* KAPITEL 10

 

* I

 

Anne Downes fand es beunruhigend und aufregend zugleich, auf einem Polizeirevier zu sein. Nicht, daß der Raum selbst besonders viel hermachte, es war eher die allgemeine Geschäftigkeit, das Bewußtsein, daß sich hier bedeutende Dinge taten. Alle möglichen Leute kamen und gingen, pausenlos klingelten die Telefone, und der altersschwache Fernschreiber ratterte ohne Unterbrechung. Ihre beiden Freundinnen schienen weniger Sinn zu haben für die aufregende Atmosphäre und sich eher unbehaglich zu fühlen. Hazel war am schlimmsten, knabberte unentwegt an ihren Fingernägeln und rutschte auf dem Stuhl herum, als wolle sie einen Veitstanz aufführen; Kathy gab sich cool, als interessiere sie die ganze Angelegenheit nur am Rande, biß sich aber ständig so fest in die Unterlippe, daß diese schon fast blutig aussah.

  Die Polizistin, die sie allesamt im Café abgeholt und mit dem Wagen zum Revier gebracht hatte, war eine ganz freundliche Person gewesen, und dieser gutaussehende Chief Inspector hatte sie mit einem Lächeln empfangen und ihnen höflich versichert, daß er sie nicht lange aufhalten wolle. Trotzdem hatten sie natürlich gleich begriffen, daß irgendwas im Busch war.

  Anne wurde als erste in das winzige Vernehmungszimmer gerufen. Die Wände rundum waren nackt und kahl, und die beiden Stühle mit dem Tisch füllten fast den ganzen Raum aus. Alles in allem ein idealer Platz, um Klaustrophobien zu entwickeln.

  Banks setzte sich Anne gegenüber an den Tisch, während in der Ecke neben dem schmalen, vergitterten Fenster eine Polizistin Posten bezog, Notizblock und Bleistift in der Hand.

  «Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Anne», begann Banks.

  Sie hob den Blick, sah ihn etwas ratlos durch ihre dicken Brillengläser an und nickte.

  «Sie werden sich wohl denken können, warum ich Sie noch einmal sehen wollte, nicht wahr?»

  «Ja», antwortete Anne. «Sie glauben, daß man Sally umgebracht hat, weil sie etwas wußte.»

  Leicht verblüfft von ihrer Direktheit, erkundigte er sich nach ihrer Meinung zu dieser Frage.

  «Nun, ich würde sagen, es ist durchaus möglich, ja», entgegnete Anne, die kindliche Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. «Wie ich schon sagte, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie einfach weggelaufen ist oder sich verirrt hat, und damit bleibt nicht mehr allzuviel übrig - vor allem wegen dieser anderen Sache, nicht wahr?»

  Sie würde eine gute Kriminalistin abgeben, dachte Banks - schnell, scharfsinnig, logisch im Denken. «Haben Sie vielleicht noch eine andere Idee?» fragte er.

  «Nun, vielleicht hab ich mich doch geirrt», erklärte sie mit leicht zitternder Stimme.

  «Inwiefern?»

  «Als ich sagte, daß sie viel daherredet und große Ideen im Kopf hat. Vielleicht hat sie ja wirklich etwas gewußt und geglaubt, daß sie berühmt wird, wenn sie der Sache nachgeht.»

  «Warum sollte sie so was versuchen?»

  Anne rückte ihre Brille zurecht und schüttelte den Kopf. In ihren Augen schimmerten die ersten Tränen, stark vergrößert durch die lupenartigen Gläser. «Ich weiß nicht», antwortete sie.

  «Hat sie Ihnen irgendwas erzählt, aus dem Sie schließen könnten, daß sie die Person des Mörders kennt? Denken Sie gut nach, und versuchen Sie, sich zu erinnern. An jede Kleinigkeit.»

  Anne dachte angestrengt nach, und die Tränen verschwanden. «Nein», erklärte sie schließlich. «Sie hat nur immer Andeutungen gemacht. Von irgendwelchen Dingen, die sie weiß, und von einem Geheimnis, das sie entdeckt hat. Ich meine, nun ja, sie hat schon irgendwie gesagt, daß sie weiß, wer's war, aber sie hat keinen Namen genannt oder so was. Sie hat gesagt, sie müsse erst sicher sein, daß es stimmt, weil sie niemanden in Schwierigkeiten bringen will.»

  «Haben Sallys Eltern ein Telefon?»

  «Ja, seit Jahren schon. Warum?»

  «Können Sie sich vorstellen, warum Sally in eine öffentliche Telefonzelle gegangen ist, am Freitag nachmittag?»

  «Nein.»

  «Vielleicht wollte sie Kevin anrufen oder einen anderen Freund, was meinen Sie? Eltern haben mitunter kein Verständnis für solche Dinge.»

  «Sie hatte keinen Freund außer Kevin, und ihre Eltern wußten davon. Sie waren nicht grade hundertprozentig begeistert von ihm, aber er ist ein netter und anständiger Kerl, und sie haben den beiden keine Schwierigkeiten gemacht.»

  «Hat Sally gesagt, wo sie am Freitag abend hinwollte?»

  «Nein, ich hatte keine Ahnung, daß sie überhaupt irgendwas vorhatte.»

  «Vielen Dank, Anne, das war alles», sagte Banks.

  Die Polizistin führte sie hinaus und brachte Kathy Chalmers mit. Kathy wirkte unterdessen ziemlich verstört, zeigte jedoch keine Tränen und hatte nichts Neues vorzubringen, obwohl ihr die Hintergründe allmählich zu dämmern schienen.

  Das letzte Mädchen, Hazel Kirk, war ein besonderer Fall. Wie ihre beiden Freundinnen wußte sie genau, was im Gange war, zog es aber vor, die Ahnungslose zu spielen. Angeblich erinnerte sie sich nicht einmal, ob Sally überhaupt irgendeine Bemerkung zu dem Mörder gemacht hatte, wurde immer verstockter und ausweichender auf Banks' Fragen, bis sie am Ende in Tränen ausbrach und ihm erklärte, er solle sie in Ruhe lassen. Banks gab der Polizistin einen Wink, die Befragung fortzusetzen, und verließ das Zimmer.

  Draußen hatte sich Sergeant Hatchley auf Weavers Schreibtischkante niedergelassen und studierte die einlaufenden Berichte der Provincial Police und der Bahnpolizei. «Na, Glück gehabt?» fragte er, als er Banks kommen sah.

  Banks schüttelte den Kopf. «Nein, die erste war die intelligenteste von den dreien, konnte uns aber auch nicht viel weiterhelfen. Das wenige, was sie gesagt hat, bestätigt allerdings unsere Befürchtungen. Offenbar hat Sally wirklich geglaubt, den Mörder zu kennen, und ein Treffen vereinbart - und wenn das so ist, dann brauchen wir nicht mehr lange zu überlegen, was mit ihr passiert ist. Auf jeden Fall muß es jemand gewesen sein, den sie näher gekannt hat und vor dem sie keine Angst hatte. Verdammt, es muß doch irgendwo ein Motiv geben, ich wette, es liegt direkt vor unseren Augen und springt uns gleich an!» Er schlug mit der Faust auf den Tisch, zu Hatchleys großem Erstaunen, der mit diesem plötzlichen Ausbruch nicht gerechnet hatte, sich aber dann erinnerte, daß sein Boss schließlich aus einer harten Schule kam. Das war kein schwerfälliger Beamter, sondern ein Mann der Tat.

  «Haben Sie 'ne Zigarette?» fragte Banks.

  «Dachte, Sie hätten aufgehört und nuckeln jetzt an der Pfeife», meinte Hatchley und reichte Banks seine Packung Senior Service.

  «Das ist vorbei. Konnte das verdammte Ding sowieso nicht ausstehen.»

  Hatchley lächelte und gab ihm Feuer. «Wenn das so ist, Sir», meinte er, «schlag ich vor, daß Sie sich wieder selbst versorgen.»

  Die Tür des Vernehmungszimmers öffnete sich, und Hazel Kirk trat heraus, offensichtlich wieder ganz friedfertig. Sie gesellte sich zu ihren Freundinnen, die bereits ungeduldig gewartet und getuschelt hatten, voller Aufregung über die ungeahnten Vorgänge. Schließlich erschien die Polizeibeamtin, blieb mit leicht verwirrter Miene im Türrahmen stehen und winkte Banks zu sich heran.

  «Was gibt's?» fragte er und zog die Tür hinter sich zu.

  «Dieses Mädchen, Sir», setzte die Beamtin an, «warum sie so aufgebracht war... vielleicht hat es was zu bedeuten...»

  «Na schön, erzählen Sie.»

  «Verzeihung, Sir, aber sie hat sich so aufgeregt, weil ihr Sally gesagt hat, sie wüßte, wer der Mörder ist, und weil sie dann nach Hause gegangen ist und ihren Eltern alles erzählt hat.» Sie machte eine kurze Pause, während Banks an seiner Zigarette zog und auf die Fortsetzung wartete. «Na ja, die haben nur gelacht und gesagt, Sally Lumb hätte schon immer eine blühende Phantasie gehabt, aber der Vater muß wohl vor ein paar Wochen ein bißchen aneinandergeraten sein mit Steadman, und da dachte Hazel -»

  «Ich kann mir schon vorstellen, was sie gedacht hat», unterbrach Banks. «Aber erzählen Sie weiter. Was war denn der Grund?»

  «Das hat sie nicht gesagt, sie wollte nicht. Ich bin nicht von hier, ich komme drüben aus Wensleydale, aber vielleicht weiß Constable Weaver was von der Sache.»

  «Ja, sicher. Vielen Dank, Constable...?»

  «Smithies, Sir.»

  «Also, danke sehr, Constable Smithies, das haben Sie gut gemacht. Ein Segen, daß Sie das Mädchen beruhigt haben und dazu bringen konnten, sich Ihnen anzuvertrauen», lobte Banks und ließ die junge Beamtin blutrot im Vernehmungsraum zurück.

  Weaver telefonierte gerade, faßte sich aber kurz, als er Banks an den Tisch treten sah.

  «Die Wetterfrösche aus Reckston Moor, Sir», meldete er. «Sie meinen, es wär totaler Wahnsinn, irgendwelche Suchtrupps aufs Moor zu schicken vor Ablauf von mindestens vierundzwanzig Stunden.»

  «Einfach beschissen, dieses Wetter im Norden», fluchte Banks. Hatchley grinste und zwinkerte Weaver verstohlen zu, doch der Constable zeigte keine Reaktion.

  «Sie meinen, daß der Regen noch eine ganze Weile anhalten wird. Der Boden ist völlig aufgeweicht, und die Sicht wird nach oben immer schlechter. Das ist alles Moorland, Sir, zu beiden Seiten, meilenweit.»

  «Ich weiß», seufzte Banks, «und wir können nichts daran ändern. Aber sorgen Sie wenigstens dafür, daß alles bereit ist, sobald sich das Wetter bessert. Haben Sie Hubschrauber angefordert?»

  «Ja, Sir, Superintendent Gristhorpe kümmert sich darum. Bei diesem Regen werden sie allerdings nicht starten können.»

  «Nein, natürlich nicht. Hören Sie, Sie kennen doch dieses Mädchen, das eben im Vernehmungsraum war, oder?»

  Weaver nickte. «Hazel Kirk, ja.»

  «Was wissen Sie über ihren Vater?»

  «Robert Kirk. Die Familie lebt hier seit Generationen, ist aber ursprünglich aus Schottland.»

  «Was macht er?»

  «Arbeitet in Eastvale, für Noble's. Sie wissen schon, das große Schuhgeschäft in diesem neuen Einkaufszentrum am Busbahnhof.»

  «Ich weiß Bescheid. Sonst noch was?»

  «Er ist sehr aktiv in der Kirche hier, Sir», fuhr Weaver fort. «Es gibt Leute, die behaupten, er wär so eine Art religiöser Spinner, wenn Sie wissen, was ich meine. Mit so 'nem Hauch von Feuer und Schwefel. Streng presbyterianisch. Muß das schottische Erbe sein, wenn Sie mich fragen. Jedenfalls schreibt er ständig Leserbriefe an alle möglichen Zeitungen und beschwert sich über den Sex im Fernsehen. Neuerdings hat er den Fimmel, eine Riesenkampagne gegen diese Rockvideos zu starten und so was wie 'ne Zensur einzuführen für die ganze Musikszene. Er findet allerdings nicht viel Anklang mit seinen Ideen, Sir. Den Leuten hier ist es ziemlich egal, was da läuft.»

  «Was ist Ihre Meinung über ihn?»

  «Verrückt, aber harmlos.»

  «Sicher?»

  Weaver nickte. «Hat uns nie Probleme gemacht, Sir. Und er ist wirklich sehr fromm, wie's aussieht. Würde keiner Fliege was zuleide tun.»

  «Religiöse Fanatiker sind oft ziemlich gewalttätig. Am besten, Sie unterhalten sich einmal mit ihm und fragen, worum es bei diesem Streit mit Harold Steadman ging.»

  «Das war kein Streit, Sir», entgegnete Weaver. «Kirk hat sich bei dem Direktor der Eastvale Comprehensive beschwert, daß er einem Mann mit derart laxen Moralbegriffen wie Harold Steadman erlaubt, mit heranwachsenden Mädchen umzugehen.»

  «Was?»

  «Es ist tatsächlich wahr, Sir», fuhr Weaver grinsend fort. «Offenbar hat er Steadman ab und an mit Penny Cartwright gesehen, und für Kirk war Penny sozusagen die leibhaftige Hure von Babylon. Sie erinnern sich, da waren doch diese Gerüchte um einen angeblichen Inzest, und dann ist sie von zu Hause weggegangen, um sich in dieses Sodom und Gomorrha des Musikgeschäfts zu stürzen. Jedenfalls hat er sich beschwert, daß Steadman Hazel und ein paar andere Mädchen manchmal mit dem Auto von der Schule mitgenommen hat, um ihnen irgendwelche Ausgrabungen zu zeigen und sie anschließend zu sich nach Hause einzuladen. Natürlich hat das niemand ernst genommen. Ich erinnere mich sogar, daß sich Steadman und seine Kumpels abends im Bridge halb totgelacht haben über die Geschichte.»

  «Und warum erfahre ich das erst jetzt?» erkundigte sich Banks mit einer eisigen Ruhe, die ein deutliches Signal für Gefahr war.

  «Es... es erschien mir nicht wichtig, Sir.»

  «Nicht wichtig?» wiederholte Banks. «Wir untersuchen einen Mord, mein Junge, ist Ihnen das klar? Da ist alles wichtig! Selbst das Unwichtige ist wichtig, wenn es etwas mit dem Opfer oder mit seinem Umfeld zu tun hat. Haben Sie das begriffen?»

  «Jawohl, Sir», sagte Weaver mit zitternder Stimme. «Ist das alles, Sir?»

  «Ist es alles?»

  «Sir?»

  «Gibt es noch etwas, was Sie mir berichten müßten?»

  «Nein, Sir. Ich glaube nicht, Sir.»

  «Nun, dann ist es in der Tat alles. Kommen Sie, Hatchley, sehen wir zu, daß wir wieder in die Zivilisation kommen.»

  «Haben ihn ein bißchen hart angefaßt, wie, Sir?» meinte Hatchley, als sie ihre Mantelkragen hochschlugen und sich auf den Weg zu ihren Wagen machten.

  «Wird ihn schon nicht umbringen.»

  «Glauben Sie, da ist was dran, an dieser Kirk-Sache?»

  «Nein, nicht mehr als an der Sache mit dem Major. Es sei denn, dieser Kirk ist wirklich verrückt, aber Weaver meint ja, das wär nicht der Fall. Alles Klatsch und Tratsch, wie das meiste an diesem verdammten Fall. Darum ist es ja so schwer, die Lügen von den Tatsachen zu trennen. Der Major, dieser Kirk - nichts als Gerüchte. Natürlich werden wir ihn überprüfen, für alle Fälle, aber wahrscheinlich hat er sich nur eingebildet, daß Steadman diesen Unschuldsengel namens Hazel verführen will.»

  «Was man ihm nicht übelnehmen könnte», meinte Hatchley. «Wenn man sich die Jeans anguckt, die diese Bälger heutzutage tragen. .. Braucht man ja 'n Schuhanzieher, um in die Dinger reinzukommen.»

  «Mein Bedarf an sündigen Gedanken über kleine Mädchen ist gedeckt, Sergeant», lachte Banks.

  «Tjaja», sinnierte Hatchley. «Is' schon verdammt praktisch, daß man uns nich' ins Loch stecken kann für unsere Gedanken. Ah, da drüben ist ein Tabakladen, Sir. Und er ist auch noch offen.»

 

* II

 

Am vorgerückten Sonntagnachmittag hörte der Regen endgültig auf. Die ersten Suchtrupps waren jedoch schon am späten Vormittag ausgerückt. Es hatte nur noch leicht geregnet, die Wolkendecke war aufgerissen, und der blaue Himmel deutete auf schönes Wetter und gute Sicht. Am Samstag hatten sich bereits viele Dorfbewohner trotz des Regens auf die Suche machen wollen, waren jedoch von ihrem risikoreichen Vorhaben abgebracht worden.

  Superintendent Gristhorpe koordinierte die Suchaktion anhand von Generalstabskarten, die er in verschiedene Sektoren gegliedert und jeweils einer Gruppe zugeteilt hatte. Sobald bestimmte Gebiete abgedeckt waren und die einzelnen Meldungen in der Nachrichtenzentrale der Dienststelle Eastvale einliefen, wurde der fertig durchsuchte Kartenabschnitt dunkel schraffiert.

  Gleichzeitig wurden auch die Ermittlungen in den größeren Städten fortgesetzt. Sämtliche Streifen von Newcastle, Leeds, London, Liverpool, Manchester und Birmingham, die zu Fuß oder per Wagen ihren regulären Dienst versahen, waren angewiesen, sich darüber hinaus nach einem jungen Mädchen mit blondem Haar umzusehen. Auch die Theater, Schauspieltruppen und Schauspielschulen wurden eingehend überprüft, doch die zahlreich eingehenden Hinweise hatten sich bisher sämtlich als Irrläufer erwiesen. In der näheren Umgebung beschäftigte man sich unterdessen mit Robert Kirk, verhörte ihn und mußte ihn wieder laufenlassen, als sich herausstellte, daß er nicht einmal wußte, wie man ein Auto handhabte. Und es war klar, daß niemand den weiten Weg von Helmthorpe zum Crow Star zu Fuß und mit einer Leiche im Handgepäck zurückgelegt haben konnte.

  Sallys Vater hatte aus einem Brief der Marion Boyars Academy of Theatre Arts erfahren, daß man gerne bereit sei, seine Tochter als Schülerin aufzunehmen, und sich noch am Samstag, getrieben von Kummer und Zorn, allein auf die Suche gemacht. Im Verlauf des Tages hatte das nasse Wetter seiner Stimmung und seinem Rheumatismus derart zugesetzt, daß ihn Dr. Barnes am nächsten Morgen ins Bett stecken mußte. Inzwischen waren Angst und Zorn verraucht und einer tiefen Resignation gewichen; sein väterlicher Instinkt sagte ihm, daß Sally nicht einfach weggelaufen war - trotz der Differenzen, die sie gehabt hatten -, und er konnte nur noch daran denken, in welchem Zustand man sie wohl auffand - wenn überhaupt -, nach drei oder vier Nächten in dieser Wildnis da draußen.

  Als erstes hatten sich die Suchtrupps das weite Moor im Norden von Helmthorpe, oberhalb des Crow Star, vorgenommen. Gristhorpe war sich wohl bewußt, bei dieser Entscheidung an den Fundort von Steadmans Leiche gedacht zu haben, fand sie aber dennoch vernünftig angesichts der Tatsache, daß es sich bei diesem Gebiet um das schwierigste Gelände der ganzen Gegend handelte - unwegsames, wildes Moor über sieben Meilen, bis zum angrenzenden Dale -, mit der höchsten Anzahl möglicher Verstecke: stillgelegte Bergwerke, tiefe Steinbrüche und unergründliche Höhlen.

  Das einzige Resultat der sonntäglichen Aktion war ein Unfall, bei dem ein aus Askrigg abgestellter Constable in einen sieben Meter tiefen Grubenschacht stürzte. Glücklicherweise war der Aufprall durch das Wasser und den Schlamm, die sich unten angesammelt hatten, gemildert worden, aber man hatte zwei kostbare Stunden damit vertan, behelfsmäßige Leinen herzurichten und ihn hochzuziehen. Weiter oben auf dem Moor waren zwei kleinere Trupps so tief im Morast versunken, daß an ein Weiterkommen nicht zu denken war. Auch in den übrigen Gebieten ging die Suche nur langsam voran.

  Am Montag herrschte strahlender Sonnenschein, und die Bodenbedingungen hatten sich deutlich gebessert. Gristhorpe war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen, saß mit rotgeränderten Augen in der Nachrichtenzentrale, sammelte die eingehenden Meldungen der Suchtrupps, schraffierte seine Karte, die unterdessen mehr und mehr einem Schachbrett ähnelte, und weigerte sich standhaft, diese Aufgabe zu delegieren.

  Gegen drei Uhr ließ er sich schließlich von Sergeant Rowe überreden, Banks aus seinem Büro zu holen und zu einem kleinen Spaziergang zu ermuntern.

  Auf der Market Street drängten sich die Touristen aus den umliegenden Städten. Außerdem war heute Markttag, mit allerhand farbenprächtigen Buden und Ständen, die sich auf dem Platz vor der Kirche zusammendrängten und alles anboten, was verkäuflich war - von den Ausschußartikeln der Firma Marks & Spencer über Tafelgeschirr bis hin zu Toilettenbürsten. Auf den Tischen türmten sich gebrauchte Taschenbücher, Stapel von einfarbigen oder gemusterten Stoffen aus Baumwolle, Leinen, Musselin, Rayon, Denim oder Tüll, die fast bis zum Boden herabhingen, Berge von Schüsseln, Tellern, Gläsern oder Besteck. Dicht gedrängt umringten die Menschen die Marktschreier, die mit Tassen und Tellern jonglierten und die Vorzüge ihrer Ware priesen, und schlenderten dann in die engen, gewundenen Seitenstraßen - wo die Häuser so dicht standen, daß man sich von Fenster zu Fenster die Hand schütteln konnte und nie einen Sonnenstrahl sah -, zu den gutgehenden kleinen Souvenirläden und den prachtvollen Auslagen der Delikatessenhändler, die sämtliche Schmankerl der Region anboten, von Toffees über Tee bis zu Silberlöffeln und sonstigem Schnickschnack, alles hübsch verpackt und mit dem Gütesiegel «Yorkshire» versehen, unabhängig davon, wo die Ware tatsächlich herkam.

  Die beiden Männer steuerten zu einer kleinen Teestube, ließen sich an einem Tisch nieder und bestellten Tee und Kuchen.

  «Ich mußte einfach mal raus», meinte Gristhorpe mit einem schwachen Lächeln, während er sich mit einer Hand durch sein wirres, dichtes Haar fuhr und mit der anderen Zucker in seinen Teebecher löffelte. «Wird ganz schön stickig mit der Zeit in dem engen Kabuff.»

  «Sie sehen auch völlig erledigt aus», stellte Banks fest und zündete sich eine Zigarette an. «Vielleicht sollten Sie doch nach Hause gehen und ein bißchen Schlaf nachholen.»

  Gristhorpe knurrte unwillig und wedelte sich Banks Zigarettenrauch aus der Nase. «Ich dachte, Sie hätten sich das Stinkekraut abgewöhnt», brummte er. «Bin wohl wirklich 'n bißchen kaputt, schließlich bin ich ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber es ist nicht nur die Müdigkeit, Alan... Haben Sie so was schon mal mitgemacht, eine solche Großaktion?»

  «Nicht in freier Wildbahn, nein. Ich hab schon ganz Soho auf den Kopf gestellt, auf der Suche nach irgendwelchen entlaufenen Teens, aber das hier ist mir neu. Meinen Sie, daß es noch Hoffnung gibt?»

  Gristhorpe schüttelte bedächtig den Kopf. «Nein, ich glaube, man hat sie umgebracht. Dieses dumme Ding, verdammt! Warum ist sie nicht zu uns gekommen?»

  Banks wußte keine Antwort. «Haben Sie denn schon mal eine derartige Suchaktion erlebt?» fragte er.

  «Vor zwanzig Jahren oder mehr», erwiderte Gristhorpe und gönnte sich einen weiteren Löffel Zucker für den Tee, «aber im Moment kommt es mir vor, als wär's erst gestern gewesen.»

  «Um wen ging es?»

  «Um ein zehnjähriges Mädchen namens Lesley Ann Downey. Und einen Jungen, eben erst zwölf. Hieß John Kilbride. Die Täter waren Brady und Hindley, die sogenannten Moor-Mörder. Ich denke, Sie haben davon gehört, oder?»

  «Was? Wieso hatten Sie damit zu tun?»

  «Wir sind aus Manchester angefordert worden, uns an der Suche zu beteiligen. Manchester ist schließlich gar nicht so weit, aber der Fall war völlig anders gelagert.»

  «Sir?»

  «Brady und Hindley hatten mit irgendwelchen Nazi-Haufen zu tun, Folter, Fetischismus und dieser ganze Kram, während das hier auf Vorsatz, auf einen Plan deutet, wenn uns nicht alles täuscht. Allerdings kann ich wirklich nicht sagen, was ich nun schlimmer finde.»

  «Das Ergebnis ist jedenfalls dasselbe.»

  «Aye.» Gristhorpe nahm einen Schluck Tee und knabberte an seinem Kuchen. «Kommen wir denn weiter?»

  Banks schüttelte den Kopf. «Nichts Neues bis jetzt. Hackett kommt nicht in Frage, Barnes auch nicht, wie's scheint. Ich fürchte, wir sitzen fest.»

  «Ach, Sie wissen doch, Alan, das ist immer so, wenn die Fährte abkühlt. Wenn uns die Lösung nicht buchstäblich anspringt, in den ersten vierundzwanzig Stunden, kommt die ganze Sache ins Stokken. Und wenn man festsitzt, muß man einfach versuchen, ein bißchen kräftiger zu drücken, das ist alles. Manchmal hat man Glück mit der Methode.»

  «Ich denke dauernd über den Zeitpunkt ihres Verschwindens nach», erklärte Banks und fuhr mit den Händen durch die Luft, um den Zigarettenrauch zu verscheuchen. «Zuletzt hat man sie auf der High Street gesehen, Freitag abend gegen neun Uhr.»

  «Und?»

  «Ich war zur gleichen Zeit sozusagen um die Ecke. Im Dog and Gun, mit Sandra und einem befreundeten Paar. Wir wollten Penny Cartwright singen hören. Jack Barker war übrigens auch dabei.»

  «Mit anderen Worten - er ist aus dem Schneider.»

  «Nein, Sir, das ist es ja. Pennys erster Auftritt endete kurz nach neun, und danach ist sie mit Barker verschwunden. Für etwa eine Stunde.»

  «Also exakt zu dem Zeitpunkt, wo man Sally noch im Dorf gesehen hat?»

  «Ja.»

  «Dann sollten wir das wohl besser überprüfen. Wie sehen Sie die Sache?»

  «Ich habe mich mit beiden unterhalten, mehrmals. Sie sind äußerst vorsichtig und einigermaßen kompliziert. Vom Gefühl her würde ich trotzdem sagen, daß sie's nicht waren - Penny scheint eher der aufrichtige Typ zu sein, und dieser Barker ist zwar ein ziemliches Großmaul, aber im Grunde doch ganz nett, wenn man ihn näher kennenlernt. Er schwört heilige Eide, daß er nichts mit Steadmans Tod zu tun hat, aber mir sind schon verdammt gute Lügner begegnet. Jedenfalls hat er kein Alibi und kann durchaus eifersüchtig gewesen sein auf die Beziehung zwischen Steadman und dieser Cartwright.»

  Gristhorpe pickte die letzten Krümel seines Kuchens auf und schlug vor, sich noch ein Weilchen die Beine zu vertreten. Sie wandten sich in Richtung Osten und gingen in einem Bogen durch die Gärten der Uferterrassen hinunter zum Fluß.

  «Der Swain hat sich ganz schön gefüllt», meinte Gristhorpe. «Hoffentlich müssen wir uns demnächst nicht auch noch mit Hochwasser herumschlagen.»

  «Kommt das denn häufiger vor?»

  «Oft genug. Überwiegend zum Frühjahr, wenn's im Winter kräftig geschneit hat. Aber bei soviel Regen kann's auch sehr leicht passieren, daß das ganze Wasser von den Bergen hier unten die Dämme brechen läßt.»

  Sie bogen in einen feuchten, baumbestandenen Uferweg, dessen steiniger Untergrund dicht mit Moosen und Flechten bewachsen war, umrundeten den Saum des Castle Hill, landeten wieder auf dem Market Place und begaben sich geradewegs in die Nachrichtenzentrale. Es hatte keine neuen Erkenntnisse gegeben.

 

* III

 

Selbst die fröhlichen Klänge von Purcells «Hail Bright Cecilia» konnten Banks nicht aufmuntern, als er sich am Abend erneut auf den Weg nach Helmthorpe machte. Während er die High Street entlangging, vorbei an den Geschenkartikelläden mit ihren Drehständern voller Ansichtskarten und dem kleinen Zeitschriftenladen, vor dessen Tür die Abendzeitungen in der leichten sommerlichen Brise raschelten, fühlte er, wie ihn die besondere Stimmung dieses Dorfes ganz gefangennahm. Es war eine seltsam undurchsichtige Atmosphäre, nichts erschien klar oder eindeutig. Selbst die Luft hatte, trotz des sanften Windes, etwas Angespanntes, und die dünne Geräuschkulisse aus hastenden Schritten, fernem Telefonläuten und sich öffnenden oder schließenden Türen klang merkwürdig abgehoben und beklemmend vor dem Hintergrund der stillen, grünen Talhänge und dem schroffen, massigen Klotz des in der Abendsonne leuchtenden Crow Star.

  Etwas mehr Druck, hatte Gristhorpe empfohlen. Nun gut, er würde Druck ausüben. Hart genug und an den richtigen Stellen, bis irgendwas, irgendwer irgendwann nachgab. Vor allem bei denen, die Steadman am nächsten gestanden hatten - Penny, Ramsden, Emma, Barker. Wenn auch keiner von ihnen für die Tat selbst in Frage kommen mochte, so gab es doch zumindest einen unter diesen vier, der den Mörder kannte. Banks war sich dessen ganz sicher, und er wußte auch, daß er Darnley und Talbot noch einmal befragen mußte. Er erinnerte sich, daß einer von beiden eine flüchtige, beiläufige Bemerkung hatte fallenlassen, etwas, was wichtig war, ihm aber nicht mehr einfallen wollte. Irgendwann würde er sich wieder darauf besinnen, das wußte er, aber er konnte nicht einfach dasitzen und warten - er mußte Druck machen.

  Er nahm die Abkürzung über den Friedhof, bog in den Fußweg, der direkt nach Gratly führte, und überlegte, ob Sally Lumb wohl einen dieser vier mit ihrem Wissen konfrontiert hatte. Nein, vermutlich nicht, sie war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Aber sie hatte jemanden angerufen, und zwar ganz vertraulich, von einer öffentlichen Telefonzelle aus. Es mußte also jemand gewesen sein, den sie gekannt hatte, gut genug, um ihn nicht zu fürchten.

  Die Schafe, die zu seiner Rechten weideten, stoben aufgescheucht auseinander, versammelten sich vor dem Steinwall und kehrten Banks ihre Hinterteile zu; links des Weges flohen die Tiere über die grünen Terrassen nach unten zum Fluß, wo sie sich blökend unter den Uferweiden zusammenfanden. Seltsame Geschöpfe, dachte Banks, hoppeln einfach ein paar Meter weiter, wenn sie Angst haben, und zeigen ihre Kehrseite. Bei harmlosen Passanten war das in Ordnung, aber nicht bei einem hungrigen Wolf.

  Emma Steadman schien sich gerade dem Fernsehprogramm zu widmen, drehte aber immerhin den Ton leiser, als Banks ihr ins Wohnzimmer folgte. Die Bücher und Schallplatten waren bis auf wenige Reste verschwunden, und der Raum wirkte seltsam kahl; eher wie eine leere Hülse statt eines wohnlichen Heims.

  Er wartete, bis Emma den versprochenen Tee zubereitet hatte, und setzte sich dann zu ihr an den niedrigen Couchtisch.

  «Ich möchte Sie gerne noch zu einigen Dingen befragen», eröffnete er das Gespräch. «Dinge, die vorwiegend mit der Vergangenheit zu tun haben.»

  «Mit der Vergangenheit?»

  «Ja. Mit diesen herrlichen Sommern, die Sie hier verbracht haben. Zu der Zeit, als die Ramsdens noch ihre Ferienpension betrieben.»

  «Die Ramsdens? Was ist mit ihnen? Oh, es macht Ihnen doch nichts aus, oder?» erkundigte sie sich und nahm ihr Strickzeug zur Hand. «Das hilft mir, mich zu entspannen. Und es macht den Kopf frei. Entschuldigung, ich habe Sie unterbrochen.»

  «Durchaus nicht, keine Sorge. Also, ich habe den Eindruck, daß Ihr Mann offenbar ständig mit Penny Cartwright durch die Dales gezogen ist, während sich der junge Michael allem Anschein nach ausschließlich in seinen Büchern vergraben hat.»

  Emma lächelte, sagte jedoch nichts.

  «Und Sie haben sich offenbar nichts dabei gedacht.»

  «Wenn Sie meinen Mann gekannt hätten, Chief Inspector, hätten Sie sich vielleicht auch nichts dabei gedacht.»

  «Aber mir fehlt etwas.»

  «Was denn?»

  «Sie. Was haben Sie unterdessen getan?»

  Emma seufzte und ließ das Strickzeug auf ihren Schoß sinken. «Nun, entgegen den Vorstellungen, die Sie sich offenbar von mir gemacht haben, bin ich nicht einfach nur ein passives Hausmütterchen, sondern hatte - und habe immer noch - meine eigenen Interessen. Beispielsweise war ich in Leeds eine Zeitlang bei einer Truppe von Amateurschauspielern. Während der Ferien hier habe ich überwiegend gestrickt und gelesen, ansonsten habe ich mich auch an ein paar Kurzgeschichten versucht, allerdings erfolglos, wie ich fürchte, und außerdem nicht nachweisbar, weil ich die Manuskripte weggeworfen habe. Außerdem habe ich lange Spaziergänge gemacht.»

  «Allein?»

  «Ja, allein. Ist das so ungewöhnlich?»

  Banks antwortete mit einem Achselzucken.

  «Sie scheinen zu vergessen, daß wir immer nur etwa einen Monat lang hier waren. Außerdem war ich in dieser Zeit weitaus häufiger mit meinem Mann zusammen, als Sie glauben. Auch bei diesen Ausflügen, vor allem, wenn sie mit dem Wagen unterwegs waren. Allerdings bin ich sehr sonnenempfindlich und konnte mir keine großen Exkursionen leisten, wenn die Tage richtig heiß waren und man nirgendwo ein Stück Schatten fand. Aber ich kann immer noch nicht ganz erkennen, was Sie eigentlich so spannend finden an diesen alten Geschichten.»

  «Manchmal haben neue Geschichten ihre Wurzeln in den alten», meinte Banks. «Haben Sie die Ferien hier genossen?»

  «Sie waren jedenfalls eine angenehme Abwechslung. Leeds ist nicht gerade die sauberste Stadt, ich mag die Landschaft und die frische Luft hier.»

  «Da wäre noch etwas... Wie es scheint, war Ihr Mann allgemein beliebt. Selbst Teddy Hackett, der wohl guten Grund hatte, anderer Meinung zu sein, scheint ihn als Freund betrachtet zu haben. Da ich mich nun aber leider mit seinem gewaltsamen Ableben beschäftigen muß, ist mir aufgefallen, daß es zumindest zwei Personen gibt, die anders empfinden - Major Cartwright und Robert Kirk. Beide kann man wohl getrost als harmlose Spinner betrachten, aber sie haben mich immerhin auf die Idee gebracht, daß es vielleicht noch jemand anderen geben könnte, der ähnlich empfindet und von dem ich bislang nichts weiß. Sie waren eine ziemlich kleine und feste Gruppe seinerzeit, vor zehn Jahren, und die Bindung zu Michael Ramsden und Penny Cartwright ist bis zum Tode Ihres Mannes bestehen geblieben. Gab es damals vielleicht noch jemanden in diesem Kreis? Jemanden, der einen versteckten Groll gehegt haben könnte?»

  Emma Steadman schürzte die Lippen und schüttelte bedächtig den Kopf.

  «Denken Sie genau nach.»

  «Das tue ich. Selbstverständlich gab es auch noch andere Leute in unserem Umfeld, aber ich kann mir niemanden vorstellen, der einen Grund gehabt haben könnte, Harold etwas anzutun.»

  «Der springende Punkt ist nur, daß man es dennoch getan hat, Mrs. Steadman, und ich wüßte nicht, wie ich herausfinden sollte, wer das ist, wenn niemand bereit ist, mir dabei zu helfen. Könnten Sie sich möglicherweise einen Grund denken, warum er jetzt sterben mußte und nicht etwa vor zwölf Monaten oder vor fünf Jahren?»

  «Ich habe keine Ahnung.»

  «Sie werden doch vermutlich über seine geschäftlichen Angelegenheiten Bescheid wissen. Hatte er irgendwelche Pläne, was mit seinem Geld passieren sollte? Wollte er ein Testament machen und sein Vermögen beispielsweise dem National Trust oder sonstwem vermachen ? Hat er möglicherweise noch irgendwelchen anderen Leuten - außer Hackett - die Grundstücke abgejagt oder ihnen sonstwie auf die Zehen getreten?»

  «Nein. Zu allen Fragen. Und ein klares Ja zu dem Punkt, daß ich in der Tat Bescheid wußte über diese Dinge.»

  «Nun, dann bleibt ja wohl nicht sehr viel übrig.»

  «Sie glauben, daß es einer von uns getan hat, nicht wahr?»

  Banks blieb stumm.

  «Meinen Sie, daß ich es war? Wegen seines Geldes?»

  «Aber Sie können es nicht gewesen sein, oder?»

  «Sie denken vielleicht, daß Mrs. Stanton gelogen hat, um mir ein Alibi zu verschaffen.»

  «Nein.»

  «Warum sind Sie dann hinter mir her? Schließlich habe ich meinen Mann verloren und ihn erst vor wenigen Tagen begraben müssen.»

  Banks wußte keine Antwort auf diese Frage, weshalb er es vorzog, sich mit einem ratlosen Seufzer zu verabschieden. An der Tür drehte er sich noch einmal um und meinte: «Würden Sie mir den Gefallen tun, noch einmal darüber nachzudenken, ja? Versuchen Sie sich zu erinnern, wen sich Ihr Mann zum Feind gemacht haben könnte, unabhängig davon, wie harmlos und unauffällig sich die betreffende Person seither auch benommen haben mag. Überlegen Sie, ich komme wieder.»

  Penny Cartwright hörte gerade Musik und fand es offenbar überflüssig, die Lautstärke zu drosseln, nachdem sie Banks widerstrebend eingelassen und ihm einen Blick zugeworfen hatte, der ungefähr hieß: «Schon wieder dieser lästige Typ!»

  «Ich werde Sie nicht lange aufhalten», versprach Banks, setzte sich auf einen der steiflehnigen Stühle vor dem Fenster und zündete sich eine Zigarette an. «Nur ein paar Fragen zu diesem Abend neulich.»

  «Welcher Abend? Davon hat's viele gegeben inzwischen», meinte Penny und goß sich einen Scotch ein.

  «Ich spreche vom Freitagabend.»

  «Und? Was ist damit?»

  «Sie haben gesungen, im Dog and Gun, erinnern Sie sich?»

  «Natürlich erinnere ich mich», erwiderte Penny mit einem grimmigen Blick. «Sie waren auch da. Worum geht's denn?»

  «Darum, daß Sie zwischen Ihren beiden Auftritten das Lokal verlassen haben, wenn ich Ihrem Gedächtnis noch einmal kurz auf die Sprünge helfen darf. Zusammen mit Jack Barker und für etwa eine Stunde. Wo waren Sie?»

  «Was hat das mit wem oder was auch immer zu tun?»

  «Hören Sie, es wird Zeit, daß Sie sich endlich klarmachen, wer hier die Fragen stellt. Das bin ich - und Sie sind für die Antworten zuständig. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?»

  «Oh, der arme Inspector Banks», säuselte Penny. «Habe ich etwa Ihre Autorität untergraben?» Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. «Wie lautete doch Ihre Frage?»

  «Freitag abend, in der Pause. Wo waren Sie?»

  «Wir haben einen Spaziergang gemacht.»

  «Wohin?»

  «Oh, von da nach dort.»

  «Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken?»

  «Kaum. Ich gehe oft spazieren, und es gibt viele sehenswerte Wege in und um Helmthorpe. Das ist vermutlich auch der Grund, warum so viele Touristen hierherkommen.»

  «Lassen Sie die Spielchen, und sagen Sie mir endlich, wo Sie hingegangen sind!»

  «Oder was ich sonst getan habe?»

  Nach einem kurzen Blickgefecht schlug sie die Augen nieder und griff nach einer Zigarette.

  «Okay», erklärte sie, «wir sind zu mir gegangen.»

  «Zu welchem Zweck.»

  «Was meinen Sie?»

  «Ein bißchen Sex vielleicht?»

  «Solche Fragen ignoriert die feine Dame. Außerdem hat es nichts zu tun mit Ihrer Untersuchung.»

  Banks beugte sich ein wenig vor und sagte in ruhigem Ton: «Vielleicht interessiert es Sie, zu erfahren, daß ich mir verdammt gut vorstellen kann, warum Sie hier waren. Und ich kenne da ein paar Kollegen in Eastvale, die geradezu darauf brennen, hierherzukommen und sich die Beweise zu holen. Also helfen Sie mir, und Sie helfen sich selbst.»

  «Ich werde nichts zugeben, gar nichts.»

  «Wo waren Sie am Freitag nachmittag um vier?»

  «Zu Hause. Ich habe geübt. Warum?»

  «War sonst noch jemand da?»

  «Nein. Ich pflege allein zu üben.»

  «Haben Sie Anrufe erhalten?»

  Penny blickte verwirrt. «Anrufe? Nein. Worauf wollen Sie hinaus?»

  «Und Sie weigern sich also, mir zu sagen, wo Sie sich am Abend während Ihrer Gesangspause aufgehalten und was Sie dort getan haben, richtig?»

  «Das geht Sie nichts an», antwortete Penny mit mißtrauischem Blick. «Moment mal, ja! Sally... Sally Lumb! Das war doch Freitag, als sie verschwunden ist, stimmt's? Jesus, Sie sind wirklich ein Miststück!» Wütend starrte sie ihn an, Tränen der Empörung in den Augen. «Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß ich etwas damit zu tun haben könnte?»

  «Wo waren Sie?»

  «Warum soll ich Ihnen das sagen, wenn Sie ohnehin schon alles wissen?»

  «Ich will es von Ihnen selbst hören.»

  Resigniert sackte sie in ihrem Stuhl zusammen und wandte den Blick ab. «Okay, wir waren hier und haben uns ein paar Joints reingezogen. Tolle Sache, was? Bitte sehr, nun wissen Sie's. Und was jetzt? Wollen Sie jetzt Ihre Schnüffler kommen lassen und die ganze Bude auseinandernehmen?»

  Banks stand auf. «Keine Sorge, ich werde nichts dergleichen tun. Mir fiel nur der Unterschied auf, zwischen den beiden Auftritten. Sie waren irgendwie distanzierter und seltsam unbeteiligt, als Sie wiederkamen. Und falls es Sie trösten sollte», erklärte er und öffnete die Tür, «ich glaube Ihnen, und ich bin froh, daß ich recht hatte.»

  Er wartete noch einen Moment, aber Penny blieb stumm und machte auch sonst keinerlei Anstalten, ihm den Abgang zu erleichtern.

 

* IV

 

Später, als sie längst im Bett lag und auf den Schlaf wartete, kamen die Bilder wieder. All diese Bilder, die sie heimsuchten, seit Harold Steadman gestorben war. Die vielen Sommer, die so weit zurücklagen. Die so idyllisch gewesen waren und so unschuldig. Zumindest hatte alles so ausgesehen.

  Zehn Jahre war das her, und sie hatte nie einen Grund gesehen oder die Neigung verspürt, über diesen Lebensabschnitt nachzudenken. Es war wie ein Stück verklärter Kindheit, die man sich erst wieder zurückholte, wenn man alt war und dem Ende nahe. Ihr Leben war zu turbulent gewesen, zu aufregend, und als schließlich alles zusammengebrochen war, hatte sie alles andere als Sommeridyllen im Kopf gehabt. Dieses frühere Leben schien nicht ihr eigenes zu sein, sondern einer fremden Person anzugehören. Dann war sie zurückgekehrt, nach Helmthorpe, wo sie sich alle wiedergefunden hatten. Und nun war Harold tot, und dieser gräßliche Kripomensch schnüffelte überall herum, stellte lästige Fragen und wirbelte die Erinnerungen hoch wie die anbrandende Flut den Meeresgrund.

  Und so ließ sie alles wieder Revue passieren, sah sich erneut über den Pennine Way nach Wensleydale wandern oder in Harolds altem Morris 1100 sitzen auf der Fahrt nach Richmond oder zum Lake District. Die Bilder zogen vorbei wie in einem verblichenen Film, in dem sie Dinge erblickte, die sie nie zuvor bemerkt hatte - Nichtigkeiten, vage und verschwommen nur, aber doch seltsam beunruhigend. Und je mehr sie nachdachte, desto weniger gefiel ihr, was sie da sah...

  Ruhelos wälzte sie sich hin und her und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Es waren Träume, böse Träume, weiter nichts. Die Wahrheit war rein, so rein und keusch, wie sie sie in ihrer Erinnerung zurechtgebogen hatte. Ja, so mußte es gewesen sein. Das Problem war nur, daß diese Träume ihr mit einemmal so viel realer erschienen und sich einfach nicht abschütteln ließen. Sie mußte endlich zur Ruhe kommen, mußte herausfinden, was Wirklichkeit war und was Phantasie. Wie war es bloß möglich, daß die Vergangenheit, all diese Dinge, die doch wirklich passiert waren, plötzlich so diffus wurden, so anders?

  Während der Schlaf sie langsam davontrug, lag sie da und grübelte, was sie tun sollte, nun, da sich alles verändert hatte.