* KAPITEL 7

 

* I

 

Am Donnerstag morgen, gegen elf Uhr, hätte sich einem waghalsigen Kletterer von den Höhen des Crow Star der Ausblick auf eine seltsame Prozession geboten, die aussah, als bewegten sich zwei schwarz glänzende Käfer, gefolgt von grünen und roten Blattläusen gemächlich von Gratly Hill nach Süden, um am Fuße des Tals nach rechts in Richtung Helmthorpe abzuschwenken.

  Langsam wand sich der Trauerzug über die High Street, flankiert von Passanten - Touristen wie Einheimischen -, die ehrerbietig stehenblieben, sich bestürzt abwandten oder ihre Hüte lüfteten. Hier und da sah man gar den einen oder anderen Besucher von außerhalb das Kreuzzeichen schlagen.

  Harold Steadman hatte als gläubiger Christ gelebt und den Glauben an Gott als etwas angesehen, was untrennbar verbunden war mit dem Menschen und dessen Taten, die der Welt erst die Form gegeben hatten, an der sein Herz hing. Seine sterbliche Hülle wurde infolgedessen nach altem Ritus zu Grabe getragen, angeführt von einem eigens aus Lyndgarth angereisten Geistlichen.

  Es war der wohl bislang heißeste Tag des Jahres, und die buntgewürfelte Trauergemeinde stand entkräftet um das offene Grab, während Reverend Sidney Caxton die althergebrachten Worte sprach: «Mitten im Leben stehend, sind wir dem Tode geweiht; von wem können wir uns Trost erhoffen, wenn nicht von dir, o Herr... Du, der du alle Geheimnisse unseres Herzens kennst, öffne dein barmherziges Ohr unseren Gebeten und verschone uns von dem Übel, o Herr, von nun an bis in Ewigkeit, Amen.» Auf Mrs. Steadmans Wunsch ließ er den 23. Psalm folgen: «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Wiese und führet mich zum frischen Wasser... Ja, ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich... Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. » Es war eine düstere Pastorale, ein seltsam schauerlicher, aber angemessener Abgesang auf einen Mann, der gewaltsam aus dem Leben geschieden war.

  Für Sally Lumb - die zusammen mit Hazel, Kathy, Anne und Rektor Buxton die Eastvale Comprehensive School vertrat - war das Schauspiel in der Tat eine höchst bedrückende und unerfreuliche Angelegenheit. Schon allein deshalb, weil das adrette dunkelblaue Kostüm, das sie auf Wunsch ihrer Mutter angezogen hatte, viel zu warm war; die Bluse klebte an ihrem Körper, und die Schweißperlen, die gelegentlich über ihren Rücken rannen, kitzelten wie Spinnenbeine.

  Reverend Caxton warf eine Handvoll Erde auf den Sarg und sprach: «Nun, da es Gott, dem Allmächtigen, in seiner großen Güte gefallen hat, die Seele unseres lieben Bruders zu sich zu nehmen, wollen wir seinen Leib der Erde übergeben.»

  Um sich die Zeit zu vertreiben, beobachtete Sally verstohlen die übrigen Trauergäste, unter denen Penny Cartwright die bei weitem interessanteste Person darstellte. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, was einen krassen Gegensatz bildete zu der extremen Blässe ihres Gesichts. Sie trug gerade so viel Make-up, um die dunklen Augenringe zu verbergen und die hohen Wangenknochen zu betonen, die ihr ein tragisch-romantisches Flair gaben. Sie sah wirklich außerordentlich schön aus, dachte Sally, wenn auch auf eine grelle, merkwürdig erschreckende und ausgefallene Art. Demgegenüber machte Emma Steadman in ihrem konservativen, aus der Mode geratenen kohlegrauen Kostüm nicht besonders viel her. Sally fand, daß sie sich schon etwas besser hätte herrichten können, und fügte in Gedanken einen Hauch von Rouge, etwas Lidschatten und eine Spur Lippenstift hinzu, um sich gleich darauf heftig zu schämen, bei einem so traurigen Anlaß an derart weltliche Dinge zu denken; schließlich war Mrs. Steadman immer sehr nett zu ihr gewesen.

  «Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub; in der sicheren Hoffnung und Zuversicht auf ein ewiges Leben an der Seite unseres Heilands Jesus Christus, der unsere sterbliche Hülle wieder...»

  Zwischen den beiden trauernden Frauen stand Michael Ramsden. Sein Ausdruck erinnerte Sally an die verlorenen, blutleeren Gestalten aus den Schwarzweiß-Gruselfilmen von Kanal Vier, auf die ihre Mutter so versessen war. An Pennys anderer Seite hatte sich Jack Barker aufgebaut, in einem dunklen Anzug mit schwarzer Trauerbinde. Er sah echt umwerfend und abenteuerlich aus mit seinem Errol-FlynnSchnurrbart und dem kühnen Funkeln in den Augen, und Sally verlor sich für ein paar Augenblicke in wild verwegene Phantasien.

  Mit dem Polizisten, diesem Banks, brauchte sie sich nicht lange aufzuhalten. Zugegeben, er sah gut aus, so hager und knochig, wie er war, und die Narbe gab ihm etwas Geheimnisvolles, aber sie hatte inzwischen sein wahres Gesicht erkannt und es nicht besonders spannend gefunden. Er war ein Blindgänger, keine Frage; hatte in London gelebt, mitten im Abenteuer, und jede Menge Chancen gehabt, ein großer Held zu werden, aber lieber darauf verzichtet und sich verdrückt, in dieses gottverlassene Kaff. War eben früh vergreist, klarer Fall. Doc Barnes war grau und nichtssagend wie immer, und Teddy Hackett hatte sich einen protzigen Goldklunker umgehängt, der bei jedem Mal, das er nervös von einem Fuß auf den anderen trat, vor dem schwarzen Hemd hin und her baumelte und in der Sonne blitzte.

  «... nach seinem göttlichen Ebenbilde, vermittels seines allmächtigen Wirkens, seiner alles überwindenden Kraft.»

  Als Sally sich wieder den eigentlichen Bestattungsfeierlichkeiten zuwandte, war bereits alles vorbei. Langsam, als falle es schwer, den Verstorbenen für immer zu verlassen, zogen die Trauergäste von dannen. Penny und Emma umklammerten ihre Taschentücher und den Arm des jeweils nächststehenden Mannes. In Pennys Fall handelte es sich um Jack Barker, und Sally fand, daß die beiden ein gutes Paar abgaben. Der Rest der Trauerversammlung formierte sich zu Zweier- oder Dreiergruppen, bis auf den Chief Inspector, der einsam seines Weges ging. Es war vollbracht; Harold Steadman war zur ewigen Ruhe gebettet und im Tode zu einem Teil dieses Tals geworden, das er zu Lebzeiten so innig geliebt hatte.

 

* II

 

Nach einem Besuch auf der Polizeiwache Helmthorpe und einem einstündigen Gespräch mit Constable Weaver über die mangelnden Fortschritte bei den Ermittlungen hatte sich Banks in den Biergarten des Dog and Gun zurückgezogen, saß mit sich allein an einem weißen Gartentisch und nippte an einem Pint of Shandy. Es war inzwischen ein Uhr, die Touristen hatten sämtliche Tische belegt, schwatzten über die Ferien, das Wetter, die Probleme am Arbeitsplatz - oder über die Suche nach einem solchen -, während ihre Kinder ausgelassen durch den Garten tobten, frech und frei wie die Wespen, die von Glas zu Glas schwirrten oder sich an den Resten von Kuchen und klebrigen Zuckerbrötchen gütlich taten.

  Banks nahm das Schreien und Schnattern kaum wahr; er hatte immer schon die Fähigkeit gehabt, störende Hintergrundgeräusche nach Belieben auszuschalten. Die dunkle Anzugjacke über die Stuhllehne gehängt, saß er entspannt in Hemdsärmeln da und stocherte in seiner Pfeife. Dieses Ding war wirklich eine Quelle des Ärgers, ging ständig aus oder setzte sich zu, so daß ihm die bitteren Tabaksäfte über die Zunge tropften. Andererseits war sie jedoch recht kleidsam und verschaffte ihm ein gewisses Image, das er zu pflegen gedachte, da es sich als nützlich erwiesen hatte.

  Er verscheuchte eine Wespe, die sich summend auf seinem Ärmel niedergelassen hatte. Weiter vorn schimmerte der Fluß mit seinen dichtbewachsenen Ufern, und drüben auf der anderen Seite lag der Kricket Klub, wo man sich gerade auf einer frischgemähten Wiese zu einem Spiel versammelt hatte. Das ruhige Weiß der Spieler vor dem Grün des Rasens, das trockene Knallen der Schlaghölzer auf dem Leder und der gelegentlich leise herüberwehende Beifall verschmolzen zu einem harmonischen Ganzen mit dem Duft des frischen Grases und erhöhten den Eindruck von Stille und Frieden. Banks ging inzwischen nur noch selten zu solchen Spielen - und wenn er es dennoch tat, langweilte er sich schon nach wenigen Overs. Aber im Grunde, fand er, war schon einiges dran an den Klischeevorstellungen über das Kricketspiel; es hatte in der Tat etwas typisch Englisches und gab einem das Gefühl, daß Gott oben im Himmel wachte und dafür sorgte, daß alles zum Besten stand im Empire.

  Jenseits des Kricketfeldes erhoben sich die Wände des Tals, in sanften Hängen zunächst, durchzogen von einem Geflecht aus Steinwällen, dann immer höher und schroffer bis in die nackte, langgezogene Steilwand des Crow Star, über dessen Kreidefelsen Banks meinte die Krähen kreisen zu sehen. Und auf halbem Wege zwischen dieser Felswand und dem Kricketplatz - weiter, als das menschliche Auge mit seinen begrenzten Möglichkeiten reichte - lag die Stelle, wo man Steadmans Leiche gefunden hatte.

  Banks hatte nicht viel übrig für Beerdigungen und den einigermaßen sinnlosen Brauch, sich daran zu beteiligen, Menschen zu Grabe zu tragen, die man nie vorher gesehen hatte. Einen Mörder hatte er bei solchen Anlässen bislang nicht gefaßt; keine Rede von Geständnissen am Grabesrand oder von verdächtigen Gestalten im Eibenbusch. Trotzdem hielt er an dieser Gewohnheit fest, aus Motiven, die wohl damit zu tun hatten, daß er sich auf eine merkwürdige und einzigartige Weise mit dem Toten verbunden fühlte, näher und intimer vielleicht, als es bei einem ihm bekannten Menschen möglich gewesen wäre. Er sah sich als eine Art Rächer, berufen von dem Opfer selbst und mit ihm zusammen darauf hinarbeitend, daß das Gleichgewicht der Natur wiederhergestellt wurde; zwei Streiter des Lichts gegen die Finsternis. Und in diesem Fall war es Steadman, sein Geist, der ihn leiten würde; ein stummer Führer zwar, ein Schatten nur, aber dennoch gegenwärtig.

  Eingelullt von dem warmen Wetter, überließ sich Banks wieder seinen Gedanken und sinnierte über die letzten achtzehn Monate seit seinem Wechsel nach Yorkshire.

  Die Landschaft hier hatte ihn erwartungsgemäß auf Anhieb begeistert. Im Gegensatz zu den sanften Hügeln des Südens war sie wild und rauh, aber von einer eindrucksvollen Weite. Was die Menschen anging, so hatte er vorher schon einiges gehört über den sturen und eigensinnigen Charakter der Bewohner von Yorkshire. Doch hinter der rauhen Schale dieses Menschenschlags verbarg sich eine Menge Gutmütigkeit, die er zu schätzen gelernt hatte, ebenso wie ihre stoische Gelassenheit, ihren schlagfertigen Witz und den Sinn fürs Praktische und Vernünftige.

  Außerdem gefiel er sich in der Rolle des Außenseiters. Er fühlte sich keineswegs als Fremder - wie etwa in der anonymen, polyglotten Masse der Londoner -, sondern einfach nur als Zugereister, der er immer bleiben würde, unabhängig davon, wie stark er mit dieser Gegend noch verwachsen sollte.

  Die Pfeife zog immer noch nicht richtig. Entnervt klopfte er sie aus und versuchte, sich wieder auf seinen Fall zu konzentrieren. Es war ein schmutziges Geschäft, wie jeder Mord, aber in einer Umgebung wie dieser hatten solche Dinge geradezu etwas Gotteslästerliches. Die Menschen in diesem kleinen Tal, ihre Prioritäten, Überzeugungen und Anliegen, ihre ganze Art zu leben war völlig verschieden vom Leben in einer Stadt wie London oder selbst Eastvale. Und er hatte Zweifel, ob seine Außenseiterrolle, wie Gristhorpe vermutet hatte, tatsächlich ein Vorteil war, ihm zu einer neuen und anderen Perspektive verhelfen würde; bislang ließ sich die Sache jedenfalls eher zäh an.

  Er drehte sich um, als plötzlich ein langer Schatten auf den weißen Gartentisch fiel, und entdeckte Michael Ramsden, der eben im Innern des Lokals verschwand.

  «Mr. Ramsden!» rief er ihm nach. «Hätten Sie einen Moment Zeit?»

  Ramsden wandte sich um. «Ah, Chief Inspector Banks. Ich hatte Sie gar nicht gesehen...»

  Banks war sicher, daß er log, zog jedoch keine voreiligen Schlüsse daraus. Es war üblich, daß die Leute versuchten, der Polizei aus dem Wege zu gehen. Ramsden ließ sich, halb schwebend, auf der Stuhlkante nieder, um schon durch seine Haltung kundzutun, daß er nicht die Absicht hatte, länger als ein paar Minuten zu verweilen.

  «Ich dachte, Sie wären auf dem Leichenschmaus», meinte Banks.

  «War ich auch, aber Sie wissen ja, wie so was läuft. Die aufgesetzte Fröhlichkeit und diese gräßliche Bonhomie, um darüber hinwegzutäuschen, was passiert ist. Und natürlich gibt's immer ein paar, die unweigerlich zu tief ins Glas gucken und Blödsinn reden.» Er zuckte mit den Achseln. «Ich hab es jedenfalls vorgezogen zu gehen. Was kann ich für Sie tun? Haben Sie noch eine Frage?»

  «Ja. Ich wollte wissen, ob Sie ganz sicher sind, daß Sie am Samstag nicht ausgegangen sind.»

  «Natürlich bin ich sicher, das hab ich Ihnen doch schon gesagt.»

  «Das weiß ich, aber mir liegt daran, wirklich jeden Zweifel auszuräumen. Also, wie ist es? Auch nicht für ein halbes Stündchen oder ein paar Minuten?»

  «Sie haben doch gesehen, wie ich wohne. Was glauben Sie, wo ich da hingehen sollte?»

  Banks lächelte. «Oh, vielleicht auf einen kleinen Spaziergang? Oder ein bißchen Jogging? Ich hab mir sagen lassen, daß Schriftsteller manchmal blockiert sind.»

  «Wie wahr», lachte Ramsden, «allerdings nicht für mich, zumindest nicht an dem bewußten Samstag. Ich war den ganzen Abend über zu Hause. Außerdem hatte Harry einen Schlüssel und hätte drinnen auf mich warten können.»

  «Ist das schon vorgekommen?»

  «Ja, einmal. Als ich länger im Büro bleiben mußte.»

  «Es ist also nicht denkbar, daß er beispielsweise einen anderen Bekannten in der Umgebung aufgesucht hat und später zurückkommen wollte?»

  «Ich glaube nicht, daß Harry noch irgendwelche anderen Leute in oder bei York gekannt hat. Jedenfalls nicht gut genug, um einfach so ins Haus zu schneien. Warum wollen Sie das eigentlich wissen, wenn die Frage erlaubt ist?»

  «Wir müssen herausfinden, wo sich Mr. Steadman aufgehalten hat, zwischen 22 Uhr 15 und dem Zeitpunkt seines Todes. Aber es gibt noch einen anderen Grund», fügte er rasch hinzu, als er Ramsdens Ungeduld bemerkte. «Ich würde gerne etwas mehr über die Vergangenheit erfahren. Über Ihre Beziehung zu Penny Cartwright.»

  Ramsden seufzte und nahm eine bequemere Sitzposition ein.

  «Etwas zu trinken?» erkundigte sich Banks, als ein weißgeschürzter Kellner vorbeiging.

  «Von mir aus, wenn Sie schon vorhaben, mich noch eine Weile festzuhalten... Aber das liegt doch alles so weit zurück, und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was diese Geschichten mit Harrys Tod zu tun haben.»

  Banks bestellte zwei halbe Lager. «Gehen wir das Ganze einfach noch mal durch, weiter nichts», schlug Banks vor. «Die Zeit vor zehn Jahren war offenbar eine recht wichtige Station in Ihrem Leben. Es war Sommer, Sie waren gerade achtzehn, wollten auf die Universität und waren befreundet mit dem hübschesten Mädchen im ganzen Swainsdale. Und die Steadmans waren wie gewöhnlich gekommen, um ihre Ferien im Hause Ihrer Eltern zu verleben. Alles in allem muß es also ein recht denkwürdiger Sommer gewesen sein, mit ausgedehnten Spaziergängen und interessanten Exkursionen zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Sie erinnern sich doch?»

  Ramsden lächelte. «Natürlich erinnere ich mich, wenn Sie das alles auf diese Weise schildern. Mir wird jetzt erst klar, wie weit diese Zeit schon zurückliegt», fügte er mit einiger Wehmut hinzu.

  «Man hat in der Tat den Eindruck, daß die Zeit viel zu schnell vergeht», stimmte Banks zu. «Vor allem, wenn man den Sinn für Kontinuität verliert und plötzlich zurückschaut. Wie dem auch sei - nach diesem Sommer war es vorbei, und alles hatte sich geändert. Was war passiert, zwischen Ihnen und Penny?»

  Ramsden nahm einen Schluck von seinem Lager und vertrieb eine aufdringliche Wespe. «Wie ich Ihnen schon sagte - die Ereignisse trieben uns einfach auseinander, wie bei vielen Jugendlieben.»

  «Haben Sie das jemals bedauert?»

  «Was?»

  «Nun, daß die Dinge diesen Lauf nahmen. Möglicherweise wären Sie und Penny inzwischen längst ein glückliches Paar, und nichts von alledem wäre passiert.»

  «Nichts von alledem? Ich fürchte, ich sehe nicht ganz den Zusammenhang.»

  «Nun, einfach alles. Pennys Abenteuer in der Musikszene, Ihr Junggesellendasein...»

  «Das klingt ja wie eine eklige Krankheit aus Ihrem Munde, Chief Inspector», lachte Ramsden. «Zugegeben, ich bin Junggeselle, aber das heißt noch lange nicht, daß ich mich dem Zölibat verschrieben habe. Ich habe durchaus Liebesbeziehungen und führe ein recht geselliges Leben, das mir viel Freude macht. Und was Penny angeht... nun, es ist ihr Leben, und wer kann schon wissen, ob sich die Dinge nicht vielleicht auch bei ihr zum Besten entwickelt haben?»

  Banks manipulierte an seiner Pfeife und versuchte geduldig, sie wieder in Gang zu bringen. Zwei Tische weiter thronte ein Baby mit marmeladeverschmierten Backen auf seinem Kinderstuhl und stimmte ein lautes Gebrüll an. «Aber wenn es Steadman nicht gegeben hätte, wenn er nicht gekommen wäre und sie beeinflußt hätte...»

  «Was wollen Sie damit andeuten? Daß die beiden irgendwas miteinander hatten?»

  «Nun ja, er war älter und reifer, und so was kommt schon mal vor, wie Sie zugeben werden. Jedenfalls waren die beiden sehr oft zusammen. Kann es sein, daß Sie sich deswegen von ihr getrennt haben? Haben Sie sich vielleicht mit ihr gestritten wegen Steadman?»

  Ramsden war wieder auf die Stuhlkante gerückt. «Nein, wir haben nicht gestritten», erwiderte er verärgert. «Hören Sie, ich habe keine Ahnung, wer Sie auf solche Ideen bringt, aber ich kann Ihnen versichern, es ist alles erstunken und erlogen.»

  «Haben Sie die Beziehung abgebrochen, weil Penny Ihnen nicht das gegeben hat, was Sie wollten? Weil sie es statt dessen vielleicht Steadman gegeben hat?»

  Ramsden war offensichtlich kurz davor, von seinem Stuhl aufzuspringen und zu einer Ohrfeige auszuholen. Statt dessen holte er tief Luft, kratzte sich hinter dem Ohr und meinte lächelnd: «Wissen Sie was - Sie können einen wirklich ganz schön aus der Fassung bringen. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihnen die Leute alle möglichen Sachen erzählen, nur um Sie loszuwerden.»

  «Das kommt vor», bekannte Banks. «Also, ich höre.»

  «Kann sein, daß etwas dran ist, an Ihrer ersten Vermutung. Ein Mann wartet eben nicht ewig darauf, erhört zu werden, wie Sie sicher wissen. Ich war absolut reif für diese Dinge, und Penny war schließlich ein sehr schönes Mädchen, insofern war das alles ganz natürlich, oder? Ich war zwar auch noch völlig unerfahren und hatte eher Angst vor Sex, aber das half mir auch nichts. Sie blieb bei ihrem Nein.»

  «Das kann ich mir vorstellen», meinte Banks mit einem wissenden Lachen. «Ich muß gestehen, daß ich diese Hürde wohl auch nicht so ohne weiteres genommen hätte. Trotzdem, warum haben Sie geglaubt, daß sie wirklich an diesem Nein festhalten würde? Hatte das mit Steadman zu tun, oder dachten Sie, daß Penny vielleicht einen anderen Freund hatte?»

  Ramsden runzelte die Stirn und dachte einen Moment nach, bevor er antwortete: «Nein, es gab keinen anderen Freund, da bin ich sicher. Ich glaube, es war mehr eine Frage der Moral. Penny war dazu erzogen worden, ein anständiges Mädchen zu sein, und anständige Mädchen machten so was eben nicht. Und was Harry betrifft, so glaube ich eigentlich nicht, daß er sich so verhalten hat, wie Sie es andeuten. Ich bin sicher, daß ich es gemerkt hätte, irgendwie. Wahrscheinlich war ich manchmal schon ein bißchen eingeschnappt, weil die beiden so vertraut waren miteinander, aber das heißt nicht, daß ich auf die Idee gekommen wäre, daß sie irgendwas miteinander hatten. Sie hingen nur einfach ständig zusammen, und ich wollte, daß sie ihre Zeit mehr mit mir verbringt. Aber Harry war eben sehr selbstsicher, viel mehr als ich natürlich, ich war eher schüchtern und unbeholfen. Nun ja, vermutlich war ich tatsächlich ein bißchen neidisch oder eifersüchtig auf ihn, aber sicher nicht auf die Art, die Sie offenbar im Sinn haben.»

  «Ach! Und welche Art habe ich Ihrer Meinung nach im Sinn?»

  «Das wissen Sie doch genau. Die Art von Eifersucht, die den Menschen auffrißt und damit endet, daß er einen Mord begeht», entgegnete er mit Grabesstimme, um seinen Worten den nötigen dramatischen Effekt zu geben.

  Banks lachte. Ramsden hatte sein Glas fast ausgetrunken und schien es eilig zu haben, von ihm wegzukommen, aber es gab noch ein paar Bereiche, in die Banks gerne etwas tiefer vorgedrungen wäre. «Was ist mit ihrem Vater, diesem Major?» fragte er. «Glauben Sie, daß er die Finger im Spiel hatte, bei dieser Trennung von Penny?»

  «Nein, bestimmt nicht. Soweit ich weiß, war er ganz einverstanden mit mir. Er hat sicher einen kleinen Knacks weg, aber er hat uns eigentlich keine Probleme gemacht.»

  «Sind Sie später noch einmal mit Penny zusammengekommen? Immerhin haben Sie zeitweise beide in London gelebt, oder?»

  «Scheint so, ja. Aber wir sind uns nie begegnet. Es war vorbei, und damit hatte sich's.»

  «Was haben Sie gemacht, wenn sie mit Steadman unterwegs war?»

  «Das war alles ganz anders, als Sie vermuten, Chief Inspector. Die meiste Zeit haben wir alles zusammen unternommen, aber manchmal hatte ich einfach keine Lust, mich zu beteiligen. Ich habe viel gelesen damals, ich entdeckte gewissermaßen die Freuden der Literatur. Mr. Nixon, mein Lehrer in der Abschlußklasse, war ein höchst geistreicher und anregender Mann und hat es fertiggebracht, den Schaden, den seine Vorgänger angerichtet hatten, binnen eines Jahres wiedergutzumachen. Ich konnte zum erstenmal was anfangen mit Shakespeare, Eliot, Lawrence, Keats und dem ganzen Rest, und ich las mit einer Freude, die ich nie zuvor erlebt hatte. Womit ich sagen will, daß ich damals ein sehr romantischer und in mich gekehrter junger Mann war, dem es völlig genügte, an dem bewußten murmelnden Bächlein zu sitzen und die Gedichte von Wordsworth zu lesen.»

  «Wenn Sie nicht gerade versuchten, Penny ins Bett zu kriegen...», meinte Banks trocken, in Erinnerung an seine eigenen Versuche mit Wordsworth, den er auf Gristhorpes Empfehlung vor einiger Zeit in Angriff genommen und unerträglich langweilig gefunden hatte.

  Ramsden errötete. «Nun ja... ich war schließlich ein ganz normaler junger Mann, das läßt sich nicht leugnen.» Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Hören Sie, ich will nicht unhöflich sein, aber ich müßte mich mal wieder im Büro blicken lassen. Bevor ich gehe, würde ich allerdings gerne noch erfahren, was Sie so mächtig fasziniert an diesen alten Geschichten.»

  «Das weiß ich auch nicht so genau», erklärte Banks und griff nach seinem Glas. «Ich folge nur meinen Instinkten.»

  «Und was melden Ihnen diese Instinkte?»

  «Daß Harold Steadmans Tod nicht auf ein spontanes Verbrechen zurückzuführen ist. Es war eine vorbedachte Tat, die ihren Ursprung in der Vergangenheit hat. Sehen Sie, damals waren Sie alle hier zusammen - Penny Cartwright, ihr Vater, die Steadmans und Sie -, und zehn Jahre später haben Sie sich mehr oder minder am gleichen Ort wieder eingefunden. Und achtzehn Monate nach seinem Umzug nach Gratly ist Steadman tot... Kommt Ihnen das nicht auch etwas merkwürdig vor?»

  Ramsden strich sich seine Locke aus der Stirn, die ihm diesmal tatsächlich vor die Augen gerutscht war, trank sein Bier aus und stand auf. «So gesehen, haben Sie wohl recht», bemerkte er, «trotzdem glaube ich, daß Ihr Instinkt trügt. Es ist nicht alles beim alten geblieben, die Dinge ändern sich. Schon allein deshalb, weil inzwischen auch noch andere Menschen hier leben. Und wenn Sie meinen, daß Harrys Tod etwas mit Penny zu tun hat, sollten Sie Ihrem Instinkt vielleicht bis zu Jack Barker folgen. Wie ich höre, hat er sich in letzter Zeit öfter bei ihr sehen lassen. Einen schönen Tag noch, Chief Inspector, und vielen Dank für das Bier.»

  Banks beobachtete, wie sich Ramsden an den weißen Tischen vorbeischlängelte, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Krikketmatch zu, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein dramatischer Dreistab geschlagen wurde. Die Querpfosten flogen hoch in die Luft, und der Werfer riß die Arme hoch und brüllte «Aaauuus!»

  Banks dachte über sein Gespräch mit Ramsden nach und überlegte, ob etwas dran war an dessen Bemerkung über Barker. Seine Tochter Tracy fiel ihm ein, die bei der diesjährigen Theateraufführung der Eastvale Comprehensive School die Rosalinde in Shakespeares Wie es euch gefällt gespielt und gesagt hatte «Die Menschen sterben eben von Zeit zu Zeit und müssen sich von Würmern fressen lassen - aber nicht aus Liebe». Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus: Viele starben nicht einfach so, sondern wurden getötet, und zwar oft genug aus Liebe. Und Penny Cartwright war zweifellos eine Frau, die leidenschaftliche Gefühle wecken konnte.

  Plötzlich schossen zwei Düsenjäger des Typs F-111 aus der nahe gelegenen US-Militärbasis über die Köpfe der Gäste hinweg, so tief, daß die Luft dröhnte und Banks meinte, die Gesichter der Piloten zu erkennen. Auf den Hängen unterhalb des Crow Star liefen die Schafe verschreckt zusammen und duckten sich in den Schutz eines Steinwalls, während die Leute an den Gartentischen sich die Ohren zuhielten und zum Himmel schauten.

  Plötzlich ernüchtert, dachte Banks an den Papierkram, der auf seinem Schreibtisch wartete. Er griff nach seiner Jacke, leerte sein Glas und ließ die Kricketspieler das Match allein beenden.

 

* III

 

Das Dinner im Hause der Banks' verlief ausgesprochen lebhaft und erfreulich an diesem Abend. Es schien Ewigkeiten her zu sein, daß die ganze Familie miteinander bei Tisch gesessen hatte, um sich an einer von Sandras köstlichen kulinarischen Kreationen zu erfreuen: Hühnchen in Tarragona und Weißwein. Sandra hatte die fabelhafte Fähigkeit, mit den einfachsten Mitteln und Zutaten Gerichte zu zaubern, die wie streng gehütete Geheimnisse aus einem Gourmettempel schmeckten. Ein Talent, das nach Banks' Auffassung charakteristisch war für einen angeborenen guten Geschmack und die Herkunft aus Armeleuteverhältnissen. Alles, was man dazu brauchte, versicherte Sandra - offenkundig erfreut über das allgemeine Lob -, war die richtige Kochmethode und ein bißchen Mühe bei der Soße.

  Die Tischunterhaltung wurde vorwiegend von den Kindern bestritten, die von ihrem Klassenausflug nach York berichteten.

  «Der Dom ist einfach umwerfend», begeisterte sich die vierzehnjährige Tracy, ein intelligentes Mädchen mit einer deutlichen Schwäche für alles Historische. «Daddy, wußtest du eigentlich, daß man in diesem Münster mehr Buntglas verarbeitet hat als in irgendeiner anderen europäischen Kathedrale?»

  Banks zeigte gebührendes Erstaunen und Neugier. Architektur hatte ihn bis vor kurzem nicht sonderlich interessiert, erschien ihm aber in letzter Zeit zunehmend reizvoll. Vorläufig war er allerdings noch damit beschäftigt, sich in die Geologie der Dales einzulesen.

  «Und diese Five Sisters sind einfach überwältigend», fuhr Tracy fort.

  «Fünf Schwestern?» fragte Banks. «In einem Dom?»

  «Also, Daddy», lachte Tracy, «du hast keine Ahnung, wirklich! Das ist doch nur der Name für die Spitzbogenfenster im Querschiff an der Nordseite. Sie sind alle aus Grisailleglas, dreizehntes Jahrhundert, glaub ich. Und das Rosenfenster-»

  «Es war stinklangweilig», warf Brian ein, der sich offenbar übergangen fühlte. «Haufenweise alte Statuen von irgendwelchen toten Königen und solches Zeug. Alles Schrott, entsetzlich öde.»

  «Du bist ein Philister», wies ihn Tracy würdevoll, aber mit einigen Ausspracheschwierigkeiten zurecht. «Ich wette, du hast nicht mal diesen Sarkophag gesehen, den von Erzbischof Scrope.»

  «Scrope? Wer ist das denn?» erkundigte sich Banks, der zwar mit Brian sympathisierte, aber Tracy nicht aus ihrer Begeisterung herausreißen wollte. Seine Tochter war gerade in dem Alter, wo es nichts Schöneres gab, als die Eltern zu belehren und von ihrer erschreckenden Unwissenheit in Sachen Vergangenheit zu befreien. Schon sehr bald würde das alles vorbei sein, und ihr Leben würde sich, zumindest für ein paar Jahre, nur noch um Kleider, Popmusik, Make-up, Frisuren und Jungs drehen.

  «Er war ein Rebell», informierte ihn Tracy. «Henry IV. hat ihn 1405 hinrichten lassen.»

  «Ach, rutsch mir doch den Buckel runter mit deinen Zahlen, du Klugscheißer!» schimpfte Brian. «Dauernd tust du so, als ob du den ganzen Quatsch auswendig kannst.» Damit wandte er sich seinem Vater zu und gab seine eigene Version der Tagesereignisse zum besten, bevor Tracy noch zu einer Antwort ansetzen konnte.

  «Wir sind mit dem Boot gefahren, Dad, und sie ist regelrecht seekrank geworden», berichtete er mit einem mitleidig-verächtlichen Blick zu seiner Schwester, «und wir sind an der Schokoladenfabrik vorbeigekommen. Ich wollte eigentlich 'ne kleine Tour machen, mit ein paar anderen Jungs, aber die Lehrerin hat's nicht erlaubt. Wollte uns unbedingt den ganzen historischen Kram vorführen und durch diese blöden alten Gassen schleppen.»

  «Durch die Shambles», unterbrach Tracy, «und durch Stonegate und Petergate. Außerdem kannst du froh sein, von der ganzen Schokolade wär euch nur schlecht geworden.»

  «Das hast du doch auch ohne Schokolade geschafft, was?» spottete Brian.

  «Das reicht, Brian!» schritt Sandra ein. «Ihr hört jetzt auf damit, alle beide.»

  Der Rest der Mahlzeit verlief schweigend; Brian schmollte, und Tracy warf ihm finstere Blicke zu, bis beide nach oben verschwanden, um sich vor den Fernseher zu setzen, während Sandra den Tisch abräumte und Banks ihr beim Abwaschen half. Als endlich Ruhe eingekehrt war und sie die beiden Streithähne ins Bett verfrachtet hatten, setzten sie sich noch einen Moment zusammen und gönnten sich einen Schlummertrunk.

  «Ich hab einen neuen Job», verkündete Sandra, während sie den Scotch einschenkte. «Das heißt, er ist eigentlich nicht neu, sondern nur anders.»

  Sandra arbeitete an drei Vormittagen der Woche bei einem Zahnarzt in Eastvale, wo sie die Patienten in Empfang nahm. Banks war neugierig, welche Veränderungen sich da ergeben haben mochten.

  «Dr. Maxwell geht für drei Wochen in Urlaub, und die Praxis müßte geschlossen werden, weil Peggy Matthews - das ist die Empfangsdame von Dr. Smedley - zur gleichen Zeit Urlaub macht.»

  «Doch wohl hoffentlich nicht zusammen mit Maxwell?»

  «Nein», lachte Sandra, «obwohl sich die beiden bestimmt gut machen würden als Bettgenossen. Aber Maxwell hat sich die griechischen Inseln ausgesucht, und Peggy will nach Weymouth. Jedenfalls hat Smedley den Chef offenbar gefragt, ob er mich für eine Weile ausleihen kann. Maxwell hat mir den Vorschlag unterbreitet, und ich habe ja gesagt. Das geht doch in Ordnung, oder? Soweit ich weiß, haben wir doch nichts Besonderes geplant, nicht wahr?»

  «Nein, keine Einwände, was mich betrifft. Ich kann sowieso keine Urlaubspläne machen, solange diese Steadman-Sache nicht geregelt ist.»

  «Gut. Smedley muß ein ungeheurer Perfektionist sein, wie ich gehört habe. Vor allem bei Brücken und Kronen, damit die Farben abgestimmt sind und das alles. Angeblich ist er einer der besten Spezialisten in ganz Yorkshire.»

  «Dann wirst du ja wahrscheinlich mit den feinsten Kreisen zu tun haben. Wer weiß, wen du noch alles kennenlernst?»

  Sandra lachte. «Nun, zum Beispiel Mrs. Steadman, wie mir Peggy erzählt hat. Allem Anschein nach kommt sie wegen einer Wurzelbehandlung oder so was. Sie ist eine richtige Berühmtheit geworden inzwischen.»

  «Seltsam, nicht wahr?» meinte Banks. «Da wird jemandem der Ehemann abgemurkst, und schon gucken die Leute zu der trauernden Witwe hoch, als wär sie die Königliche Hoheit höchstpersönlich.»

  «Ich finde das ganz normal. Unsere Neugier hat eben etwas Morbides.»

  «Meine nicht», widersprach Banks. «Hör mal, ich finde, wir waren schon lange nicht mehr aus, und morgen abend soll in Helmthorpe eine recht gute Folksängerin auftreten. Wie wär's, hast du Lust hinzugehen?»

  «Ah, wir wechseln also das Thema, was ? Helmthorpe - ist das nicht der Ort, wo diese Steadmans wohnen?»

  «Ja.»

  «Aber dein Vorschlag hat doch wohl nichts mit der Arbeit zu tun, Alan? Mit diesem Fall, oder?»

  «Heiliges Ehrenwort. Wir gehen einfach da hin und gönnen uns etwas Folkmusic, wie wir das schon oft getan haben. Frag doch mal Harriet und David, ob sie mitkommen.»

  «Falls sie auf die Schnelle einen Babysitter finden. Was ist mit Jenny Füller? Meinst du, sie hätte vielleicht Lust, uns zu begleiten?»

  «Sie ist doch in Frankreich», meinte Banks. «Auf dieser Weinprobentour, erinnerst du dich ? Sie ist gleich nach dem Semesterende abgefahren.»

  «Die Glückliche! Na schön, dann versuch ich's mal mit Harriet. Aber nur, wenn du mir versprichst, daß es nicht in Arbeit ausartet. Ich habe wirklich keine Lust, als Staffage herumzusitzen, während du gerade irgendeinen Verdächtigen durch die Mangel drehst.»

  «Großes Pfadfinderehrenwort! Außerdem finde ich es nicht besonders nett, mir so was zu unterstellen - ich drehe niemanden durch die Mangel.»

  Sandra lächelte nur. Banks rückte etwas näher und legte seinen Arm um ihre Schulter. «Weißt du...», begann er.

  «Pscht...», flüsterte Sandra und legte den Finger an die Lippen. «Komm, laß uns ins Bett gehen.»

  «Warum? Hast du was gegen unser Sofa?» fragte Banks uns zog sie zärtlich an sich.

 

* IV

 

Sally Lumb fand es heute ausgesprochen schwierig, in den Schlaf zu kommen. Dabei hatte sie sich schon die Augen wund gelesen, an dieser Sturmhöhe, aber das hatte auch nichts genützt. Sie war immer noch hellwach.

  Sie überlegte, was sie mit Kevin machen sollte. Wenn sie nicht bald nachgab, war er bestimmt auf und davon mit irgendeinem Weib, das mehr Erfahrung hatte. Er konnte sich jetzt schon kaum beherrschen und ließ sich garantiert nicht mehr länger von ihr hinhalten. Das Problem war nur, daß sie nicht wollte. Beim letztenmal - an dem Tag, wo sie Penny Cartwright begegnet waren - hatte sie ihn schon ziemlich weit rangelassen, bis kurz davor. Er hatte sich mächtig hart und heiß angefühlt, da unten, und sie hatte unheimlich gezittert und war ganz feucht geworden, genau wie das immer beschrieben war, in diesen Büchern. Natürlich war ihr klar, daß es ganz schön grausam war, die Sache im letzten Moment abzubrechen, aber sie hatten nichts dabeigehabt, zum Schutz, und sie wollte schließlich nicht plötzlich schwanger werden. Außerdem gab's ja noch andere Möglichkeiten, man würde sehen, vielleicht beim nächsten Mal...

  Während sie sich hin und her wälzte und sich wünschte, endlich einschlafen zu können, überlegte sie, was sich wohl aus dieser Geschichte machen ließ, die ihr heute nachmittag eingefallen war. Nicht die Sache mit diesem Wagen Samstag nacht - das war nicht viel wert -, nein, etwas anderes, was sie zuerst nicht ganz erfaßt hatte und was jetzt, bei näherem Hinsehen, irgendwie bedrohlich wirkte und ungeahnte Perspektiven eröffnete. Es war der erste handfeste Beweis, den sie in der Hand hatte, und sie mußte sich unbedingt entscheiden, was sie damit anfangen wollte. Die Polizei fiel aus, das war klar - um blöd dazustehen, wenn's ein Irrtum war, nein, danke! Außerdem war es ohnehin schon längst beschlossen, daß sie die Angelegenheit allein in die Hand nehmen würde. Vielleicht brachte man sie noch groß raus, als Heldin, wer weiß.

  Diese Polizisten waren sowieso völlig vertrottelt; denen war sie doch allemal über. Dieser Typ aus London hatte sie behandelt wie ein dummes Gör, und was war ihm selbst Großartiges eingefallen? Das aufregende Leben in einer Weltstadt einzutauschen gegen dieses sterbenslangweilige Swainsdale, jawohl, das war alles! Unfaßbar, wenn man sich überlegte, daß er für Scotland Yard hätte arbeiten können!

  Wenn ihre Überlegungen zutrafen, war jemand in Lebensgefahr und mußte gewarnt werden. Also würde sie ein geheimes Treffen arrangieren und anschließend - wenn sich ihre Vermutungen bestätigten - überlegen, wie sie dem Täter eine Falle stellen konnte. Der Gedanke war ein bißchen beunruhigend, weil sie sich damit selbst in Gefahr brachte, aber schließlich blieb ihr immer noch die Möglichkeit, Kevin mit einzubeziehen; er war groß und stark und bereit, alles für sie zu tun.

  Und Sally glitt in die Welt ihrer Träume, eine Welt voller Rätsel und verwirrender Szenen. Sie sah die Lichter von London, aufgereiht wie an einer riesigen, funkelnden Kette von Brillanten. Weiter, weiter! drängte der Traum, und die Bilder aus den bunten Magazinen und den Programmzeitschriften überstürzten sich. «Vogue»Models tänzelten über die Champs-Elysees, Hollywoodstars entstiegen ihren Luxuslimousinen unter den Neonreklamen des Sunset Strip, und sämtliche Fernsehberühmtheiten, die sie je gesehen hatte, gaben sich ein Stelldichein auf einer Cocktailparty in Manhattan...

  Allmählich verblaßten die bunten Phantasien, und am nächsten Morgen blieb nur die bizarre Erinnerung an die Straßen von Leeds, die ihr von den gelegentlichen Einkaufsfahrten mit ihrer Mutter vertraut waren. In ihrem Traum hatte sie allerdings das Gefühl gehabt, sich in einer völlig fremden Stadt zu befinden. Überall hatten Polizisten herumgestanden, und sie hatte ihr Fahrrad schieben müssen, weil sie keinen Führerschein gehabt hatte, jedenfalls keinen passenden für Leeds. An den Grund ihrer Reise konnte sie sich nur dunkel erinnern. Sie hatte einen entflogenen Vogel gesucht, einen weißen Vogel aus ihrem riesigen, dunklen Garten, der ausgesehen hatte wie eine weite, grünende Wiese nach dem ersten Regen. Trotz aller Anstrengung konnte sie sich nicht mehr erinnern, ob es ein wilder Vogel oder eine Art Haustier gewesen war, für das sie sich verantwortlich gefühlt hatte. Sie wußte nur, daß es irgendwie wichtig war, daß sie das Fahrrad vor sich hergeschoben hatte, durch diese Menge von Polizisten, und immerfort Ausschau gehalten hatte nach diesem Vogel...

 

* V

 

Banks schob die Kassette mit Finzis Chorfassung von «Intimations of Immortality» in den Rekorder des Autoradios, verließ die Al am Verkehrskreuz Wetherby und nahm die A58 in Richtung Leeds. Es war elf Uhr dreißig am Freitag morgen und damit exakt fünf Tage her, daß man Steadmans Leiche gefunden hatte. Hatchley war nach seinem Besuch in Darlington am darauffolgenden Donnerstag reichlich angesäuselt im Büro erschienen, hatte aber Hacketts Alibi gründlich überprüft und festgestellt, daß es der Wahrheit entsprach. Barnes war inzwischen auch aus dem Rennen, ungeachtet der Tatsache, daß er mangels einer Ehefrau niemanden hatte, der bestätigen konnte, daß er von Mrs. Gaskell direkt nach Hause gegangen war. Seine Finanzen waren jedoch in Ordnung, und es deutete nichts darauf hin, daß ihm während seiner zwanzigjährigen Arzttätigkeit in Helmthorpe auch nur die kleinsten Unregelmäßigkeiten oder Kunstfehler unterlaufen waren.

  Vor seiner Fahrt nach Leeds hatte Banks noch den Papierberg durchgearbeitet, der sich am Vortag auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte: Vernehmungsprotokolle, Wegeskizzen und Termintabellen der einzelnen Personen, Aufstellungen der Fragen, die einstweilen noch offen waren, weil sie nicht gestellt oder unbefriedigend beantwortet worden waren. Eine zweite Durchsicht der Laborberichte hatte keine weiteren Erhellungen gebracht, und die Tatsache, daß sich Constable Weaver und seine Mannen weiterhin durchs Dorf fragten, würde wohl auch kaum zu neuen Erkenntnissen führen, da das Gedächtnis der Leute nach so langer Zeit erfahrungsgemäß deutlich nachließ.

  Zu der Solostimme des Baritons nahm der Chor nun das Anfangsthema wieder auf - «There was a time when meadow, grove and stream...» - und ließ Banks für einen Augenblick die oft unerfreulichen Aspekte seines Jobs vergessen. Finzis Musik machte die Lyrik von Wordsworth immerhin erträglich.

  Nachdem er die Great North Road mit ihrem endlosen Lastwagenstrom hinter sich gelassen hatte, verlief die Weiterfahrt, bei der er keine sonderliche Eile vorlegte, weitaus erfreulicher. Er hatte die direkte und kürzeste Verbindung gewählt, wie bei seinem letzten Besuch in Leeds, als er dort einen Pfandleiher im Zusammenhang mit einer Einbruchsserie vernommen hatte. Damals hatte es allerdings geregnet, an einem trüben, grauen Tag Ende Oktober, und heute schien die Sonne. Es war Sommer, und er fuhr durch eine satte grüne Landschaft, eine friedliche Idylle, die typisch war für die Umgebung englischer Großstädte.

  Die Pfeife war zum zweitenmal ausgegangen, und er gab es auf, sie erneut anzuzünden. Statt dessen rauchte er sie kalt, lauschte Finzis Musik und befand sich bald schon in der Nähe von Seacroft, wo er ohnehin aufpassen mußte, nicht die Richtung zu verfehlen. Die hohen Betonklötze sahen alle mehr oder weniger gleich aus, und es gab wenige Schilder, an denen man sich orientieren konnte. Nach einer langen Unterführung landete er schließlich im Stadtzentrum und stellte den Wagen in der Nähe des Rathauses ab. Von hier aus konnte er bereits den hohen weißen Turm der Universitätsbibliothek erkennen, den ihm Gristhorpe noch am Morgen beschrieben hatte, im Rahmen einer kurzen Einführung in die Geschichte und die architektonischen Besonderheiten der Stadt.

  Da er keine konkrete Vorstellung hatte, wie er den Herren Professoren begegnen sollte, hatte er beschlossen, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Einstweilen hatte man lediglich miteinander telefoniert und sich zum Mittagessen in einem Pub bei der Universität verabredet. Trotz der offiziellen Semesterferien fuhren Darnley und Talbot nahezu täglich in ihre Büros, wobei nicht klar zu erkennen war, ob sie sich dort ihren Forschungen widmeten oder einfach nur ihren Frauen entgehen wollten. Darnley hatte sich jedenfalls am Telefon ausgesprochen interessiert gezeigt an einem «kleinen Schwatz mit der Polizei», dabei aber so nüchtern geklungen, als halte er einen Vortrag über die Paarungstechniken der Lemuren.

  Da ihm noch eine Stunde Zeit blieb bis zu dem verabredeten Treffen, beschloß er, Gristhorpes Rat zu folgen und das Rathaus zu besichtigen, einen imposanten Bau im viktorianischen Stil, perfekt gestaltet mit kannelierten Säulen, gewaltiger Dachkuppel, einer Turmuhr und zwei ruhenden Löwen zu beiden Seiten der breiten Freitreppe.

  Banks bewunderte die monumentale Sandsteinfassade des Gebäudes, die kühnen, klassischen Linien seines Entwurfs, die den Eindruck erweckten, als könne man den Stolz der Bürger, die dieses Bauwerk hatten entstehen lassen, mit Händen greifen. Königin Viktoria war bei der Einweihung zugegen gewesen, erinnerte sich Banks und stellte sich vor, daß die gekrönten Häupter in jener Zeit wohl viel zu tun gehabt hatten mit solchen Eröffnungszeremonien.

  Er schlenderte ins Innere des Gebäudes, vorbei an den Statuen von Viktoria und Albert im Foyer, in den großen Festsaal, den man offenkundig erst vor kurzem restauriert hatte. Rundum an den Wänden erhoben sich riesige Säulen aus grün, blau und rosa marmoriertem, poliertem Stein zu einer Decke aus glänzenden, farbigen Holzpaneelen, quadratisch angeordnet und mit Blattgoldverzierungen an den Ecken. Über den auf der Empore gelegenen Sitzplätzen waren Schmucktafeln mit Zitaten und Sinnsprüchen aus viktorianischer Zeit angebracht: EXCEPT THE LORD BUILD THE HOUSE, THEY LABOUR IN VAIN THAT BUILD IT; EXCEPT THE LORD KEEP THE CITY, THE WATCHMAN WATCHETH BUT IN VAIN; WEAVE THE TRUTH WITH TRUST; LABOR OMNIA VINCIT. Im Hintergrund der Orchesterbühne erhob sich eine majestätische Orgel.

  Banks warf einen Blick auf seine Uhr und schlenderte gemächlich zum Ausgang. Seine Schritte hallten durch die Stille. Es war wirklich ein eindrucksvolles Bauwerk, und ihm dämmerte allmählich, was Steadman an diesen geschichtlichen Dingen so fasziniert hatte.

  Aber auch Hacketts Empörung über die Glorifizierung der Vergangenheit wurde verständlicher an einem Ort wie diesem. Die wohlhabenden Ratsherrn und Kaufleute hatten offensichtlich alles darangesetzt, der Queen Victoria den Anblick der weniger herzeigbaren Stadtviertel zu ersparen: die endlosen Ketten der Rücken an Rücken liegenden ärmlichen Reihenhäuser mit ihren undichten Dächern und ewig feuchten Wänden, in denen die namenlose Masse vegetiert hatte. Der vielen kleinen Leute, durch deren Arbeit und in deren Namen - im Namen des sogenannten Bürgerstolzes - ein Prachtbau wie dieses Rathaus erst möglich geworden war, während sie selbst zu Schmutz und Elend verdammt waren und obendrein noch bezichtigt wurden, wie die Tiere zu hausen. Gristhorpe hatte sogar von einem Apotheker berichtet, der beim Erscheinen des königlichen Geleitzuges rund um seinen Laden Parfüm zerstäubt hatte, um die erlauchten Nasen nicht mit dem Armeleutemief zu beleidigen. Es kam eben immer darauf an, auf welcher Seite man stand und aus wessen Perspektive man die Dinge sah, dachte Banks.

  Nach einem kurzen Blick in den Stadtplan setzte er seinen Weg fort, zwischen Rathaus und Bibliothek hindurch über die Caverley Street, vorbei an der Stadthalle - einem großen weißen Bau mit zwei spitzen Doppeltürmen und bunt blühenden Gartenanlagen -, den städtischen Kliniken und dem Polytechnikum bis zu den Ausläufern des Universitätsgeländes. Schließlich gelangte er zu einem viereckigen Komplex von nüchtern-modernen Gebäuden, die eher nach Bürohäusern aussahen und deutlich machten, daß es ein langer Weg war von den verträumten Giebeln Oxfords und Cambridges zu den Zweckbauten der Moderne. Aber Leeds war nun mal eine Universität der neuen, der Ära nach Oxford und Cambridge, eine sogenannte Redbrick University, obwohl nirgendwo auch nur die Spur eines roten Ziegelsteins zu erkennen war.

  Mit Hilfe einer knochigen, bebrillten Sekretärin fand er zum Fachbereich Geschichte und zu Darnleys Büro, wo ihn der Professor schon erwartete und mit einem knappen, festen Händedruck begrüßte, offensichtlich bereit, sich unverzüglich zum Essen zu begeben.

  «Talbot kommt direkt rüber ins Lokal», erklärte er. «Im Moment ist er noch auf einer Sitzung mit einem seiner Doktoranden.»

  Banks folgte ihm über einen Fußpfad hinter dem Gebäude zu einer schmalen, mit Kopfstein gepflasterten Gasse. Der Pub selbst befand sich in einem etwas abseits von der Straße gelegenen Hotel, das man über einen kurzen Privatweg erreichte. Da das Wetter warm und sonnig war, entschieden sie sich für einen Tisch auf der Terrasse.

  Darnley war ein hochgewachsener Mann um die Vierzig, gut gebaut und in offensichtlich bester körperlicher Verfassung. Er sprach mit einem leicht nordischen Akzent und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Banks' Vorstellung von einem zerstreuten Professor. Sein kurzgeschnittenes braunes Haar war akkurat gekämmt, der Anzug schien ihm eine halbe Nummer zu groß zu sein, war jedoch von guter Qualität und hatte ihm beim Kauf sicher bestens gepaßt. Vermutlich hatte er, wie die meisten Männer seines Alters, aus Angst vor Herzattacken und sonstigen, von sitzender Lebensweise herrührenden Plagen, mit einem Fitnesstraining begonnen.

  Die Sonne schien hell, und die beiden Männer blinzelten mit den Augen, während sie das frischgezapfte Guinness antranken und Banks seine Pfeife nebst Tabak und Feuerzeug auf dem Tisch deponierte.

  «Ah, Sie sind Pfeifenraucher, wie ich sehe», stellte Darnley fest. «Ein Hauch von Maigret, wie? Ich hab auch mal daran gedacht, auf Pfeife umzusteigen, aber es ist einfach zu umständlich. Jahrelang hab ich mich damit rumgeschlagen, meinen Zigarettenkonsum zu reduzieren und auf mildere Sorten zu wechseln, um mir das Rauchen abzugewöhnen, und am Ende hab ich dann eingesehen, daß es nur einen Weg gibt - den harten Entzug. »

  «Was aber wohl nicht so leicht ist, wie es klingt», meinte Banks, während er die gepreßten Tabakkrümel in die Pfeife stopfte und vorsichtig zusammenpreßte.

  «Oh, nein, ganz bestimmt nicht», lachte Darnley, «und es gab auch einige Rückfälle. Aber inzwischen spiele ich jeden Tag eine Partie Squash und jogge ein paar Meilen, und es ist wirklich verblüffend, wie einen diese Dinge vom Rauchen abbringen können. Ob Sie's glauben oder nicht, aber bis vor einem Jahr etwa war ich noch ganz schön übergewichtig, habe zu viel getrunken - puh!»

  «Hat der Doktor ein Machtwort gesprochen?»

  «Und ob! Er hat mir klipp und klar gesagt: «Wenn Sie so weitermachen, alter Knabe, geb ich Ihnen noch zehn Jahre, allerhöchstens.> Offen sei allenfalls die Frage, was zuerst streiken würde - Herz, Leber oder Lunge -, aber so oder so hätte ich beste Aussichten auf den Himmel. Kann sein, daß er es etwas knapper ausgedrückt hat, aber ich hatte jedenfalls verstanden, was er meinte.» Er beobachtete besorgt, wie Banks seine Pfeife ansteckte, und meinte: «Naja, ich nehme an, man braucht so seine Requisiten in Ihrem Beruf. Um die Leute in Sicherheit zu wiegen oder so was.»

  Darnleys wacher, intelligenter Blick gefiel Banks. Er lächelte und gab zu, daß derlei Mittel mitunter hilfreich sein konnten.

  «Aber Sie werden sie doch hoffentlich nicht bei mir einsetzen wollen? Oder betrachten Sie mich als Verdächtigen?» fragte Darnley mit einem Lächeln, dem jedoch die Spannung anzumerken war.

  «Noch nicht», erwiderte Banks und erwiderte Darnleys Blick.

  «Touché! Mit anderen Worten - wenn ich mich schon in den Vordergrund stelle, werden Sie das Angebot nicht ablehnen, nicht wahr?»

  «Kein Grund, sich Gedanken zu machen», versicherte Banks. Er wußte immer noch nicht so recht, wie er diesem wachen, intelligenten Mann begegnen sollte, hinter dessen lockerer, spielerischer Fassade sich zweifellos ein stahlharter Verstand und ein vielschichtiger, möglicherweise gar gerissener Charakter verbargen.

  Er beschloß, noch eine Zeitlang den Harmlosen zu spielen. Wenn Talbot eintraf, würde die heitere Stimmung ohnehin ein Ende haben. «Trotzdem spricht eigentlich nichts dagegen, daß Sie mir sagen, wo Sie Samstag abend waren», meinte er.

  Darnley blinzelte verschmitzt, doch seine Augen blieben hart und wachsam. «Bedauerlicherweise kann ich mit einem Alibi nicht dienen, Chief Inspector, und zwar für das gesamte Wochenende. Ich hatte eine Menge Arbeit nachzuholen und bin den ganzen Samstag zu Hause geblieben, um Klausuren durchzusehen und eine neue Interpretation des Peterloo-Massakers zu lesen. Meine Frau war natürlich auch da, aber das zählt wohl nicht, stimmt's?»

  Banks lachte. «Solange ich sie nicht selbst gefragt habe, kann ich das wohl kaum wissen, oder?»

  «Sie sind ganz schön listig, wie die Schotten sagen würden. Nein, in der Tat, das können Sie nicht wissen.»

  «Warum waren Sie nicht auf der Beerdigung?»

  «Ich war nicht geladen, niemand von uns. Wir wußten nicht mal, wann die Trauerfeier stattfinden sollte, und daß er gestorben ist, habe ich erst durch die Todesanzeige in der Yorkshire Evetiing Post erfahren.»

  «Hatten Sie sich denn ganz aus den Augen verloren?»

  «Ja, sozusagen.»

  Nach einem kurzen, belanglosen Geplänkel und einem weiteren schäumenden Stout schien sich Darnley allmählich zu entspannen, und Banks begann, ihn über seinen Beruf auszufragen, um dem Gespräch eine sachliche Wendung zu geben. «Ich könnte mir vorstellen, daß Sie auch gelegentlich zu ein paar Hilfsmitteln greifen müssen», meinte er. «Es ist sicher nicht so einfach, mutterseelenallein vor hundert oder mehr Studenten zu stehen und eine ganze Stunde lang zu reden.»

  «Von dieser Warte aus gesehen, klingt es tatsächlich einigermaßen beklemmend», räumte Darnley ein. «Man gewöhnt sich zwar daran, aber das Lampenfieber zu Beginn geht nie ganz weg, da haben Sie schon recht. Natürlich hab ich immer noch meine Notizen, auf die ich zurückgreifen kann, aber im Grunde geht einem Lehrer, der sein Geld wert ist, eigentlich nie der Stoff aus. Man kann immer noch improvisieren, ohne daß die Studenten etwas merken. Manchmal denk ich, daß ich ihnen ohne weiteres erzählen könnte, Adolf Hitler wäre einer der größten Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen, und sie würden es einfach mitschreiben, ohne hellhörig zu werden. Und was die Hilfsmittel und Tricks betrifft... nun ja... jeder hat halt so seine eigenen Methoden entwickelt, um sich da vorn einigermaßen wohl zu fühlen. Wirklich merkwürdig, der eine geht zum Beispiel ständig auf und ab, ein anderer hängt die ganze Zeit über dem Vortragspult, und wieder andere setzen sich auf irgendeine Tischkante und falten die Arme über der Brust. Einer, den ich kannte, hat während der ganzen Vorlesung an seinen Schlüsseln gefummelt. Dummerweise hatte er die Dinger in der Hosentasche, und die Studenten haben alle geglaubt, daß er mit seinen edelsten Teilen spielt.»

  Sie mußten beide lachen. «Und wie war Harry Steadman?» erkundigte sich Banks, eher beiläufig.

  Darnley warf ihm einen raschen Seitenblick zu. «Harry war einfach gut», antwortete er. «Unser Kontakt ist zwar abgebrochen, und ich habe ihn nur noch selten gesehen, nachdem er die Universität verlassen hatte, das stimmt schon, aber früher haben wir uns recht nahe gestanden, und es tut mir wirklich sehr leid, daß er so früh gestorben ist. Ich würde sagen, wir waren eher gute Kollegen als dicke Freunde - falls man da überhaupt einen Unterschied machen kann -, und er war außergewöhnlich begabt, wie Sie sicher bereits wissen. Sehr ehrgeizig auch, ja, aber nur in seinem Fach. Er hat fest geglaubt an die Dinge, mit denen er sich beschäftigte - an die Lehre, die Forschung, die Entdeckung neuer Gebiete -, er war überzeugt von dem gesellschaftlichen Nutzen seiner Arbeit, und das ist eine Einstellung, die heutzutage selten geworden ist, glauben Sie mir. Es hat sich ein erschreckender Zynismus breitgemacht im Bildungswesen, vor allem, seit die Regierung uns Professoren offenbar für ziemlich entbehrlich hält.»

  Banks nickte. «Mit der Verbrechensbekämpfung ist es ähnlich. Die Schlacht ist jetzt schon verloren, zumindest aber hat man den Eindruck, auf verlorenem Posten zu stehen, und das ist der Arbeitsfreude nicht gerade förderlich.»

  «Trotzdem scheint man wenigstens an den Nutzen Ihrer Tätigkeit zu glauben. Immerhin wird einiges investiert, in höhere Löhne, mehr Personal und zeitgemäße Ausstattung.»

  «Das ist wahr, allerdings war das auch schon seit langem überfällig», bekannte Banks, der wenig Lust verspürte, diese Diskussion zu vertiefen, zumal er eine Menge auszusetzen hatte an der Art, wie die Regierung darauf hinarbeitete, die Polizei zu einer kleinen Privatarmee aufzurüsten, sie zu einer gutbezahlten Schlägertruppe zu machen, die man nach Belieben gegen alle Unterprivilegierten einsetzen und bei Unbotmäßigkeiten jederzeit entlassen konnte. Ein Bulle mit sozialen oder zumindest humanistischen Neigungen war vermutlich ein ziemlich harter Brocken für einen Mann wie Darnley, überlegte Banks. Außerdem war er ja eigentlich kein Bulle, sondern ein Detektiv, ein Kriminalbeamter, den man fürs Denken bezahlte und nicht dafür, die entfesselten Volksmassen im Zaum zu halten und dem aufgebrachten Pöbel eins über die Rübe zu geben.

  «Ich bin einfach nur neidisch», erklärte Darnley. «Wir Akademiker haben schließlich auch unseren Stolz, und ich wäre froh, wenn für uns ein größeres Stück von dem Kuchen abfiele. Harry war ein fabelhafter Dozent, der es immer geschafft hat, seine Studenten mitzureißen und zu begeistern. Das ist gar nicht so leicht heutzutage, wo man ständig gegen das Fernsehen, gegen Videospiele und Gott weiß was noch ankämpfen muß. Unterbrechen Sie mich, wenn Sie das Gefühl haben, daß ich ihn zu sehr in den Himmel hebe - aber es ist einfach wahr. Er war besessen von der Forschung, von der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit, zu besessen sogar, und das war auch der Grund, warum er seinen Job aufgegeben hat. Mit einemmal war genügend Geld da, um das zu tun, was er für richtig hielt - und genau das hat er getan. Jeder andere hätte wahrscheinlich den ganzen Krempel hingeschmissen, sich nach Südfrankreich abgesetzt und ein Leben in Saus und Braus geführt, aber für Harry kam das nicht in Frage. Er war ein Mann mit Berufung.»

  In diesem Moment trat ein kleiner dicklicher Mann an den Tisch. Sein Schädel war kahl bis auf ein paar dünne graue Haarbüschel oberhalb der Ohren, und die tiefen Furchen zwischen seinen breiten Brauen, zusammen mit dem schmalen, verkniffenen Mund, gaben ihm das Aussehen eines kleinkarierten Griesgrams. Die Stimme klang kultiviert, aber so leise, daß sich Banks fragte, wie man mit dieser Tonlage einen ganzen Hörsaal füllen mochte. Ansonsten erwies sich der Neuzugang als eher schweigsam, begnügte sich damit, ebenfalls ein Roastbeefsandwich und ein Stout zu bestellen und stumm dazusitzen, während die beiden andern ihr Gespräch fortsetzten.

  «Ich denke, ich habe jetzt eine recht klare Vorstellung von Mr. Steadman, soweit es seinen Beruf betrifft», meinte Banks. «Offenbar sind sich alle darüber einig, daß er für seine Arbeit die richtige Begabung hatte, die innere Berufung und vielleicht sogar die nötige Besessenheit.»

  Talbot gab einen skeptischen Laut von sich und begann zu sprechen, mit einer Stimme, die von einer Erziehung in Cambridge zeugte, von den Nöten, sich im Hörsaal verständlich zu machen, und der Neigung zu dem einen oder anderen Gläschen Sherry am Nachmittag. «Nun, eh, Chief Inspector, eine Besessenheit müssen wir doch wohl ihrem Wesen nach als etwas Ungesundes definieren, meinen Sie nicht auch? Es geht mir hier nicht um irgendwelche semantischen Wortklaubereien, aber Sie werden doch wohl zugeben müssen, daß dieser Begriff eindeutig einen Beiklang von Unnormalität, von geistiger Verwirrung hat - und Harold Steadman war mit Sicherheit nicht im entferntesten geistesverwirrt. Insofern also auch keineswegs besessen», stellte er fest, während seiner gesamten Ansprache heftig die Stirn runzelnd, als bereite ihm schon allein der Gebrauch des Wortes größtes Unbehagen.

  «Tut mir leid, Professor Talbot», entschuldigte sich Banks, «ich habe nichts Derartiges andeuten wollen. Nein, es gibt in der Tat einen erheblichen Unterschied zwischen Berufung und Besessenheit, aber ich habe eigentlich nur wissen wollen, ob sich Steadman auch für andere Dinge Zeit genommen hat. Für Sozialkontakte etwa. War er gesellig, ging er zu Partys, hat er gelegentlich ein Gläschen getrunken?»

  Talbot starrte verbissen in sein Glas, als suche er angelegentlich nach einer wissenschaftlich exakten Definition des Begriffs «Besessenheit» und könne die Deutung solcher Banalitäten wie «Sozialkontakte» getrost den niederen Chargen überlassen.

  «Weißt du, was, Godfrey», meinte Darnley liebenswürdig und offensichtlich völlig blind für die geringschätzige Haltung seines Kollegen, «der Chief Inspector liegt vielleicht gar nicht so falsch.» Er bedachte Banks mit einem verschwörerischen Zwinkern. «Es stimmt schon, Harry hat ganz gerne mal einen getrunken und sich gelegentlich auch auf den Fakultätsfesten blicken lassen, aber so richtig wohl war ihm dabei eigentlich nicht. Vor allem, wenn er sich nicht so ganz in seinem Element fühlte, sozusagen, wenn also niemand da war, mit dem er über sein Fach sprechen konnte. Da blieb dann nicht viel, aus Sport hat er sich nicht viel gemacht, ferngesehen hat er auch nie, und hinter Frauen war er ganz gewiß nicht her.»

  «Wollen Sie damit sagen, daß er sich unbehaglich gefühlt hat unter Nichtakademikern?»

  «Oh, nein, da haben Sie einen völlig falschen Eindruck - Harry war überhaupt kein Bildungssnob. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß ich ihn einmal in Gratly besucht habe - kurz nachdem er umgezogen war - und daß wir einen sehr vergnüglichen Abend verbracht haben, in einer reichlich verkommenen Spelunke, mit einem Burschen, der irgendwelche Thriller schrieb, und ein paar anderen Knaben aus dem Dorf. Nein, Harry hat eigentlich mit jedem geredet und sich immer schon beklagt über dieses ganze intellektuelle Getue unter Akademikern. Es war einfach so, daß sein ganzes Herz der Arbeit gehörte, und da diese Arbeit nun mal mit Menschen zu tun hatte, hat er sich auch gern mit ihnen umgeben. Dieses Fachgebiet, mit dem er sich beschäftigte, hat wirklich eine außerordentlich starke menschliche Komponente, verstehen Sie, es ist keineswegs abstrakt, und insofern war er immer interessiert an ganz normalen Leuten, an ihrem Werdegang und ihren Lebensumständen. Wie Sie sicher wissen, hat er sich in der Hauptsache mit Industriearchäologie und der Zeit der römischen Besatzung beschäftigt, aber er begeisterte sich auch für Folkmusic, für die alten Sagen und Märchen und solche Dinge. Außerdem war er ganz fasziniert von der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung und den radikalen Vorkämpfern der Arbeiterklasse. Man konnte also durchaus behaupten, daß Harry recht vertraut war mit dem sogenannten gemeinen Volk und daß er einfach keine Zeit hatte, sich mit sinnlosem Partygeschwätz abzugeben. Er hatte eben immer die Neigung, das Gespräch auf seine eigentlichen Interessen zu lenken.»

  Talbot tat mit einem mürrischen Nicken sein Einverständnis kund und zündete sich eine Zigarette an. «Lassen Sie es mich einmal so sagen, Chief Inspector Banks», begann er im Ton eines Professors, der einen begriffsstutzigen Studenten vor sich hat, «wenn Sie jetzt, in diesem Moment, hier mit Harold Steadman am Tisch sitzen würden - was sich nach Lage der Dinge natürlich von selbst verbietet -, hätte er Sie bereits nach Ihrem Job gefragt und wissen wollen, wie er Ihnen gefällt, nur, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Er hätte festgestellt, wo Sie herkommen, wie Ihr familiärer Hintergrund beschaffen ist, und Sie schließlich - je nachdem, wie interessant ihm diese Dinge erschienen wären - weiter ausgefragt - beispielsweise darüber, ob Ihr Vater Gewerkschafter gewesen ist oder Landarbeiter in den Dales oder er hätte Ihnen etwas über die Geschichte Ihrer Gegend erzählt, über die Querverbindungen mit dem Rest des Landes, über den Einfluß der Römer auf dieses Gebiet und dergleichen Dinge mehr. Mit anderen Worten, er war unterhaltsam, und man fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Da er ein Gefühl dafür hatte, wann er die Leute langweilte, hielt er rechtzeitig den Mund und hörte eine Zeitlang höflich zu. Wenn er allerdings umgekehrt zu dem Ergebnis gekommen wäre, daß Sie ihn langweilen», meinte Talbot und schnippte gekonnt die Zigarettenasche ab, «hätten Sie wohl nicht sehr viel Freude an ihm gehabt. Ist das so ungefähr richtig, Darnley?»

  Darnley nickte.

  «Was ist mit Mrs. Steadman? Hatten Sie häufig Kontakt zu ihr, während der Zeit in Leeds?» erkundigte sich Banks bei Talbot, der offenbar recht mitteilsam geworden war, aber schließlich war es Darnley, der seine Frage beantwortete.

  «Ja, zu Anfang schon. Ein hübsches junges Ding, wirklich. Die beiden waren damals natürlich noch fremd hier und wollten ein paar Leute kennenlernen, um in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. Aber dann hat sie sich sehr bald wieder zurückgezogen, wie die meisten Professorenfrauen. Das ist keineswegs ungewöhnlich, glauben Sie mir. Meine Frau zum Beispiel würde sich heute unter keinen Umständen auf einer dieser akademischen Versammlungen blicken lassen. Das wird langweilig, man bleibt lieber zu Hause, wo man sich gehen lassen kann, und mit den Jahren achtet man dann auch immer weniger auf sein Aussehen, Sie verstehen?»

  Banks zog es vor, sich nicht dazu zu äußern, da er nicht ganz sicher war, ob Darnley seine eigene Frau meinte oder von Emma Steadman sprach.

  Das Gespräch wandte sich wieder allgemeineren Themen zu und wurde vorwiegend von Darnley bestritten, während Banks allmählich bewußt wurde, daß er hier wohl an der falschen Adresse war und keine besonderen Erkenntnisse mehr erwarten konnte.

  Als Banks ging, hatte er das Bild eines jungverheirateten Paares im Kopf - ähnlich dem, das Sandra und er einmal dargestellt haben mochten - und das eines Ehemanns, der im Begriff stand, eine steile akademische Karriere zu machen. Da waren die langen Sommer in Gratly, im Haus der Ramsdens; da war der Sohn Michael, jung und ehrgeizig und verliebt in Penny; da war das weite, blühende Tal, nichts als Frieden und Unschuld und die Aussicht auf eine wunderbare, glänzende Zukunft für alle.

  Für Steadman schienen sich die Dinge tatsächlich immer besser und besser entwickelt zu haben; für Emma hatten sie den Rückzug aus der Öde des akademischen Lebens in die häusliche Langeweile gebracht; für Penny einen jähen Aufstieg in die wilde und aufregende Welt des Showbusiness, der sie einsam und zynisch gemacht hatte, losgelöst von ihren Wurzeln; und für Ramsden die stetige Entwicklung zum Publizisten und die Rückkehr in die geliebte nordische Heimat. Eine regelrechte Idylle, das Ganze, aber nun hatte es einen Toten gegeben. Was war falsch gelaufen ? Und warum?

  Eine Stunde später war er der Lösung dieser Fragen nicht näher gekommen, aber sein Geist fühlte sich freier und leichter - trotz der dunklen Wolken während er durch die reizvolle Landschaft der Dales fuhr und Benjamin Brittens Variationen alter englischer Volkslieder mitsang.

 

* VI

 

Man hatte sich beim Griechen versammelt, schlürfte Cola und sprach über Jungs, unter den wachsamen, lüsternen Blicken des Wirts. Hazel Kirk hatte am Abend zuvor ihr erstes Date gehabt, mit Terry Preston, dem Sohn des Lebensmittelhändlers, und wußte höchst anregende Geschichten zu erzählen von den fleißigen Händen des jungen Mannes und von ihren Versuchen, ihn wenigstens von den intimsten Körperteilen fernzuhalten. Einmal war ihr das nicht so ganz gelungen, und sie errötete leicht, als sie ihren Freundinnen schilderte, welche überraschenden Gefühle sich dabei eingestellt hatten.

  Sally Lumb, die normalerweise recht lebhaftes - wenn auch eher gönnerhaftes - Interesse an solchen Gesprächen zeigte, schien heute nicht ganz bei der Sache zu sein, was die anderen wohl bemerkten, Hazel allerdings wenig beeindruckte. Sie hatte keineswegs vor, sich um ihre erregendsten Erfahrungen bringen zu lassen, nur weil Madam zu schmollen beliebte.

  Anne Downes, die wahrscheinlich das meiste Gespür hatte für die Stimmungen anderer - und zweifellos das geringste Interesse an Jungs und deren rätselhaften Gelüsten -, wartete gelassen, bis Kathy Chalmers ihr albernes Kichern abgestellt hatte, und versuchte, das Thema zu wechseln.

  «Wißt ihr eigentlich, daß sie ihn immer noch nicht gefaßt haben?» meldete sie und rückte ihre Brille zurecht.

  «Wen?» erkundigte sich Hazel barsch, deutlich verärgert, daß man sie von anderen, weit wichtigeren Dingen ablenkte.

  «Den Mörder natürlich, wen denn sonst? Den Kerl, der Mr. Steadman gekillt hat.»

  «Woher willst du wissen, daß es ein Kerl war?» meinte Hazel, die diese Frage aus zahllosen Fernsehsendungen kannte.

  «Liegt doch wohl auf der Hand, oder?» fauchte Anne. «Müßte schon 'ne verdammt starke Frau sein, um ihm den Schlag zu verpassen und ihn dann über das ganze Feld zu schleppen, bis rauf zum Crow Star.»

  «Dann war's bestimmt Mrs. Butterworth», warf Kathy ein. Alles lachte beim Gedanken an die riesenhafte, rotgesichtige Metzgersfrau, die ihren schmächtigen, eingeschüchterten Ehemann wie ein Turm überragte.

  «Laß die Albernheiten», meinte Anne, die sich immerhin ein Lächeln gestattet hatte. «Welchen Grund sollte sie denn gehabt haben? Außerdem hätte sie wahrscheinlich einen Herzanfall bekommen, bei der Anstrengung.»

  «Jimmy Collins hat mir erzählt, daß die Polizei Penny Cartwright vernommen hat, und den Major», verkündete Kathy. «Wie er sagte, war der Alte nicht gerade begeistert.»

  «Wie kommt er denn darauf?» wollte Anne wissen.

  «Er war gerade unten, im Laden. Meine Mutter sagt immer: <Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg>, und wenn ihr mich fragt, ist es Penny gewesen. Ich wette, sie hatte 'ne heiße Affäre mit Mr. Steadman und hat verlangt, daß er seine Frau verläßt und sie heiratet. Und als er das nicht wollte, hat sie ihn einfach umgebracht.»

  «Quatsch», erklärte Anne. «Wenn sie das gewollt hätte, wär es doch gescheiter gewesen, seine Frau umzubringen und nicht ihn.»

  Kathy verstummte angesichts dieser Logik, aber Hazel nahm den Faden wieder auf. «Na gut, das muß es ja nicht unbedingt gewesen sein», meinte sie. «Gibt noch genug andere Gründe. Jeder weiß doch schließlich, daß sie ewig lange weg war und Drogen genommen hat. Und von ihrer Pro... Prom...»

  «Promiskuität?» schlug Anne vor.

  «Jawohl, Promiskuität, du Schlauberger - genau das. Vielleicht hatte sie 'n Kind von ihm, oder er hat irgendwas gewußt, aus ihrer Vergangenheit. Immerhin haben sie sich schon seit Jahren gekannt.»

  Die anderen schwiegen, um diesen Gedanken zu verarbeiten. «Kann sein, daß du recht hast», räumte Anne ein, «aber man bringt doch keinen um, nur weil man 'n Kind von ihm hat, oder? Nein, ich glaub, es war Jack Barker.»

  «Und warum soll er's gemacht haben?» fragte Kathy.

  «Vielleicht wollt er nur 'n Experiment machen, für sein nächstes Buch», scherzte Hazel.

  «Vielleicht ist er verliebt in Penny Cartwright und wollte Steadman aus dem Weg schaffen, damit er sie für sich allein hat», gab Anne zu bedenken. «Aber da ist noch was - wie ich gehört hab, hat die Polizei Teddy Hackett ganz schön in die Mangel genommen, neulich.»

  «Hat auf alle Fälle reichlich blaß ausgesehen, als ich ihm begegnet bin», bekräftigte Hazel.

  «Mein Vater hat gehört, wie sie sich gestritten haben vor ein paar Wochen - Hackett und Steadman», gab Anne bekannt.

  «Sieht jedenfalls nicht so aus, als ob sie ihn für den Mörder halten», resümierte Hazel, «sonst hätten sie ihn ja wohl längst in Gewahrsam verhaftet. Garantiert hat er 'n luftdichtes Alibi.»

  «Das heißt <wasserdicht>, du dummes Huhn», lachte Anne. «Außerdem können sie ihn entweder nur «verhaften» oder in Gewahrsam <nehmen>, daß du's weißt.»

  «Na schön, Miss Neunmalklug. Und was weiter?»

  «Möchte wissen, wie sie heißt», meinte Kathy. «Teddy Hacketts Alibi-Braut.»

  Diesmal mußten alle lachen. In ihren Augen war Hackett nichts weiter als eine lächerliche Figur - mit seinem müde herabhängenden Schnurrbart, seinem schütter werdenden Haar, seiner protzigen Goldkette und dem schlaffen Bierbauch über der pompösen Gürtelschnalle -, er war der Inbegriff eines alten Schafbocks, der sich als Lamm verkleidet hatte.

  «Sally, was ist mit dir?» erkundigte sich Anne. «Du bist verdächtig still heute, muß ich sagen.»

  «Oh, mir sind da nur so ein paar Ideen gekommen», meinte Sally hintergründig, «aber ich muß erst mal sehen, was an der Sache dran ist.»

  Damit verließ sie das Lokal und hatte es wieder einmal geschafft, daß ihr die anderen verblüfft nachsahen und sich fragten, ob sie diese Andeutungen ernst nehmen sollten oder nicht.