.

  «Also, was wollen Sie denn nun diesmal von mir wissen?» fragte Penny, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich erwartungsvoll in ihrem Stuhl zurück.

  «Ich habe den Abend gestern sehr genossen. Es waren gute Songs, und Sie haben eine fabelhafte Stimme.»

  Konnte es sein, daß sie ein wenig rot geworden war? Bei dem gedämpften Licht ließ sich das schwer feststellen, aber sie war offensichtlich verlegen und schien nicht so recht zu wissen, wie sie auf das Kompliment reagieren sollte.

  Unterdessen waren die Fleischpasteten gekommen, und sie widmeten sich eine Zeitlang schweigend ihrem Essen, bevor Banks das Gespräch fortsetzte.

  «Ich hänge fest, komme einfach nicht weiter mit dem Fall. Und obendrein ist jetzt auch noch ein junges Mädchen verschwunden.»

  «Ich habe davon gehört», erklärte Penny mit einem Stirnrunzeln.

  «Kennen Sie das Mädchen? Können Sie sich vorstellen, was mit ihr passiert ist?»

  «Ich kenne Sally, ja, wenn auch flüchtig. Sie hatte immer einen Drang zur großen weiten Welt und war wohl insgeheim ein wenig enttäuscht von mir, daß ich das alles aufgegeben habe und hierher zurückgekehrt bin. Trotzdem ist sie mir immer ganz vernünftig vorgekommen, und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß sie einfach ausgerissen ist. Daß sie sich verlaufen haben könnte, ist auch nicht besonders wahrscheinlich. Schließlich ist sie hier geboren und aufgewachsen, genau wie ich, und kennt die Gegend wie ihre Westentasche.»

  «Was bleibt also?»

  «Darüber möchte ich lieber nicht nachdenken. In der Großstadt passiert es ständig, daß irgendwelche Mädchen verlorengehen, aber hier...» Sie schüttelte sich kurz. «Vielleicht treibt sich ja ein Verrückter rum, da draußen, wer weiß? Und was unternimmt die Polizei, wenn sie mir nicht gerade ein Mittagessen spendiert?»

  Es war das zweite Mal, daß man ihm diese Frage stellte, und es stimmte Banks nicht besonders froh, wieder eine so kümmerliche Antwort geben zu müssen. Das Argument mit dem Wetter schien Penny jedoch zu überzeugen; sie wußte, wie gefährlich es bei diesem Regen draußen in den Mooren war, und zeigte überraschende Anteilnahme an Banks' zunehmender Frustration.

  Schweigend widmeten sie sich wieder ihrem Essen, bis die Teller leer waren, Banks sein Besteck ablegte und den Blick hob, um Penny anzusehen.

  «Erzählen Sie mir von Ihrem Vater», bat er.

  «Wissen Sie, daß Sie wie ein gottverdammter Psychiater klingen? Also, was soll sein mit meinem Vater?»

  «Nun, Sie wissen ja wohl, daß er ein ziemlicher Hitzkopf ist, nicht wahr?»

  «Vermutlich hab ich ihm genügend Grund gegeben.»

  «Mit Ihrem wilden Leben in der großen Stadt?»

  Sie nickte. «Aber Sie machen das alles schlimmer, als es ist, im Ernst. Wie hätten Sie sich denn verhalten unter diesen Umständen? Alles war neu für mich. Ich hatte plötzlich Geld und jede Menge Freunde, wie ich glaubte. Es war ungeheuer aufregend, all die neuen Dinge auszuprobieren, nur so zum Spaß. Mein Vater hat nicht mehr mit mir gesprochen, nachdem ich weg war, ewig lange nicht, ich konnte ihm also nicht erklären, daß es mir einfach zu eng geworden war zu Hause, daß mir die Decke auf den Kopf fiel. Aber als ich dann zurückkam, war er ganz lieb und hat mir geholfen, mich in diesem Cottage einzurichten. Ich weiß, er kehrt den großen Beschützer heraus und gerät ziemlich leicht in Rage, ja, aber er ist absolut harmlos. Sie werden ihn doch wohl nicht ernsthaft verdächtigen, Harry etwas angetan zu haben, oder?»

  Banks schüttelte den Kopf. «Nein, jedenfalls jetzt nicht mehr. Ein derart gut geplantes Verbrechen paßt wohl nicht zu ihm, und ich habe auch nur wissen wollen, wie Sie die Dinge beurteilen. Erzählen Sie mir doch noch etwas mehr über Michael Ramsden.»

  Penny griff sichtlich nervös nach einer neuen Zigarette. «Wieso? Was ist mit ihm?»

  «Immerhin waren Sie doch eine Zeitlang mit ihm zusammen. Ach... könnte ich vielleicht auch eine Zigarette haben?»

  «Natürlich.» Sie reichte ihm die Packung. «Na schön, wir waren zusammen, das wissen Sie doch schon. Und was weiter? Schließlich ist das ewig her, wie aus einem anderen Leben.»

  «Waren Sie verliebt?»

  «Verliebt? Inspector, mit sechzehn ist man sehr schnell verliebt, vor allem, wenn die andern das erwarten. Michael war der intelligenteste Junge im Dorf, und ich war das hoffnungsvolle junge Talent. Das ideale Paar also, selbst für meinen Vater, der mir bis heute Vorwürfe macht, weil wir nicht geheiratet haben.»

  «Hatten Sie denn die Absicht, das zu tun?»

  «Wir haben davon geredet, uns zu verloben, wie man das eben so macht, wenn man jung ist. Ich war noch ein halbes Kind und unberührt, verstehen Sie, und Michael eigentlich auch nur ein großer Junge. Mehr ist nicht dran an der Geschichte.» Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und warf das lange Haar nach hinten.

  «Hatten Sie sexuelle Beziehungen?»

  «Das geht Sie, verdammt noch mal, nichts an!»

  «Hat er Ihnen den Laufpaß gegeben?»

  «Wir sind einfach auseinandergegangen.»

  «Das ist alles?»

  «Jedenfalls alles, was Sie von mir erfahren werden.» Sie stand auf und schien gehen zu wollen, aber Banks packte ihren Arm und hielt sie fest. Wütend funkelte sie ihn an, und er ließ sie los, wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

  «Tut mir leid», entschuldigte er sich, während sie ihren Arm rieb, «bitte, setzen Sie sich doch wieder hin. Ich bin noch nicht ganz fertig. Sie scheinen zu glauben, daß ich aus purem Vergnügen in den Privatangelegenheiten anderer Leute herumschnüffele, aber das stimmt nicht. Es kümmert mich einen feuchten Schmutz, mit wem Sie geschlafen haben, welche Drogen Sie ausprobieren mußten oder was auch immer - solange das alles nichts mit dem Mord an Harold Steadman zu tun hat. Es interessiert mich nicht einmal, wieviel Hasch Sie inzwischen konsumieren. Ist das klar?»

  Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und nickte.

  «Also, warum ging die Sache auseinander?» fragte Banks.

  «Holen Sie mir noch einen Drink, und ich erzähl's Ihnen.»

  «Noch mal dasselbe?» erkundigte sich Banks und stand auf, um an die Bar zu gehen.

  Sie nickte. «Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß es interessant wird», rief sie ihm nach.

  «Wir waren beide noch zu unreif für eine richtige Beziehung», erklärte sie, als Banks mit den Getränken zurück war und sich wieder an den Tisch setzte. «Wir wußten eigentlich gar nichts, bis sich neue und andere Erfahrungen boten.»

  «Ein anderer Mann?»

  «Nein, das kam erst später. Viel später.»

  «Sie meinen durch das Studium bei Michael und durch Ihre Laufbahn als Sängerin?»

  «Ja, zum Teil, aber ganz so einfach war's nicht.»

  «Wie meinen Sie das?»

  Penny runzelte die Stirn, als habe sie Schwierigkeiten, einen bestimmten Gedanken aus den Nebeln ihrer Erinnerung zu lösen. «Ich weiß nicht. Es trieb uns einfach auseinander, das ist alles. Es war Sommer, und die Tage waren genauso heiß wie heute, zehn Jahre später... Ich sagte Ihnen ja, es ist nicht besonders interessant.»

  «Aber es muß doch einen Grund gegeben haben.»

  «Warum wollen Sie das unbedingt wissen?»

  «Weil ich glaube, daß die Erklärung für Steadmans Tod in der Vergangenheit zu finden ist, und weil ich deshalb soviel wie möglich über diese Zeit wissen muß.»

  «Warum glauben Sie das?»

  «Ich stelle hier die Fragen... Hat er Sie fallenlassen, weil Sie nicht mit ihm schlafen wollten?»

  Penny stieß eine dichte Rauchfahne aus. «Okay, okay, er hat mich also ficken wollen, und ich hab ihn nicht rangelassen. War es das, was Sie hören wollten?» Es war offensichtlich, daß sie vorhatte, Banks zu schockieren.

  «Wie gesagt - ich stelle die Fragen, und Sie erzählen.»

  «Ah, das ist einfach unerträglich! Hier, nehmen Sie.» Sie warf ihm eine weitere Zigarette zu. «Na schön, kann sein, daß der Sex eine Rolle gespielt hat. Jedenfalls hat er's ziemlich hartnäckig versucht, und ich hätte ihn vielleicht lassen sollen. Ich weiß nicht... im Grunde war ich ja bereit, sicher sogar, aber dann ist er plötzlich so anders geworden, irgendwie distanziert und in sich gekehrt. Als ob wir uns fremd geworden wären. Ich war auch dabei, mich zu verändern, zog durch die Pubs und sang meine Lieder, während Michael immerzu lernte und sich auf die Universität vorbereitete. Harry und Emma waren auch da, ziemlich lange sogar, und es war heiß, sehr heiß. Emma ging kaum vor die Tür, weil sie Angst hatte, sich einen Sonnenbrand zu holen, und Harry und ich waren meistens in Fortford, in diesem römischen Lager, das sie gerade ausgegraben hatten. Oder wir haben einfach Spaziergänge gemacht, stundenlange Spaziergänge in der prallen Sonne.»

  «War Michael dabei?»

  «Manchmal, aber das faszinierte ihn nicht besonders. Er hatte gerade die Wunder der Literatur entdeckt und nichts anderes im Kopf als Shelley, Keats, Wordsworth oder D. H. Lawrence. Ständig steckte er die Nase in irgendein Buch - wenn er nicht gerade versuchte, mir mit der Hand unter den Rock zu gehen.»

  «Wahrscheinlich hat ihn Lawrence dazu inspiriert.»

  Pennys Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Sie hob die Hand zur Stirn, strich sich die Haare aus dem Gesicht und meinte: «Möglich.»

  «Und Mrs. Steadman?»

  «Wie ich schon sagte - sie war nicht gerne in der Sonne. Manchmal kam sie mit, wenn wir mit dem Wagen unterwegs waren und sie sich unter den Sonnenschirm verkriechen konnte, während wir ein Picknick veranstalteten wie die Romanfiguren von jane Austen. Sie hatte kein besonderes Interesse an Ausgrabungen oder alten Sitten und Bräuchen. Möglicherweise war die Ehe nicht gerade ideal, keine Ahnung, jedenfalls hatten sie, weiß Gott, nicht sehr viel gemeinsam, aber sie kamen wohl ganz gut miteinander aus und gingen nie unfreundlich miteinander um, soweit ich weiß. Harry hätte einfach nicht heiraten sollen, wirklich nicht, er war zu sehr seiner Arbeit verhaftet. Und in meiner Erinnerung sehe ich uns meistens über das Moor streifen und die Kräuter und Blumen bestimmen.»

  Banks überlegte, daß Steadman zu diesem Zeitpunkt etwa Anfang Dreißig gewesen war und Penny sechzehn. Die Altersdifferenz war demnach nicht zu groß gewesen, um eine körperliche Anziehung auszuschließen, im Gegenteil. Er hatte exakt das Alter gehabt, in welchem sich Männer zu jungen Mädchen hingezogen fühlen. Zudem war er zweifellos ein attraktiver Mann gewesen, bis zu seinem Ende, auf eine feine, durchgeistigte Art.

  «Haben Sie denn nicht für ihn geschwärmt?» erkundigte er sich. «Das wäre doch eigentlich ganz natürlich gewesen.»

  «Das kann sein, aber der springende Punkt ist doch - und das scheinen Sie einfach nicht begreifen zu wollen -, daß Harry einfach nicht der Typ war für so was. Wahrscheinlich war er nicht sexy in meinen Augen, sondern mehr so eine Art Onkel. Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, das zu glauben, aber es ist einfach die Wahrheit.»

  Mag sein, daß es mir am rechten Glauben fehlt, überlegte Banks, aber sicher nicht an Leuten, die alles versuchen, um mich zu überzeugen. «Halten Sie es für möglich, daß Michael diese Beziehung anders gesehen haben könnte?» gab er zu bedenken. «Als eine Bedrohung vielleicht, durch einen älteren, weitaus erfahreneren Mann. Könnte das der Grund gewesen sein für sein seltsames Verhalten?»

  «Ich kann wirklich nicht sagen, daß ich jemals auf diese Idee gekommen wäre», entgegnete Penny.

  Banks war nicht sicher, ob er ihr das abnehmen sollte oder nicht. Ihre häufigen Lügen und Ausflüchte bestätigten ihn eher in der Überzeugung, daß sie nicht nur eine gute Sängerin war, sondern auch eine höchst begabte Schauspielerin.

  «Aber es wäre doch denkbar, oder?»

  Sie nickte. «Möglich. Aber er hat nie etwas gesagt in dieser Richtung, und Sie denken doch sicher, daß er das eigentlich getan haben müßte, stimmt's?»

  «Es gab also keinen Streit? Hat er Ihnen nie Vorwürfe gemacht, daß Sie ständig mit Harry unterwegs waren? Hat er nicht darauf bestanden, immer dabeizusein?»

  Penny hatte bei jeder Frage den Kopf geschüttelt.

  «Er war ziemlich linkisch und schüchtern», erklärte sie, «und hatte große Schwierigkeiten, seine Gefühle auszudrücken. Wenn er wirklich mißtrauisch gewesen sein sollte, hat er es jedenfalls für sich behalten und im stillen gelitten.»

  Banks nahm einen Schluck von seinem Theakston's und grübelte, wie er die nächste Frage am besten formulierte. Penny bot ihm eine neue Zigarette an und meinte:

  «Wenn ich Sie richtig interpretiere, Inspector, wollen Sie mir zu verstehen geben, daß Michael Ramsden der Mörder sein könnte.»

  «Will ich das?»

  «Ach, kommen Sie schon! Wozu denn sonst diese ganze Fragerei über seine angebliche Eifersucht?»

  Banks gab keine Antwort.

  «Jedenfalls sind sie später dicke Freunde geworden, die beiden», fuhr Penny fort. «Als Michael sein Examen hatte, fing er an, sich mächtig für Landeskunde zu interessieren. Er hat Harry sehr geholfen und sich sogar dafür eingesetzt, daß sein Verlag Harrys Bücher veröffentlichte. Aber es war mehr als nur ein geschäftliches Verhältnis zwischen Autor und Herausgeber.»

  «Das wundert mich ja eben», faßte Banks die Gelegenheit beim Schopf. «Könnte es sein, daß die beiden vielleicht eine homosexuelle Beziehung hatten? Ich weiß, es klingt abwegig, aber denken Sie trotzdem einmal darüber nach. »

  Im Gegensatz zu Barker schien Penny die Frage ernsthaft zu prüfen, bevor sie deutliche Zweifel äußerte und hinzufügte: «Das wird doch wohl kein Trick gewesen sein ? Ich hoffe, Sie legen es nicht darauf an, mir eine Falle zu stellen, damit ich zugebe, mit Harrys sexuellen Vorlieben vertraut gewesen zu sein?»

  «Ich bin wirklich nicht halb so hinterhältig, wie Sie vermuten», lachte Banks.

  Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. «Darauf will ich mich lieber nicht verlassen. Aber wie dem auch sei - ich kann Ihnen wirklich nicht helfen. Man glaubt immer, alles über die Menschen zu wissen, die man seit Jahren kennt, aber das ist ein Irrtum. Möglich, daß Harry homosexuell war, dazu kann ich nichts sagen, Michael hingegen hat sich ganz sicher wie ein völlig normaler junger Mann verhalten, aber das schließt natürlich nicht aus, daß er bisexuell veranlagt war. Man muß mit allem rechnen, heutzutage. »

  Eine höchst zutreffende Feststellung. Banks erinnerte sich an einen Sergeant von der Métropolitain Force - einen verheirateten Mann mit zwei Kindern -, mit dem er sechs Jahre lang zusammengearbeitet hatte, bevor sich der Mann umgebracht und die Untersuchung ergeben hatte, daß er homosexuell gewesen war.

  «Offenbar glauben Sie immer noch, daß es Michael gewesen sein könnte», meinte Penny. «Sie haben sich regelrecht festgebissen an uns, an Harrys Freunden. Warum? Warum sollen es ausgerechnet seine Freunde gewesen sein? Was ist mit seinen Feinden? Kann es nicht auch ein Zufall gewesen sein ? Irgend jemand, der vorbeikam und ihn getötet hat?»

  Banks schüttelte den Kopf. «Entgegen allgemeinen Vorstellungen», erklärte er, «sind nur die wenigsten Morde auf solche Zufälle zurückzuführen. Der Mythos des mordlustigen Vagabunden ist wahrscheinlich eine Erfindung der Aristokratie, um die eigene Gesellschaft vom Makel dieses Verdachts zu befreien. Tatsächlich ereignen sich jedoch die meisten Morde im engeren Familien- oder Freundeskreis, und die gängigen Motive sind Geld, Sex, Rache oder das Verschleiern irgendwelcher peinlichen Fakten. Im Fall von Harold Steadman gibt es keinerlei Hinweise auf einen möglichen Raub, und bislang ist es uns auch nicht gelungen, irgendwelche Feinde aus der Vergangenheit auszugraben. Und wir graben tief, glauben Sie mir, Ms. Cartwright, sehr tief. Wir haben über seinen heutigen engeren Zirkel hinaus jeden überprüft, der auch nur entfernt einen Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten. Ich kann Ihnen versichern, daß nur die wenigsten Leute einfach so rumspazieren und anderen eins über den Schädel geben, ohne besonderen Grund. Statistisch und spurentechnisch gesehen, deutet alles auf einen Täter aus dem näheren Umfeld hin, aber da das Opfer - nach Aussage aller Beteiligten - geradezu ein Muster an Vollkommenheit gewesen sein muß, stellt sich die Frage, wo man ansetzen soll. Offenbar war Mr. Steadman jedenfalls weit weniger unkompliziert, als die meisten zugeben wollen, und seine zwischenmenschlichen Beziehungen stellen sich keineswegs so eindeutig dar, wie es den Anschein hat. Dieser Mord war zweifellos kein Zufall oder eine Sache des Augenblicks, es sei denn, der Täter hätte es aus Angst oder Kaltblütigkeit fertiggebracht, die Leiche weit genug wegzuschleppen, um den Verdacht von sich abzulenken.»

  «Und bis Sie ihn haben, werden Sie nicht aufhören, uns zu piesacken, richtig?»

  «Richtig.»

  «Und? Sind Sie ihm dicht auf den Fersen?».

  «Keine Ahnung, die Ermittlungen in einem Mordfall verlaufen nicht gradlinig. Es ist nicht so, daß man das Ziel immer näher und näher heranholt, wie durch ein Teleobjektiv, vielmehr sammelt man alle möglichen Mosaiksteinchen, um sie irgendwann zu einem sinnvollen Muster zusammenzusetzen.»

  «Und Sie sind nie sicher, wann Sie genug Steinchen zusammen haben?»

  «Doch, aber man kann diesen Zeitpunkt nicht im voraus bestimmen. Das kann in den nächsten Sekunden passieren oder erst in zehn Jahren, und da man nicht weiß, wie dieses Muster aussieht, kommt es vor, daß man es nicht sofort erkennt. Bis man plötzlich weiß, daß man ein klares Bild vor sich hat und nicht einen ganzen Aktenschrank voll Gerümpel.»

  «Was ist mit dem Motiv Geld?» fragte Penny. «Harry war immerhin ziemlich wohlhabend.»

  «Dummerweise hat er kein Testament hinterlassen, so daß alles an seine Frau geht. Es wäre entschieden bequemer, wenn er den National Trust begünstigt hätte und wir uns einfach nur den erstbesten verrückten Konservator schnappen müßten, aber das wirkliche Leben ist nun mal nicht so leicht wie im Roman. Die Motive und die Gelegenheiten passen einfach nicht zusammen bei diesem Fall.»

  «Nun, aber das ist Ihr Problem, oder?»

  «Richtig. Habe ich Ihnen verständlich machen können, warum ich so hartnäckig bin?»

  «Klar und deutlich, danke», antwortete Penny mit einer spöttischen Verbeugung.

  «Sehen Sie Michael noch häufig?»

  «Nein, nicht sehr oft. Nur gelegentlich im Bridge. Seit wir auseinandergegangen sind, ist er immer reservierter geworden im Umgang mit mir. Wollen Sie etwa andeuten, daß er noch in mich verliebt ist? Ah, ich verstehe: Er hat also gedacht, Harry und ich wären ein Paar, hat sich vornehm zurückgezogen, aber im tiefsten Innern seinen finsteren Groll gepflegt, sich hinterlistig in Harrys Vertrauen geschlichen, auf eine günstige Gelegenheit gewartet, ihm die Demütigung heimzuzahlen, und nach zehn Jahren endlich zugeschlagen und Rache genommen - ist es das ungefähr?»

  Banks Lachen klang ein wenig hohl. Ramsden hatte möglicherweise tatsächlich ein Motiv, aber es würde nicht leicht sein, ihm auch die Gelegenheit nachzuweisen. Es war nicht besonders plausibel, daß er eigens nach Helmthorpe fuhr und sich stundenlang auf diesem Parkplatz versteckte, selbst für den Fall, daß er sicher sein konnte, Steadman früher oder später dort zu erwischen. Wenn er jedoch in York auf ihn gewartet hatte, wie war dann Steadmans Wagen zurück nach Helmthorpe gekommen? Ramsden konnte nicht zwei Autos gleichzeitig bewegt haben, um mit dem eigenen wieder nach Hause zu kommen. Busse verkehrten auch nicht mehr zu dieser vorgerückten Stunde, und ein Taxi zu benutzen war zu riskant.

  «Es ist wirklich vertrackt», meinte Penny, als könne sie seine Gedanken lesen. «Ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie sagen, daß Sie festsitzen.» Sie leerte ihr Glas, stand auf und ließ Banks am Tisch zurück.

  Während er trübsinnig in sein Glas schaute und gegen das Verlangen nach einer Zigarette ankämpfte, erschien Hatchley mit zwei frischen Pints und zwängte sich in den Armsessel, den Penny eben verlassen hatte.

  «Was Neues?» fragte Banks.

  «Weavers Leute haben mit jemandem gesprochen, der Sally in der Telefonzelle auf der Hill Road gesehen hat. Freitag nachmittag um vier», berichtete Hatchley. «Und ein anderer Zeuge gibt an, sie am Abend gegen neun auf der High Street gesichtet zu haben.»

  «In welche Richtung ist sie gegangen?»

  «Nach Osten.»

  «Also überallhin.»

  «Ausgenommen nach Westen», stellte Hatchley trocken fest. «Hab mich übrigens mit 'nem Kumpel aus York in Verbindung gesetzt. Kennt sämtliche Schwuchteln und Perverslinge aus der Ecke, der Knabe, aber unseren Ramsden will keiner gesehen haben. Fehlanzeige.»

  «Hab ich mir gedacht», meinte Banks düster. «Ich fürchte, wir jagen dem falschen Phantom hinterher, Sergeant.»

  «Kann schon sein, fragt sich nur, wer uns das richtige zeigt.»

  Banks blickte auf die Regenbäche, die über die schmutzige Fensterscheibe strömten, und seufzte. «Was meinen Sie, gibt's da einen Zusammenhang?» fragte er. «Zwischen Steadman und der kleinen Lumb, meine ich.»

  Hatchley wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Mund und rülpste. «Schon 'n bißchen komisch für 'n Zufall, wie? Bringt uns die einzige brauchbare Information, das Mädel, sagt uns, wann man die Leiche rausgekippt hat - und verschwindet.»

  «Aber sie hatte uns doch schon alles erzählt, was sie wußte.»

  «Und? Weiß der Killer das auch?» fragte Hatchley.

  «Das spielt doch keine Rolle, wenn er nicht mal gewußt hat, daß ihn jemand gehört hat, da oben am Crow Star. Es sei denn...»

  «Es sei denn, die Kleine hat's ihm verraten.»

  «Stimmt. Absichtlich oder sonstwie. Was allerdings bedeuten würde, daß sie mehr wußte, als sie uns erzählt hat. Daß sie wußte, wer's war.»

  «Nicht unbedingt. Muß ja keine Absicht gewesen sein», gab Hatchley zu bedenken. «Man weiß doch, wie sie sind, diese Mädels. Erzählen's ihren Freundinnen, spielen sich auf und machen Andeutungen, was sie angeblich alles wissen. Und wir sind hier nicht in London, sondern auf einem Dorf, vergessen Sie das nicht. Jeder weiß alles, und die Nachrichten verbreiten sich schnell.»

  «Das Café...», murmelte Banks.

  «Wie war das?»

  «Das Café, dieses Lokal, in dem sie immer rumhängt, mit ihren Freundinnen. Kommen Sie, wir nehmen uns die jungen Damen am besten gleich noch mal vor. Wenn sie wissen, was Sally gewußt hat, sind sie womöglich auch in Gefahr. Ich wollte ihnen nicht angst machen und sie auf den Gedanken bringen, daß Sally tot sein oder daß ihr Verschwinden mit dem Mord an Steadman zu tun haben könnte - aber jetzt ist keine Zeit mehr für die sanfte Tour.»

  Hatchley stürzte das restliche Bier hinunter, rappelte sich vom Stuhl hoch und trottete hinter Banks zur Tür.