Um fünf Minuten vor fünf bog Banks in die Einfahrt, ließ den Wagen in der tiefen Fahrrinne stehen und legte die restlichen Meter zu dem breiten, geduckt daliegenden Steinbau zu Fuß zurück. Gristhorpe wohnte auf einem abgelegenen Bauernhof am Nordhang des Tals, oberhalb des Dörfchens Lyndgarth und auf halber Strecke zwischen Eastvale und Helmthorpe. Der Hof wurde nicht mehr bewirtschaftet, doch der Superintendent hatte einige Hektar Land für den Gemüseanbau behalten. Seit dem Tod von Mrs. Gristhorpe, fünf Jahre zuvor, lebte er allein und hatte eine Frau aus dem Dorf angestellt, die jeden Morgen nach oben kam, um nach ihm «zu sehen».
Das Gebäude war für Banks' Geschmack ein wenig zu streng und nüchtern, allerdings geradezu ideal an die Umgebung angepaßt. Und das Innere von Gristhorpes Festung war zweifellos ebenso freundlich und gemütlich wie der Besitzer selbst.
Banks klopfte an die schwere Eichentür. Das dumpfe Echo hallte überraschend laut durch die tiefe Stille der Landschaft, aber niemand öffnete. Sicher nutzte Gristhorpe das schöne Wetter und war hinten in seinem Garten.
Er wanderte um das Haus herum zur Rückseite und fand den Superintendent gebückt über einem Haufen Steine. Offensichtlich war er dabei, seinen Steinwall auszubauen. Als er Banks' Schritte hörte, stand er auf, wandte sich hochroten Gesichts um und sagte: «Oh, ist es schon so spät?»
«Fast fünf», antwortete Banks. «Ich bin wohl ein paar Minuten zu früh dran.»
«Hmm... mir scheint, ich verliere hier oben jedes Zeitgefühl. Aber setzen Sie sich doch.» Damit deutete er einladend auf das struppige Gras neben den Steinen. In Hemdsärmeln, das obligate HarristweedJackett zu seinen Füßen, die wallende Silbermähne leicht zerzaust von einer sanften Brise und das rote, pockennarbige Gesicht mit dem über die Oberlippe wuchernden Schnurrbart zu einem Grinsen verzogen, stand er da und schaute auf Banks hinunter. Das Auffallendste an Gristhorpes Erscheinung - was sowohl seine Mitarbeiter als auch die Delinquenten gelegentlich aus der Fassung brachte - waren jedoch die tief unter den buschigen Brauen liegenden Augen. Sie waren von einem klaren, kindisch-unschuldigen Blau, das nicht so recht zu seiner hochgewachsenen Ringer-Figur paßte und in dem Ruf stand, schon den hartgesottensten Verbrechern ein Geständnis entlockt und zahllosen kleinen Ganoven die Schamröte ins Gesicht getrieben zu haben, wenn er sie bei falschen Zeugenaussagen oder übereifrigen Ausschmückungen im Verhör ertappt hatte. Wenn die Welt jedoch in Ordnung war, wie an diesem klaren und heiteren Tag, dann leuchteten diese Augen in einer sanften Liebe zum Leben und in einem warmen, menschlichen Mitgefühl, das selbst einem Buddha zur Ehre gereicht hätte.
Banks ließ sich für eine Weile nieder und half Gristhorpe beim Bau des Steinwalls, einem Projekt, das der Superintendent im Sommer zuvor begonnen hatte und das keinen besonderen Zweck verfolgte. Anfangs hatte auch Banks gelegentlich versucht, den einen oder anderen Stein in eine Lücke zu stopfen, allerdings verkehrt herum, so daß das Regenwasser hätte eindringen, sich bei Frost ausdehnen und die Mauer zum Einsturz bringen können. Oft hatte er auch einfach die falschen Stücke erwischt, die nicht in die Lücken passen wollten. Inzwischen hatte er allerdings dazugelernt und fand die Beschäftigung mit diesem Wall - ähnlich wie Gristhorpe - mindestens so entspannend und erholsam wie das Spiel mit der Modelleisenbahn, und allmählich hatte sich zwischen den beiden Männern eine Art stilles Einverständnis darüber entwickelt, welcher Stein geeignet war und wer ihn in der passenden Lücke plazierte.
So vergingen etwa fünfzehn Minuten, bis Banks schließlich das Schweigen brach. «Vermutlich wissen Sie schon, daß man in der vergangenen Nacht eine von diesen Mauern abgeräumt hat, um eine Leiche unter den Steinen zu verstecken?»
«Aye», antwortete Gristhorpe, «hab davon gehört. Kommen Sie, Alan, geh'n wir rein, ich mach uns eine Kanne Tee. Wenn ich mich nicht täusche, gibt's auch noch ein paar Reste von Mrs. Hawkins berühmten Scones.» Er sprach das Wort «Scones» mit einem deutlichen «on» aus statt des «own» der Leute aus dem Süden.
Sie setzten sich in die tiefen, abgewetzten Sessel, und Banks ließ seine Augen über die Bücherregale schweifen, die sich deckenhoch über eine ganze Wand erstreckten und zu jedem Thema etwas enthielten. Es gab Bücher über Sagen und Märchen, über Geologie, Kriminologie, Topographie und Botanik, historische Wälzer und Reisebeschreibungen. Daneben ganze Borde mit ledergebundenen Klassikern von Homer, Cervantes, Rabelais und Dante bis zu Woodsworth, Dickens, James Joyce, W. B. Yeats und D. H. Lawrence. Auf dem Tisch lag der Titel «Stolz und Vorurteil» von Jane Austen, und die Position des Lesezeichens ließ erkennen, daß Gristhorpe nur noch wenige Seiten zu bewältigen hatte. Man sollte mehr lesen, ermahnte sich Banks, wie bei jedem Besuch in diesem Haus.
Gristhorpes Büro in Eastvale sah nicht viel anders aus: Bücher, wohin man schaute, und keineswegs nur Fachliteratur. Er entstammte einer alteingesessenen, großbäuerlichen Familie aus den Dales und hatte wenig Beifall gefunden für seinen Entschluß, nach Studium und Army in die Dienste der Polizei zu treten. Trotzdem hatte er sich nicht von seiner Berufswahl abbringen lassen und in seiner dienstfreien Zeit tatkräftig auf dem Hof mitgeholfen. Als sein Vater merkte, daß ihm die Anstelligkeit seines Sohnes und dessen angeborene Fähigkeit zu harter Arbeit äußerst nützlich waren, gab er den Widerstand allmählich auf und akzeptierte die neue Situation. Am Ende war der einst stattliche Hof zwar zu seinem Leidwesen auf die Größe eines besseren Gemüsegartens geschrumpft, doch der Stolz auf den beruflichen Erfolg seines Sohnes und der damit auch für ihn verbundene Status hatten den Verlust gemildert und ihn ohne Bitterkeit sterben lassen.
Banks wußte diese Dinge aus Gristhorpes Erzählungen anläßlich ihrer häufigen privaten Treffen, die gewöhnlich im Anschluß an das Steinwallbauen über einem Glas guten alten Single Malt Whiskys stattfanden. Die Offenheit des älteren Kollegen, zusammen mit den praktischen Ratschlägen, die er ihm verdankte, gaben Banks immer das Gefühl, eine Art Lehrling oder Schützling zu sein. Auf dieser Basis hatte sich ein zunehmend vertrautes Verhältnis zueinander entwickelt, seit Banks den Posten bei der Northern Police übernommen und mit dem Fall des <Peeping Tom> seinen unerwartet dramatischen Einstand gegeben hatte. Als Banks nun von Steadman berichtete, hoffte er, daß sich auch in diesem Fall durch das Gespräch nützliche Hinweise ergeben würden.
«Wird nicht leicht sein», meinte Gristhorpe nach einem kurzen Schweigen. «Wirklich nicht leicht, würd ich sagen. Schon allein wegen der unzähligen Camper und Touristen, die man in Betracht ziehen muß. Geradezu ideale Voraussetzungen für einen möglichen Feind. Soweit ich weiß, gibt's keine Gästebücher auf diesen Campingplätzen. Es genügt, wenn man seine Platzmiete abliefert.» Er knabberte an seinem Biskuit und spülte ihn mit starkem, schwarzem Tee hinunter. «Natürlich kann es auch jemand ganz aus der Nähe gewesen sein. Sieht nicht so aus, als hätten wir viele Spuren in der Hand, oder? Möglicherweise hat jemand den Wagen gehört, aber ich möchte stark bezweifeln, daß er sonderlich darauf geachtet hat. Ich kenne die Straße. Sie zieht sich hoch bis in den Nordosten nach Sattersdale. Wie dem auch sei, ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, wie Sie Ihren Job zu machen haben, Alan. Als erstes werden Sie wohl sehen müssen, daß Sie soviel wie möglich über diesen Steadman erfahren. Über seine Freunde, seine Feinde, seine Vergangenheit und das alles. Hören Sie sich im Dorf um, reden Sie mit den Leuten, und überlassen Sie den Routinekram Ihren Leuten.»
«Aber ich bin ein Fremder», wandte Banks ein, «und ich werd es immer bleiben für die Leute hier. Ich sehe aus wie ein Zugereister, und ich rede wie ein Zugereister. Man wird mir also kaum besonders viel anvertrauen.»
«Das ist Unsinn, Alan. Sehen Sie die Dinge doch einmal von einer anderen Warte. Also, Sie sind fremd hier in Helmthorpe, richtig?» Banks nickte. «Mit anderen Worten: Die Leute werden Sie sofort wahrnehmen und bald allesamt wissen, wer Sie sind. Man wird Sie wohl kaum für einen Touristen halten, danach sehen Sie nicht aus. Statt dessen sind Sie so etwas wie eine Berühmtheit - zumindest für diejenigen, die die Zeitung lesen. Das wird die Leute neugierig machen, sie werden wissen wollen, was das für ein Mensch ist, dieser Bulle, und was er sich so denkt. Sie werden sich garantiert noch wundern, was man Ihnen alles erzählt, nur, um dahinterzukommen, wie Sie wohl reagieren.» Er kicherte leise. «Zum Schluß werden Sie sich noch vorkommen wie ein Beichtvater.»
Banks lächelte. «Ich bin Protestant.»
«Ah. Wir sind hier allesamt Methodisten oder Baptisten», erklärte Gristhorpe, «aber dabei mehr oder weniger vom Glauben abgefallen, und die meisten dieser verrückten Sekten - Ihre Sandemanians zum Beispiel - haben sich hier wieder davongemacht.»
«Hoffentlich wird nicht auch erwartet, daß ich mich wie ein echter Priester an das Beichtgeheimnis halte.»
«Gott behüte, nein!» ereiferte sich Gristhorpe. «Ich will über alles informiert werden. Sie haben ja keine Ahnung, wie lange ich schon auf eine Gelegenheit warte, etwas von unserem Dorfklatsch zu erfahren! Aber mal im Ernst, Alan - Sie verstehen doch sicher, was ich meine. Denken Sie zum Beispiel an Weaver. Er ist zweifellos ein netter junger Bursche. Vertrauenswürdig, kompetent und das alles - aber für die Leute hier gehört er eben zum Inventar und ist ungefähr so spannend wie ein verregneter Sonntag. Wenn ich's mir recht überlege, ist der Vergleich etwas unpassend für eine Gegend wie diese, aber Sie verstehen, was ich sagen will, nicht wahr? Die Hälfte der Frauen hier hat ihm die Windeln gewechselt, als er noch ein Knirps war, und die Mehrzahl der Männer hat ihm schon mal eins hinter die Löffel gegeben. Kein Mensch wird ihm irgendwas sagen oder sich ihm gar anvertrauen, weil für niemanden was dabei rumkommt. Bei Ihnen ist das anders. Sie sind neu hier, exotisch geradezu und der ideale Beichtvater.»
«Hoffen wir, daß Sie recht haben», meinte Banks und trank seinen Tee aus. «Ich hatte ohnehin schon daran gedacht, heute abend mal ins Bridge reinzuschauen. Weaver hat mir erzählt, daß Steadman dort verkehrte und mit ein paar anderen Stammgästen befreundet war.»
Gristhorpe kratzte sich das narbige rote Kinn, und seine buschigen Augenbrauen wuchsen zu einer tiefen Denkerfurche zusammen.
«Gute Idee», meinte er. «Könnte mir vorstellen, daß es heute hoch hergeht. Gute Gelegenheit also, irgendwas aufzuschnappen. Bestimmt weiß inzwischen jeder, wer da umgebracht wurde, und vielleicht hat auch jemand eine Ahnung, wer es getan hat. Ist dieser Barker übrigens einer von Steadmans Zechgenossen?»
«Ja. Jack Barker, dieser Schriftsteller.»
«Schriftsteller, daß ich nicht lache!» Gristhorpe erstickte fast an seinem Kuchenbissen. «Nur weil er viel Geld macht mit seinen billigen Romanen, heißt das noch lange nicht, daß er Schriftsteller ist! Wie dem auch sei, keine schlechte Idee, den Herren mal auf den Zahn zu fühlen, auch wenn dabei auf den ersten Blick vielleicht nicht viel rauskommt. Wie spät ist es eigentlich?»
«Zehn vor sechs.»
«Wie wär's mit Abendessen?»
«Gerne. Wann immer Sie wollen.» Banks hatte seinen Hunger inzwischen fast vergessen.
«Es gibt nichts Besonderes», verkündete Gristhorpe, bereits auf dem Weg zur Küche. «Nur etwas Salat und einen Rest Roastbeef.»
Sally und Kevin legten die letzten Meter zum Ross Ghyll im Laufschritt zurück und stürzten keuchend zu Boden. Sie waren dem Lauf eines der zahllosen Wildbäche gefolgt, die sich vom Südhang der Bergkette hinunter zum Swain schlängelten, und befanden sich nun an der Quelle, hoch oben auf dem Tetchley Fell.
Als sie wieder zu Atem gekommen waren, nahm Kevin sie in die Arme und gab ihr einen Kuß. Seine Zunge schob sich tief in ihren Mund, und sie sanken eng umschlungen in das fahle, federnde Gras. Er streichelte ihre Brüste, bis er spürte, wie sich die Brustwarzen unter dem dünnen Baumwollstoff verhärteten, und ließ seine Hand langsam nach unten zwischen ihre Beine gleiten. Sally fühlte, wie sie vor Erregung zitterte, als sich die dicke Naht der Jeans gegen ihr Geschlecht preßte, aber sie war nicht ganz bei der Sache. Kurz entschlossen befreite sie sich aus seiner Umarmung und setzte sich auf.
«Ich geh hin und sag es der Polizei», erklärte sie.
«A-aber, wir...»
Sie lachte und gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. «Das doch nicht, du Dummer. Ich meine, was letzte Nacht passiert ist.»
«Aber dann wissen sie doch auch Bescheid über uns», protestierte er. «Bestimmt erzählen sie das sofort weiter.»
«Blödsinn, warum sollten sie? Ist doch rein vertraulich, wie bei den Katholiken in der Beichte, verstehst du? Außerdem», fügte sie hinzu und zwirbelte gedankenvoll eine Haarsträhne zwischen ihren schmalen Fingern, «außerdem wissen meine Eltern sowieso Bescheid, daß wir zusammen waren. Ich hab ihnen gesagt, daß wir bei dir zu Hause waren und einfach nicht auf die Zeit geachtet haben.»
«Ich meine ja nur, wir sollten uns da nicht einmischen, das ist alles. Schließlich kann es ganz schön gefährlich sein, wenn man Zeuge ist.»
«Sei nicht albern. Ich find das aufregend, echt.»
«Das kann ich mir vorstellen. Und was ist, wenn der Killer nun meint, wir hätten tatsächlich was gesehen?»
«Weiß doch keiner, daß wir da oben waren. Schließlich hat uns niemand gesehen.»
«Woher willst du das wissen?»
«Immerhin war's dunkel, und wir waren zu weit weg.»
«Er könnte dich ja zufällig beobachten, wie du zur Polizei gehst.»
Sally lachte. «Dann werd ich mich eben verkleiden. Also, ich finde echt, daß du übertreibst. Es gibt überhaupt keinen Grund, vor irgendwas Angst zu haben.»
Kevin verstummte. Er fühlte sich ausgepunktet, wie schon so oft, und das auch noch von einem Mädchen.
«Wenn's dich beruhigt, dann sag ich eben nicht, wer du bist», versicherte ihm Sally. «Ich behaupte einfach, daß ich mit einem Freund zusammen war und seinen Namen nicht angeben möchte. Und daß wir uns unterhalten haben.»
«Unterhalten?» lachte Kevin und packte sie. «So nennst du das also.»
Sally kicherte verlegen. Seine Hand wanderte wieder zu ihren Brüsten, aber sie schob ihn fort, stand mit einem Ruck auf und klopfte sich das Gras von den Jeans.
«Komm schon, Sally», bettelte er, «du willst es doch. Genau wie ich.»
«So? Glaubst du das?»
«Ja.» Er versuchte, ihren Knöchel zu packen, aber sie wich geschickt zur Seite.
«Schon möglich», gab sie zu, «aber jetzt nicht. Schon gar nicht mit jemandem, der sich schämt zuzugeben, daß er letzte Nacht mit mir zusammen war. Außerdem muß ich jetzt nach Hause. Mein Dad bringt mich um, wenn ich zum Tee nicht zurück bin.» Damit war sie auf und davon wie der Wind. Seufzend rappelte sich Kevin auf und trottete hinter ihr her.
«Wenn Sie jemandem eins über den Kopf geben, Doc», erkundigte sich Jack Barker, «wird das Blut dann herausschießen aus dem Schädel, wird es fließen oder einfach nur tröpfeln?»
«Eine ziemlich geschmacklose Frage, wie die Dinge liegen», meinte Barnes.
Barker griff nach seinem Bierglas. «Ich muß das wissen, für mein Buch.»
«Wenn das so ist, kannst du ja getrost auf Genauigkeit verzichten. Nimm einfach das brutalste Wort, das dir gerade einfällt. Deine Leser wissen schließlich auch nicht mehr als du.»
«Irrtum, Doc. Du solltest mal die Briefe lesen, die mir manche schreiben. Offenbar gibt es eine Menge Leser mit einem ausgeprägten Sinn fürs Makabre. Wußtest du zum Beispiel, daß sich viele dieser netten alten Damen geradezu festbeißen an den unappetitlichen gerichtsmedizinischen Details?»
«Nein, und ich will es auch gar nicht wissen. Mir reicht das Blut, das ich bei der Arbeit zu Gesicht kriege, und ich finde es nach wie vor geschmacklos von dir, solche Sachen zu sagen, solange der arme alte Harry noch nicht mal unter der Erde ist.»
Es war noch früh am Abend, und Barnes und Barker waren bislang die einzigen, die sich in der Stammtischecke eingefunden hatten.
«Früher oder später erwischt es uns alle, Doc», entgegnete Barker. «Du müßtest das doch am besten wissen. Schließlich hast du selbst genügend Toten dazu verholfen, ihre sterbliche Hülle abzustreifen.»
Barnes warf ihm einen finsteren Blick zu. «Wie kannst du bloß so verdammt schnoddrig sein? Herrgott, Jack, du solltest wenigstens ein bißchen den Anstand wahren. Immerhin wirst selbst du zugeben müssen, daß sein Tod etwas verfrüht war.»
«Sein Mörder wird das vermutlich anders gesehen haben.»
«Wirklich, ich begreife dich nicht, Jack. Nicht in einer Million Jahren ...» Barnes seufzte in sein Bier. «Aber ich vergesse immer, daß du ständig über solche Sachen schreibst.»
«Es ist nur der Schock», erklärte Barker und griff nach einer Zigarette. «Ob du's mir nun glaubst oder nicht, aber ich war noch nie Zeuge bei irgendeinem Mord, über den ich geschrieben habe. Und ich hab auch noch nie meinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt, wie du selbst weißt.» Er fuhr sich mit der Hand über das glatt zurückgekämmte Haar. «Du hast vollkommen recht, es ist wirklich eine verdammt traurige Angelegenheit. Ich weiß, wir haben den armen Kerl immer aufgezogen mit seinen rostigen Nägeln und seinen antiken Bleiklumpen, aber jetzt wird er mir bestimmt fehlen.»
Barnes würdigte den Nachruf mit einem kurzen Nicken.
«Hat die Polizei schon mit dir gesprochen?» erkundigte sich Barker.
Die Frage schien den Doktor zu überraschen. «Mich? Meine Güte, nein! Warum sollte sie?»
«Ach, nun tu nicht so, Doc. Jeder weiß doch, daß du ein großer Medikus bist, eine Stütze der Gesellschaft und dieser ganze Mist. Aber das rührt die Kerle von der Kripo herzlich wenig, mein Alter. Außerdem ändert es nichts an der Tatsache, daß du letzte Nacht hier mit uns zusammengesessen hast, aber früher als sonst verschwunden bist.»
«Du glaubst doch nicht etwa, daß die Polizei...», ereiferte sich Barnes, entspannte sich dann wieder und murmelte vor sich hin: «... sicher, sie müssen natürlich sämtliche Aspekte überprüfen. Jeden Stein umkehren, von unten nach oben.»
«Laß die Platitüden», sagte Barker, «das tut ja weh.»
«Ich wüßte nicht, warum», schnaubte Barnes, «schließlich schreibst du doch selbst kaum was anderes.»
«Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man diese Klischees gebraucht, um die Wünsche des Publikums zu befriedigen und den Verlegern den Stoff zu geben, für den sie zahlen, oder ob man sie in intelligenter Gesellschaft vom Stapel läßt. Aber wie dem auch sei - du wirkst besorgt, Doc. Wessen Leiche hast du denn in deinem Keller vergraben?»
«Laß den Unsinn», sagte Barnes, «ich finde das alles gar nicht zum Lachen. Schließlich ist er wirklich tot, der arme Harry, und du weißt verdammt gut, wo ich gestern abend hin mußte. Mrs. Gaskells Kind ist schon eine Woche überfällig, und ich mache mir, offen gestanden, allmählich Sorgen.»
«Demnach kann sie dir also ein Alibi geben?»
«Natürlich kann sie das, falls es überhaupt dazu kommt. Aber was sollte ich eigentlich für einen Grund haben, dem guten Harry nach dem Leben zu trachten?»
«Oh, stille Wasser sind dunkel und tief», meinte Barker, die blumige Redeweise des Doktors nachahmend.
In diesem Augenblick betrat Teddy Hackett die Szene, von Kopf bis Fuß ganz der umtriebige Unternehmer. Er war stets mächtig herausgeputzt, trug wahlweise Hemden mit Monogramm oder Krokodilemblemen auf der Brusttasche, dazu eine protzige Goldkette und teure Designer-Jeans. Offensichtlich versuchte er, sich jünger zu machen, als er war, trotz schütter werdenden dunklen Haares und der stattlichen Wampe, die ihm über den Gürtel hing und die schwere, handgeschmiedete Silberschnalle mit dem Löwenkopf fast vollständig verdeckte.
Wenn Hackett nicht gerade Geld machte oder es mit seinen Kumpels vor Ort vertrank, pflegte er es in die Nachtklubs von Leeds, Darlington oder Manchester zu tragen und in jede einigermaßen attraktive junge Frau zu investieren, die ihm über den Weg lief. Das war allgemein bekannt. Ebenso wie die Tatsache, daß er recht wohlhabend war - mit einer Tankstelle und diversen Souvenirläden - und einen Blick hatte für Marktlücken. Er war der Typ des Unternehmers, der - wenn man ihm freie Hand ließ - ohne Bedenken das gesamte Tal aufgekauft und in einen gigantischen Rummelplatz verwandelt hätte.
«Mist, verdammter», schimpfte er, während er sich mit einem schäumenden Bier in der Hand auf seinem Stuhl niederließ. «Schöne Bescherung, was?»
Barnes nickte, und Barker drückte seine Zigarette aus.
«Irgendwas Näheres gehört?» erkundigte sich Hackett.
«Nicht mehr als die andern auch, würd ich sagen», meinte Barker. «Aber der Doc kann uns bestimmt weiterhelfen, nach der Autopsie.»
Barnes errötete vor Ärger. «Jetzt reicht's aber, Jack!» schnaubte er. «Das ist streng vertraulich. Außerdem ist Glendenning dafür zuständig, der Gerichtspathologe in Eastvale. Die können von Glück sagen, daß sie ihn haben. Guter Mann, einer der besten überhaupt, wie ich gehört habe.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Würde mich nicht wundern, wenn er schon dabei wäre. Angeblich ist er mordsmäßig schnell.» Er stockte beschämt, als ihm seine unpassende Wortwahl bewußt wurde, und fuhr hastig fort: «Wie dem auch sei, ihr könnt sicher sein, daß bei der Sache nicht viel rauskommt.»
«Wie bei dem Tripper, den sich die kleine Joanie Lomax neulich eingefangen hat?»
«Jetzt gehst du aber wirklich zu weit, Jack. Ich weiß, du bist genauso betroffen wie wir. Warum kannst du das nicht einfach zugeben, statt dich aufzuführen wie eine Operettendiva, die auf ihre Premierenkritiken wartet?»
Barker rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
«Hat man hier schon jemanden vernommen?» fragte Hackett.
Seine Tischgenossen schüttelten den Kopf.
«Ich meine nur, weil ich diesen Kripomenschen gesehen habe. Ich bin sicher, daß ich ihn erkannt habe. Von diesem Foto in unserem Wurstblatt, letzten Herbst. Er steht da drüben an der Bar.»
Alle wandten den Kopf und sahen Banks am Tresen stehen, das Bein auf die Fußschiene gestützt und friedlich an seinem Bier nippend.
«Das ist er», bestätigte Barker. «Hab ihn heute morgen gesehen, als er bei Emma aus der Tür kam. Warum bist du denn so nervös, Teddy? Hast du was zu verbergen?»
«Nein, natürlich nicht. Aber schließlich waren wir gestern noch hier und mit ihm zusammen, nicht wahr? Die werden uns doch bestimmt danach fragen wollen. Überhaupt komisch, daß sie's nicht schon getan haben.»
«Du bist doch kurz nach Harry gegangen, stimmt's?» fragte Barker.
«Richtig. Es war schließlich Samstag, und ich mußte nach Darlington, zur Eröffnung von Freddys neuem Klub. Toller Abend, muß ich sagen. Echt heiße Puppen in dem Laden, Jack. Warum kommst du nicht mal mit? Ein attraktiver Junggeselle wie du sollte sehen, daß ein bißchen mehr rumkommt.»
«Ach, ich hab was Besseres zu tun mit meiner Zeit», meinte Barker kopfschüttelnd, «als mich mit irgendwelchen Flittchen in Discos rumzutreiben, alter Knabe. Das Leben eines Schriftstellers...»
«Du kannst mich mal mit deinem Schriftsteller!» verkündete Hackett. «Den Mist, den du da verkaufst, kotz ich doch in der Kaffeepause aus.»
Barker hob eine Augenbraue und grinste. «Mag sein, Teddy, aber du tust es nicht, oder? Das ist eben der Unterschied. Im übrigen sollst du ja sogar eine Sekretärin mit einem Magister in Englisch angeheuert haben, damit sie deine Geschäftsbriefe in eine vernünftige Form bringt.»
«Aber für deine Sorte Arbeit würde mein Englisch dicke reichen. Außerdem haben deine wilden Phantasien in einem Geschäftsbrief nichts zu suchen, wie du weißt. Kurz und sachlich, das ist die Devise.»
«Genau das haben die Kritiker über mein letztes Buch gesagt», seufzte Barker. «Wenn auch vielleicht mit etwas weniger Worten.»
Selbst Doc Barnes konnte nicht umhin, über diese Bemerkung zu lachen.
Damit war die obligate Begrüßungsfrotzelei beendet, und die drei Männer verstummten, als sei damit der Normalität Genüge getan. Sie hatten geplaudert und gescherzt wie gewohnt, um die Leere zu füllen, die Harry hinterlassen hatte, um sich den Anschein zu geben, als habe sich nichts geändert, als habe etwas so Brutales und Endgültiges wie ein Mord nie stattgefunden und den friedlichen kleinen Kreis gestört.
Nach einer Weile erbot sich Barker, eine neue Runde zu besorgen, und stellte sich neben Banks an die Theke. «Entschuldigen Sie», sprach er ihn an, «sind Sie nicht der Inspector, der den Tod von Harry Steadman untersucht?» Als Banks nickte, streckte Barker die Hand aus und sagte: «Ich bin Jack Barker, ein Freund von Harry.»
Banks bekundete sein Beileid.
«Wissen Sie», fuhr Barker fort, «wir haben uns gerade überlegt - ich will sagen, wir waren nämlich alle seine Kumpel und gestern abend noch mit ihm zusammen - vielleicht haben Sie Lust, sich zu uns zu setzen, drüben am Stammtisch? Wäre jedenfalls weitaus bequemer und praktischer, als uns einzeln aufs Präsidium zu schleppen und dort zu befragen.»
Banks lachte und nahm das Angebot an. «Ich muß mir allerdings das Recht vorbehalten», fügte er, halb im Scherz, hinzu, «Sie doch noch abschleppen zu dürfen, wenn ich es für nötig halte.»
Er hatte ohnehin vorgehabt, die Herren an ihrem Tisch aufzusuchen, und einstweilen den Vampir gespielt, der das Zimmer seines Opfers nur auf ausdrückliche Einladung aufsucht. Erfreulicherweise schien der kleine Trick geklappt zu haben. Vielleicht war doch etwas dran an Gristhorpes Empfehlung; jedenfalls schien die Neugier der Herren die Oberhand gewonnen zu haben.
Barker wirkte recht zufrieden, ihn an den Tisch gelotst zu haben, die beiden andern schienen sich hingegen etwas unbehaglich zu fühlen. Banks wußte aus Erfahrung, daß er dieser Reaktion keine allzu große Bedeutung beimessen durfte. Das Auftreten der Polizei verursachte stets eine gewisse Spannung.
Auf die Begrüßung folgte zunächst angespanntes Schweigen, und Banks fragte sich bereits, ob man wohl von ihm erwartete, daß er sein Notizbuch zückte und ein offizielles Verhör eröffnete. Statt dessen stopfte er gemütlich seine Pfeife und musterte seine Tischgenossen. Barker wirkte glatt und zuvorkommend wie ein Filmstar aus den vierziger Jahren. Barnes war ein kleiner glatzköpfiger Mann mit dicker Brille und dem schäbigen Aussehen eines Kurpfuschers, der im Hinterzimmer heimlich abtreibt. Hackett wirkte ausgesprochen großspurig und war schließlich derjenige, der das Gespräch, sichtlich nervös, eröffnete.
«Wir sprachen gerade über Harry», erklärte er. «Schlimme Sache. Kann mir gar nicht vorstellen, wer so was macht.»
«Darf ich annehmen, daß Sie alle so empfinden?» fragte Banks, den Blick angelegentlich auf seine Pfeife gerichtet.
Die Herren gaben ein zustimmendes Murmeln von sich. Schließlich zündete sich Hackett eine seiner amerikanischen Zigaretten an und sprach: «Die Sache ist die - der alte Harry war vielleicht 'n bißchen verrückt, so 'ne Art zerstreuter Professor, und ich gebe ja zu, daß wir ihn ab und an ein bißchen auf den Arm genommen haben, aber das war nie ernst gemeint. Er war wirklich ein feiner Kerl, immer freundlich und sogar richtig gutmütig. Hatte mächtig was im Kopf - und 'ne scharfe Zunge, wenn's drauf ankam -, aber herzensgut dabei. Konnte keiner Menschenseele was Böses tun. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was jemanden auf die Idee gebracht hat, ihn umzubringen.»
«Offenbar gibt es jemanden, der da anderer Ansicht ist», meinte Banks. «Wie ich hörte, hat er eine Menge Geld geerbt.»
«Etwas mehr als 'ne Viertelmillion. Sein Vater war wohl Erfinder. Hat sich ein paar von seinen Ideen patentieren lassen und eine Fabrik aufgemacht. Lief hervorragend, der Laden. Wird wohl jetzt die Frau erben, oder?»
«Normalerweise schon. Was halten Sie von Mrs. Steadman?»
«Ich kann nicht behaupten, sie besonders gut zu kennen», antwortete Hackett. «Sie kam nur selten mit hierher. Scheint aber ganz in Ordnung zu sein, jedenfalls hat sich Harry nie beklagt.»
Barnes nickte zustimmend.
«Ich kann leider auch nicht mehr dazu sagen», meinte Barker, «obwohl ich sie eigentlich etwas besser kennen müßte als die beiden. Schließlich waren wir fast Nachbarn, da oben in Gratly, aber sie ist mir nicht weiter aufgefallen. Schien sich nicht besonders zu interessieren für Harrys Arbeit und hat sich immer im Hintergrund gehalten. Ist aber bestimmt nicht dumm und weiß, wie man ein gutes Abendessen kocht.»
Banks bemerkte, daß Barker über die Schulter zur Theke schaute. Als er sich umdrehte, um festzustellen, was dort Spannendes zu entdecken war, konnte er gerade noch einen letzten Blick auf eine junge Frau mit glänzendschwarzem, taillenlangem Haar erhaschen. Sie trug einen blauen Schal über einer weißen, seidig schimmernden Bluse und einen langen, lose schwingenden Rock, der die schmale Taille betonte und sich weich um die wohlgerundeten Hüften legte. Sie war eben im Begriff, das Lokal zu verlassen, und von ihrem Gesicht war nur das Profil zu erkennen. Es sah vielversprechend aus mit den ausgeprägten, hohen Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase einer nordamerikanischen Indianerin. Halb verdeckt von ihrem langen Haar, blitzte in der Biegung ihres langen Halses eine silberne Mondsichel auf.
«Wer ist das?» erkundigte er sich bei Barker.
«Oh, Sie haben sie also bemerkt.» Barker lächelte. «Das ist Olicana.» Er sprach die fremdartigen Silben langsam und betont deutlich.
«Olicana?»
«Ja - zumindest hat Harry sie immer so genannt. Allem Anschein nach eine Abwandlung von Ilkley, wie die alten Römer ihren genius loci bezeichnet haben. Ihr richtiger Name lautet Penny Cartwright. Klingt weitaus weniger exotisch, wie?»
«Was war mit dem gestrigen Abend?» fragte Banks so plötzlich, daß Barker regelrecht zusammenfuhr. «Verlief er normal für Ihre Begriffe?»
«Ja», antwortete Barker. «Harry war auf dem Weg nach York und hat vorher noch eben was mit uns getrunken.»
«Mehr als sonst?»
«Eher weniger, weil er noch fahren mußte.»
«Wirkte er vielleicht ungewöhnlich erregt oder besorgt?»
«Nein.» Barker hatte offensichtlich die Rolle des Sprechers übernommen. «Er stand eigentlich immer ein bißchen unter Strom durch seine Arbeit - wegen irgendeines verrosteten Nagels oder eines alten Wagenrads.»
«Ein verrosteter Nagel?»
«Ja, so haben wir das immer genannt. Er hat sich mit Industriearchäologie beschäftigt. Die technischen Denkmäler, das war seine große Leidenschaft. Und die Funde aus der Zeit der alten Römer.»
«Ich verstehe. Wie ich hörte, wollte Mr. Steadman heute nach Swaledale, um eine stillgelegte Bleimine zu besichtigen. Wissen Sie etwas darüber?»
«Ich glaube, er hat so etwas erwähnt, ja. Aber wir haben immer versucht, ihn zu stoppen bei seiner Fachsimpelei. Ist nicht jedermanns Sache, sich an rostigen Nägeln hochzuziehen. Sie verstehen?»
«Um welche Zeit ist er von hier weggegangen?»
Barker verkrampfte sich für einen kurzen Moment. «Das muß so um Viertel vor neun gewesen sein», gab er schließlich bekannt. Die beiden anderen nickten zustimmend.
«Wann haben Sie das Lokal verlassen?»
Nach einem Blick auf Barnes und Hackett antwortete Barker: «Ich bin ungefähr um Viertel nach zehn von hier weg. Von da an war ich allein, was nicht besonders spaßig war.»
Banks wandte sich den beiden anderen zu und hörte sich deren Angaben an.
«Sie sehen also», schloß Barker, «jeder von uns hätte es tun können. Unsere Alibis sind etwas dürftig.»
«Moment mal!» protestierte Barnes.
«War nur ein Scherz, Doc. Und ziemlich geschmacklos, entschuldige. Aber so sind nun mal die Tatsachen. Gehören wir damit zu den Verdächtigen, Inspector? Sie sind doch Inspector, oder?»
«Chief Inspector», korrigierte Banks. «Und von Verdächtigen kann im Moment noch keine Rede sein.»
«Mit anderen Worten - solange man niemanden Bestimmten in Verdacht hat, ist jeder suspekt.»
«Richtig. Sie schreiben ja Detektivgeschichten, nicht wahr, Mr. Barker?» meinte Banks trocken. Barker errötete, die anderen lachten nur.
«Ich nenn sie immer Defäktivgeschichten», warf Hackett ein.
«Sehr witzig», knurrte Barker. «Anscheinend gibt's noch Hoffnung für dich.»
«Sagen Sie», erkundigte sich Banks etwas forscher, um die Herren beim Reden zu halten, «warum treffen Sie sich eigentlich in einer derartigen Bruchbude? Sie könnten sich doch alle etwas Besseres leisten. » Er warf einen vielsagenden Blick auf die abblätternden Tapeten und die eingekerbten, fleckigen Tische.
«Der Laden hat Charakter», entgegnete Barker. «Aber im Ernst, Chief Inspector, wir sind weitaus weniger wohlhabend, als Sie vermuten. Unser Teddy lebt auf Kredit, seit er Hebden's Gift Shop aufgekauft hat, und der Doc hat Mühe, ein paar Pennies aus der staatlichen Krankenkasse rauszukitzeln.» Barnes machte große Augen, aber keinerlei Anstalten zu protestieren. «Und was mich betrifft - ich suche händeringend nach einem Interessenten, der mir die Filmrechte an einem meiner Bücher abkauft. Harry war gut bei Kasse, das ist wahr, aber der Geldsegen kam so plötzlich, daß er gar nichts damit anfangen konnte. Abgesehen davon, daß er seinen Job aufgegeben hat und hierher gezogen ist, um sich seinen Studien zu widmen, hat er seinen Lebensstil kaum verändert. Er war nicht besonders interessiert an Geld, jedenfalls nicht für sich selbst.»
«Sie sagten, der Geldsegen sei ziemlich überraschend gekommen», meinte Banks. «Soweit ich weiß, hat er seinen Vater beerbt, da muß er doch gewußt haben, daß ihn irgendwann ein stattliches Vermögen erwartet, oder?»
«Ja, das schon, aber er hat nicht damit gerechnet, daß es so viel war. Ich glaube, er hat einfach nicht auf solche Dinge geachtet. Er war so eine Art zerstreuter Professor, darin schlug er ganz nach seinem Vater. Anscheinend hatte der alte Herr jede Menge Patente im Haus versteckt, und kein Mensch wußte was davon.»
«War Steadman kleinlich oder knickerig?»
«Um Himmels willen, nein! Er hat seine Runden immer ordentlich bezahlt.»
Hackett lächelte nachsichtig, während Barnes sich mit einem Seufzen anschickte, Barkers schnoddrige Bemerkung zurechtzurücken. «Was er damit sagen will, auf die ihm eigene charmante Art», erklärte er, «ist, daß wir alle keinen Wert darauf legen, zur feinen Gesellschaft zu gehören und uns in Country Clubs herumzutreiben. Wir fühlen uns wohl hier, und ich meine es vollkommen ernst, wenn ich sage, daß das eine verdammt gute Pinte ist.»
Banks betrachtete den Doktor einen Augenblick, lachte dann und meinte zustimmend: «Ja, das ist sie wirklich.»
Ein echter Yorkshirer hing mit Leib und Seele an seiner Pinte - das gehörte zu den Dingen, die Banks gleich im ersten Jahr hier oben im Norden begriffen hatte. Für die Leute im Swainsdale hatte das Bier ungefähr den gleichen Stellenwert wie der Wein für einen Bewohner des Burgunds.
Nachdem er sich mit einem frischen Bier versorgt hatte, lenkte er das Gespräch auf etwas allgemeinere Themen als den Mord an Harry Steadman. Man sprach offen und unbefangen über die alltäglichen Dinge des Lebens, die jeden interessierten: Politik, Wirtschaft, Sport, Bücher, Fernsehen, die Geschicke der Welt im großen und der Dorfklatsch im kleinen. Drei gestandene Männer, alle mehr oder weniger im gleichen Alter und - mit Ausnahme von Barnes - ein wenig fremd in einer Gesellschaft, die noch fest im bäuerlichen und handwerklichen Leben verwurzelt war.
Penny Cartwright zog die massive Tür hinter sich zu, legte Schloß und Riegel vor, zog die schweren Vorhänge zu und knipste das Licht an. Nachdem sie ihre Päckchen und Pakete abgestellt und ihr Umhängetuch über einen Stuhl geworfen hatte, zündete sie die Kerzen an, die rundum im Wohnzimmer verteilt waren und in unterschiedlichen Längen aus Untertassen, leeren Flaschenhälsen und richtigen Leuchtern herausragten. Als der flackernde Schein der zahllosen kleinen Flammen den Raum erhellte und die Wände wie schmelzende Butter aussehen ließ, schaltete sie das elektrische Licht aus, schob eine Kassette in den Rekorder und ließ sich auf das Sofa fallen.
Der Raum war still und warm wie die Höhle einer Gebärmutter. Ein Ort, der im Sonnenlicht des Tages hell und fröhlich wirkte und im abendlichen Kerzenschein warm und sicher. Die Wände leer, bis auf ein paar wenige Dinge: eine Kunstpostkarte mit dem Bild «Der Tanz» von Henri Matisse, die ihr ein Freund aus New York geschickt hatte; eine gerahmte Kopie von Sutcliffes berühmtem Foto «Gathering Driftwood» und eine Hochglanzaufnahme von ihr selbst bei einem Konzert, das sie und ihre Band vor Jahren gegeben hatten. In den Nischen zu beiden Seiten des Kamins, beschattet vom Schein der Kerzen, allerhand privater Schnickschnack wie Muscheln, bunte Kiesel und die üblichen albernen Souvenirs, die man aus fremden Ländern zusammenträgt, mit deren Hilfe man sich jederzeit in die einst erlebte Atmosphäre zurückzuversetzen und an alle Einzelheiten des Tages, an dem der Kauf stattfand, zu erinnern glaubt: ein Plastikschlüsselring aus Los Angeles; ein Miniaturprojektor mit Dias von den Niagarafällen; ein kleiner Porzellankrug aus Amsterdam, bemalt mit ihrem Sternzeichen, der Waage; bunt dazwischengestreut die zahllosen Ohrringe, die Penny sammelte, in allen Größen, Formen und Farben.
Sie nahm etwas Hasch und Zigarettenpapier aus einer Dose mit der Aufschrift Old Holborn, drehte sich einen kleinen Joint und wickelte die Halbliterflasche Bell's aus dem Papier. Da es keinen zwingenden Grund gab, ein Glas zu benutzen, setzte sie die Whiskyflasche einfach an den Hals und ließ das brennende Gesöff über Zunge und Kehle rinnen, bis sie tief in ihrem Bauch ein warmes, wohliges Glühen spürte.
Die Kassette spielte alte Folksongs, traditionelles Liedgut ohne Musikbegleitung. Eine kräftige klare Frauenstimme sang von Männern, die in den Krieg ziehen, von untergehenden Schiffen, von häuslichen Tragödien und großen wundersamen Lieben aus längst vergessenen Tagen. Halb unbewußt unterzog Penny den Gesangsstil einer kritischen Überprüfung. Das leise Vibrato war gelungen, aber dieses Zittern bei den hohen Noten tat einfach weh. Als Profi - oder als Exprofi inzwischen - war ihr diese Art von Umgang mit Musik zur zweiten Natur geworden. Alles in allem gefiel ihr diese Stimme, trotz der Schwächen in den Höhen. Sie hatte genug Wärme und emotionalen Ausdruck, um die gelegentlichen technischen Mängel auszugleichen.
Einer der Songs - über einen Mord in Staffordshire vor mehr als zweihundert Jahren - war ihr sehr vertraut. Sie hatte ihn selbst viele Male gesungen, vor einem begeisterten Publikum in allen möglichen Pubs und Konzerthallen. Es war auch eines der ersten Stücke gewesen, die sie mit ihrer Band aufgenommen hatte, weil der Aufbau und die Tonart sich geradezu angeboten hatten für die Begleitung mit EGitarren und Schlagzeug. Trotzdem klang das Lied heute seltsam frisch und neu. Eigentlich hatte es nichts zu tun mit den schlechten Nachrichten, die ihr am Nachmittag zu Ohren gekommen waren - aber Mord blieb Mord, ob er nun zweihundert Jahre zurücklag oder erst in der Nacht zuvor verübt worden war. Vielleicht würde sie selbst ein Lied darüber schreiben. Ein Lied, das dann andere hören würden, in hundert Jahren, warm und sicher aufgehoben wie sie selbst.
Whisky und Hasch taten ihre Wirkung. Penny fühlte, wie sie langsam abdriftete. Plötzlich stand die Erinnerung an diesen lange vergangenen, wunderbaren Sommer wieder ganz klar vor ihren Augen, plastisch wie der gestrige Tag. Sicher, es hatte manches gute Jahr gegeben und manche schöne Zeit, bevor der Ruhm, die wilden Zeiten des Erfolgs alles verdorben hatten, aber jener Sommer vor zehn Jahren war das herausragende Ereignis geblieben. Während sie ihn in Gedanken nachlebte, spürte sie wieder das sonnenwarme Grün der Wiesen, fühlte die Erde unter sich und den Geruch der Tiere in der federleichten Brise.
Schließlich kristallisierte sich aus den allgemeinen Wahrnehmungen ein einzelner Tag heraus. Ein besonders heißer Tag, so heiß, daß sich Emma geweigert hatte, den schützenden Schatten zu verlassen, aus Angst, ihre empfindliche Haut zu verbrennen. Michael war aus irgendwelchen Gründen schlechter Laune gewesen und zu Hause geblieben, um Chattertons Gedichte zu lesen. So waren nur Penny und Harry übriggeblieben. Sie waren den ganzen Weg bis zum Wensleydale gewandert, Harry an der Spitze, groß und stark, und Penny hinterher, angestrengt bemüht, mit ihm Schritt zu halten. Hoch oben am Hang, oberhalb von Bainbridge und unter Semerwater, hatten sie eine Rast gemacht, mit Lachs belegte Brote gegessen, kühlen Orangensaft aus der Thermoskanne getrunken, sich in der Sonne geaalt und hinuntergeschaut auf das winzige Dorf mit seiner gepflegten kleinen Grünanlage und der römischen Festung. Sie hatten die weiß verwitterte Fassade des aus dem 15. Jahrhundert stammenden Rose and Crown erkennen können und den Lauf des Bain, der sich tanzend und Fontänen sprühend über seine Wasserfälle ergossen hatte, hinunter ins schimmernde Band des langsam dahinfließenden Ure.
Dann verblaßte das Bild, löste sich ganz auf, und die Gegenwart kam zurück. Der Gedanke an Harry hatte die Vergangenheit so lebhaft wieder auferstehen lassen, daß sie sich in längst vergangenen Zeiten zurückversetzt fühlte. In die sumpfigen Niederungen des Tals mit ihrem undurchdringlichen Dickicht, in das sich niemand hineinwagte. In die kreisrunden Hütten hoch oben an den Hängen, auf den Lichtungen, wo sich Kalkfelsen und Sandstein an die Oberfläche drängten und die Bergbauern Unterschlupf suchten, um der Jagd nachzugehen, kargen Hafer anzubauen und ein paar magere Schafe und Rinder aufzuziehen. Unten auf der Straße marschierte eine römische Patrouille, seltsam fremd in dieser kalten, abweisenden Landschaft, und doch voller Selbstvertrauen, dank ihrer schimmernden Helme und der schweren, wallenden Umhänge, die sie mit prächtigen Spangen über ihren Brustpanzern befestigt hatten.
Allmählich überlagerten sich die Bilder. Zehn Jahre oder siebzehn Jahrhunderte, für Harry hatte es keinen Unterschied gemacht. Deutlich empfand sie den unbeugsamen Stolz der Briganten und das dreiste Selbstvertrauen der römischen Eroberer. Sie konnte sogar nachempfinden, daß Cartimandua, die Königin, mit Eindringlingen paktierte, die dem barbarischen Vorposten immerhin neue und zivilisierte Lebensformen brachten. Doch der Widerstand wuchs und breitete sich in allen Dales aus, als Venutius, der ehemalige Gatte der Königin, die Rebellen um sich scharte zur letzten großen Schlacht bei Stanwick, nördlich von Richmond - und sie verlor.
Das alles hatte Harry vor ihren Augen erstehen lassen. Mitunter hatte sie zwar ein unerklärliches Gefühl von Fremdheit und Unbehagen verspürt, das sich aber stets wieder verflüchtigte, sobald er das Vergangene lebendiger werden ließ als die Gegenwart. Ganz schön unschuldig war ich damals, dachte Penny und mußte lachen über ihre Naivität. Dabei war ich schon sechzehn. Hat verdammt lange gedauert, bis ich erwachsen war, und mühsam war's auch.
Plötzlich fielen ihr wieder die alten Münzen ein, die sie sich im Museum von York angesehen hatten - mit Inschriften wie VOLISIOS, DUMNOVEROS und CARTIMANDUA und die Bleibarren mit dem Prägestempel IMP. CAES: DOMITIANO: AVG. COS: VII auf der Vorderseite und den Buchstaben BRIG auf der Rückseite. Damals waren ihr die lateinischen Abkürzungen wie geheimnisvolle Zauberformeln vorgekommen.
Von neuem tauchte sie ab in das Reich ihrer Träume. Der Joint war lange verglüht, die Kassette abgespielt, der Whisky zur Neige gegangen. Die Flut der Erinnerungen wurde immer schneller und dichter und verschwand ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, um eine tiefe Leere zu hinterlassen. Es gab kein Wort mehr, keine Bilder, nur noch den schwachen Abglanz unbestimmter Gefühle.
Sie trank den letzten Schluck Whisky, zündete die ausgedrückten Zigarettenstummel wieder an und rauchte sie zu Ende. Langsam rannen die ersten Tränen über ihre Wangen, später in dieser Nacht wurde sie von einem tiefen, herzerweichenden Schluchzen geschüttelt.