Warm und klar wie die voraufgegangenen fünf Tage dämmerte der Montagmorgen über Helmthorpe heran. Ein eher ungewöhnliches Ereignis zu dieser Jahreszeit, das normalerweise reichlich Gesprächsstoff abgegeben hätte, aber heute gab es eine weit größere Sensation zu bereden.
Auf dem Postamt war bereits Mrs. Heseltine in Stellung gegangen, alt und gebeugt, aber von rastloser Neugier geplagt und bewaffnet mit dem monatlichen Brief an ihren Sohn in Kanada («Macht sich gut, der Junge... Is jetzt 'n richtiger Professor...»).
«Erwürgt, von 'nem Verrückten», raunte sie immer wieder in verschwörerischem Ton. «Und das hier, mitten im Dorf. Wo soll das noch hinführen, ich weiß es nicht, wirklich. Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher heutzutage. Am besten schließt man sich gleich ein und geht nicht mehr vor die Tür, wenn's dunkel ist.»
«Unsinn!» meinte Mrs. Anstey resolut. «Das war bestimmt seine Frau. Um das Geld zu kriegen, is doch klar. Mein Alfred hat immer gesagt, Geld ist die Wurzel allen Übels, jawohl, das können Sie mir glauben.»
«Tja, ja», murmelte Miss Sampson gedämpft, «weil er nie was verdient hat, der faule Strick.»
Mrs. Dent, die jeden Gruselschmöker aus der Dorfbibliothek und den umliegenden Städten Eastvale und York studiert hatte, entwikkelte etwas mehr Phantasie und vertrat die Theorie, daß dies zweifellos nur der Anfang einer weiteren Mordserie sei.
«Das ist wie bei Brady und Hindley», erklärte sie. «Die werden überall die Leichen rausbuddeln. Da war doch dieser Billy Maxton. Ist spurlos verschwunden. Und dann diese Mary Richards. Ihr werdet schon sehen, die kommen noch alle zum Vorschein.»
«Ich dachte, dieser Maxton und die Richards wären durchgebrannt, nach Swansea», warf Letitia Stanford, die spindeldürre Posthalterin, ein. «Auf jeden Fall kommen sie garantiert und fragen uns aus. Dieser kleine Mann aus Eastvale, ihr werdet schon sehen. Ich hab ihn beobachtet, wie er gestern überall rumgeschnüffelt hat.»
«Ja, ich hab ihn auch gesehen», bestätigte Mrs. Heseltine. «Bißchen kurz für'n Polizisten.»
«Der kommt doch aus dem Süden», meinte Mrs. Anstey, als sei damit die Frage der Größe ein für allemal erledigt.
In diesem Augenblick ertönte das schrille Klingeln der Türglocke, und Jack Barker erschien, um eine Kurzgeschichte aufzugeben und an eine der wenigen Zeitschriften zu senden, die es ihm ermöglichten, sich auf diese Weise ein Zubrot zu verdienen. Er begrüßte die versammelten Damen, die ihn wie verschreckte Hühner anstarrten, mit einem strahlenden Lächeln, wünschte ihnen einen guten Morgen, erledigte seine Geschäfte und verschwand von der Bildfläche.
«Aha», schnaubte Miss Sampson entrüstet, «so was nennt sich nun Freund. Möchte mal wissen, wie sich dann die Feinde von dem armen Steadman erst aufführen.»
«Bißchen komisch is der schon, das is wahr», stimmte Letitia Stanford zu, «aber nich der Typ, der Leute umbringt.»
«Woher wollen Sie das denn wissen?» fragte Mrs. Dent ungehalten. «Vielleicht sollten Sie mal eins seiner Bücher lesen. Da würden Sie aber ganz schön rot anlaufen, kann ich Ihnen sagen. Und Morde gibt's auch jede Menge.» Mißbilligend schüttelte sie den Kopf und schnalzte bedächtig mit der Zunge, während sie der munteren Gestalt nachsah, die sich mit raschen Schritten über die Straße entfernte.
Sally Lumb saß vor dem Spiegel ihres Frisiertischs, angetan mit ihrer besten Unterwäsche, das lange, honigblonde Haar in der Mitte gescheitelt und säuberlich über die weißen Schultern gekämmt, die hohe Stirn geschickt kaschiert mit ein paar kurzgeschnittenen, duftigen Strähnen. Während sie ihre milchweiße Haut betrachtete, kam sie zu dem Schluß, daß es Zeit war, etwas Sonne an sich heranzulassen. Nicht zuviel natürlich, weil sie blond war und schnell einen Sonnenbrand bekam, aber eine Stunde pro Tag würde sicher reichen, um ihrer Haut eine tiefe, goldene Tönung zu geben.
Sie hatte ein gutes Gesicht, kannte aber auch die Schwachpunkte. Ihre Augen waren schön - groß, blau und betörend -, und ihre Nase war perfekt proportioniert, mit einem winzigen kleinen Stups an der Spitze. Was nicht so ganz stimmte, waren die Wangen, die ein bißchen füllig wirkten und die Jochbögen nicht klar erkennen ließen. Aber das waren sicher noch die Reste des Babyspecks, der auch noch auf den Hüften und Oberschenkeln saß und mit der Zeit ganz verschwinden würde. Bis dahin gab es immerhin Möglichkeiten, die gewünschten Effekte künstlich herzustellen, warum also warten? Der Mund machte allerdings ähnliche Probleme. Er war zu voll - bestenfalls konnte man ihn sinnlich nennen -, und das würde sich wohl kaum von allein geben.
Nach eingehender Überprüfung des Sortiments an Tuben, Paletten, Pinseln, Stiften und Flaschen auf ihrem Tisch, traf sie sachkundig ihre Wahl zwischen den verschiedenen Tönen und Schattierungen, mit denen man die guten Partien betonen und die schlechten überdekken konnte. Schließlich kam Chief Inspector Banks aus London, wie sie gehört hatte, und konnte selbstverständlich erwarten, daß eine Frau das Beste aus sich machte.
Während sie das Make-up auftrug, spielte sie im Kopf noch einmal alles durch, stellte sich vor, was sie sagen und wie Banks dann aufspringen und hinausstürzen würde, um die Verhaftung vorzunehmen. Konnte man sich einen besseren Start wünschen, als angehender Star? Vorsichtig trug sie den Eyeliner auf und überlegte, daß es doch noch etwas Besseres gab - selbst den Mörder zu fangen.
Banks saß in seinem Büro und blickte über den Marktplatz mit seinem alten, holprigen Kopfsteinpflaster. Die goldenen Zeiger auf dem blauen Zifferblatt der Kirchturmuhr standen auf Viertel nach zehn. Eine kleine Gruppe von Touristen hatte sich vor dem schlichten, massiven Bau versammelt, um Fotos zu machen, und über die schmale Market Street schlenderten die Kauflustigen, paarweise oder zu dritt, sich gelegentlich Grüße zuwerfend, die durch das offene Fenster bis zu Banks' Büro drangen. Seit fast zwei Stunden saß er nun schon an seinem Schreibtisch, studierte die laufend eingehenden Berichte über den Fall Steadman und versuchte, die Informationen gedanklich zu ordnen.
Am Abend zuvor hatte er sich relativ früh von den Herren am Stammtisch verabschiedet, war vom Bridge aus direkt nach Hause gefahren und mit einem Becher heißen Kakao sofort zu Bett gegangen. Aus diesem Grund hatte er sich heute morgen ungewöhnlich frisch und ausgeruht gefühlt, sehr zur Überraschung von Sandra und den Kindern, die wie üblich noch halb schlafend am Frühstückstisch gehangen hatten.
Im Büro hatte er eine Nachricht von Constable Weaver vorgefunden mit der Mitteilung, daß die Haus-zu-Haus-Befragung keine nennenswerten Ergebnisse gebracht hatte. Einer der Anwohner hatte zwar gegen halb zwölf ein Motorrad vorbeifahren hören und zwei Personenwagen zwischen Mitternacht und Viertel vor eins (allem Anschein nach hatte er nach einem indischen Essen in Harrowgate Sodbrennen gehabt und nicht einschlafen können), alle übrigen Befragten waren jedoch entweder außer Haus gewesen oder im Tiefschlaf. Eine Frau, die beim Abendgottesdienst den Anschlag am Kirchenbrett gesehen hatte, war bereits frühmorgens auf dem Revier erschienen, um einen Haufen Unsinn über den Teufel, gefallene Engel, Skinheads und die gestiegenen Lebensmittelpreise zum besten zu geben. Wie Sergeant Rowe lachend berichtete, hatte der geduldige Weaver versucht, die Dame zu etwas präziseren Angaben zu bewegen, und dabei lediglich erfahren, daß sie den ganzen Samstag - einschließlich der Nacht - bei ihrer in Pocklington verheirateten Tochter verbracht hatte.
Er bastelte an seiner Pfeife herum und runzelte verärgert die Stirn angesichts der Tatsache, daß die Arbeit bisher so wenig gebracht hatte. Dabei waren die ersten vierundzwanzig Stunden immer die entscheidenden bei den Ermittlungen zu einem Mordfall. Je mehr Zeit verstrich, desto schwächer wurde die Spur. Natürlich war auch die Presse wieder über ihn hergefallen bei seiner Ankunft heute morgen. Er hatte höflich bedauernd mitgeteilt, es gebe nichts zu berichten, eingedenk der Regel, daß man mindestens noch vier Trümpfe im Ärmel haben mußte, bevor man einen zur Veröffentlichung freigab.
Immerhin blieb noch die Chance, daß einem der Campingplatzbesucher etwas aufgefallen war - was er allerdings bezweifelte. Die meisten der Gäste, die man noch am Sonntag befragt hatte, waren entweder erst am Morgen gekommen oder hatten nichts gehört und gesehen. Von den Samstagskunden waren viele bereits vor der Entdeckung der Leiche wieder abgereist. Wie der Platzmanager erklärte, mußten die Mieter ihren Platz bis zehn Uhr vormittags geräumt haben, wenn sie nicht für einen weiteren Tag bezahlen wollten. Bedauerlicherweise führte er keine Liste über die Namen und Adressen seiner Gäste, ebensowenig hatte er jemanden herumlaufen und mit einem blutverschmierten Hammer oder Kerzenleuchter wedeln sehen.
Sergeant Hatchley war unterdessen beauftragt, das Alibi von Dr. Barnes zu überprüfen und in der Yorkshire Post einen Meldeaufruf für die Camper zu veröffentlichen, in den Banks allerdings wenig Hoffnung setzte. Das Campinggelände lag am nördlichen Ufer des Swain, neben dem Kricketfeld, während sich der Parkplatz auf der Südseite befand, ein gutes Stück von der High Street entfernt und rundum abgeschottet von Bäumen und hohen Hecken. Geradezu ideale Bedingungen für einen nächtlichen Mord, mit Ausnahme der halben Stunde zwischen elf und halb zwölf, wenn sich die Pubs allmählich leerten. Dr. Glendennings bislang unwiderrufenen Schätzungen zufolge mußte Steadman etwa zwischen neun und zehn Uhr abends gestorben sein, kurz nachdem er The Bridge verlassen hatte. Zu dieser Zeit mußte es draußen bereits dunkel genug gewesen sein, und der Parkplatz hatte sicher still und verlassen dagelegen. Bei den herrschenden Öffnungszeiten der Pubs kamen die Gäste gewöhnlich zwischen acht und neun und blieben bis zum Schluß.
Irgendwelche Blutspuren waren auf der holprigen Schotterdecke des Parkplatzes bislang nicht entdeckt worden. Überhaupt hatte die Gerichtsmedizin einstweilen nicht viel hergegeben, bis auf Dr. Glendenning, der wie üblich sehr gewissenhaft gearbeitet hatte. Offenbar hatte er die halbe Nacht in der Autopsie verbracht, da um acht Uhr morgens bereits ein vollständiger, in klaren, verständlichen Worten abgefaßter Bericht auf Banks' Schreibtisch gelegen hatte.
Demnach hatte ein metallener Gegenstand mit mindestens einer scharfen Kante die Wunde verursacht und damit auch den Tod herbeigeführt. Die Magenprobe hatte einen leichten Alkoholgehalt ergeben - was sich mit den Angaben der Stammtischbrüder deckte - und letzte Spuren eines schon länger zurückliegenden Mittagessens. Der tödliche Schlag hatte nur wenig Kraft erfordert und konnte folglich sowohl von einem Mann als auch von einer Frau stammen. Allerdings eindeutig von einem Rechtshänder, was Banks der Mühe enthob, sich wie ein Krimiheld nach verdächtigen Linkshändern umzusehen, und zudem Emma Steadman entlastete, die zweifellos linkshändig war, aber darüber hinaus ohnehin ein unanfechtbares Alibi hatte.
Die Ansammlung von Blut in den tiefer liegenden Körperteilen des Toten deutete, wie Banks bereits vermutet hatte, darauf hin, daß Steadman an einem anderen Ort getötet und dann erst auf das Feld transportiert worden war. Die Gewebeflüssigkeit hatte sich vorwiegend rechts im Körper angesammelt, obwohl die Leiche am Fundort auf dem Rücken gelegen hatte.
Die Untersuchung von Steadmans Wagen hatte keinerlei Blutspuren erbracht, dafür aber reichlich Fingerabdrücke. Dummerweise stammten die wenigen deutlichen Abdrücke sämtlich von Steadman selbst, während die übrigen, die sich am Lenkrad und den Türgriffen gefunden hatten, wie üblich bereits verwischt waren. Sobald man sich in einem Auto hinters Steuer setzte oder die Türen öffnete und schloß, rutschten die Finger zwangsläufig über die Plastikbeschichtung oder die Chromleisten, und das Resultat war ein einziges Schmierbild.
Was man an Fasern von den kunststoffbezogenen Sitzen geklaubt hatte, war so verbreitet, daß ungefähr die Hälfte der Talbewohner als Urheber in Frage kamen. Keinerlei Hinweise auf etwas so Exotisches wie einen eigens aus Italien importierten Anzug oder einen Pullover aus Yakwolle aus den Beständen eines exklusiven hiesigen Ausstatters. Ebensowenig wiesen die Reifenprofile irgendwelche Reste von Schlamm oder Lehm auf, die man nur an bestimmten Orten finden konnte. Nicht einmal der berühmte Kiesel von der leicht zu findenden Auffahrt hatte sich unter dem Pedal versteckt.
Allerdings verließ sich Banks ohnehin nicht gern auf derlei Indizien. Natürlich hatte auch er, wie die meisten seiner Kollegen, schon diverse Gesetzesbrecher anhand von Fingerabdrücken oder Blutgruppenbestimmungen überführt, trotzdem war er der Überzeugung, daß die Forensik allenfalls den Kreis der Verdächtigen einengen konnte und ansonsten eher sinnlos war, solange der Täter seine fünf Sinne beisammen hatte und mit anderen Mitteln gefaßt werden konnte. Für den Schuldspruch vor Gericht mochten Indizien hilfreich sein, und es war immer wieder erstaunlich, wie expertengläubig die meisten Geschworenen zu sein schienen, obwohl jeder einigermaßen geschickte Verteidiger mühelos sämtliche wissenschaftlichen Gutachten zu Fall bringen konnte. Andererseits mußte man sich heutzutage wohl über gar nichts mehr wundern, wenn die Leute ohne weiteres bereit waren, sich von den Werbemachern einreden zu lassen, bestimmte Frühstücksflocken oder Zahncremes seien «wissenschaftlich erprobt» und allen anderen Produkten überlegen.
Pünktlich um elf steckte Sergeant Hatchley seinen Kopf durch die Zimmertür. Obwohl der Bürokaffee dank der Anschaffung eines Filterautomaten erheblich verbessert worden war, hatten die beiden Männer an ihrer Gewohnheit festgehalten, die Frühstückspause außer Haus zu verbringen, im Golden Grill schräg gegenüber.
Hier und da einen Einheimischen begrüßend, bahnten sie sich einen Weg durch die Touristenmenge, betraten das Café und setzten sich an den einzigen freien Tisch, hinten vor den Waschräumen. Die kleine Kellnerin hob hilflos die Schultern, um sich bei ihren Stammgästen zu entschuldigen, und rief über die Tische hinweg:
«Wie üblich?»
«Ja, bitte, Gladys, mein Herz!» rief Hatchley zurück und meinte damit Kaffee und getoastete Teekuchen für beide.
Er deponierte seine Ledermappe auf dem rot-weiß karierten Tischtuch, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, nahm eine Zigarette und fragte erbost: «Wo steckt eigentlich dieser verdammte Richmond?»
«Auf einem Lehrgang, wußten Sie das nicht?»
«Was? Auf welchem Lehrgang denn?»
«Der Super hat doch ein Rundschreiben kursieren lassen.»
«So was les ich nicht.»
«Sollten Sie aber vielleicht.»
«Und? Worum geht's bei diesem fabelhaften Lehrgang?» erkundigte sich Hatchley mit finsterer Miene.
«Um irgendwelche Computer. Findet unten in Surrey statt.»
«Ein Schwein hat der Knabe! Wohnt bestimmt nett am Meer und buddelt im Sand.»
«Surrey liegt nicht am Meer.»
«Ach, er wird's schon finden. Wie lange ist er weg?»
«Zwei Wochen.»
Hatchley fluchte, hielt sich aber mit weiteren Äußerungen zu diesem Thema zurück, weil eben die Bestellung serviert wurde. Banks wußte ohnehin, was sein Sergeant gegen solche Seminare einzuwenden hatte: Erstens fand er jede Art von Fortbildung etwa so nützlich wie ein defektes Kondom; zweitens - und das war weit schwerwiegender - würde die langweilige Lauferei im Fall Steadman an ihm selbst hängenbleiben, solange Detective Constable Richmond nicht verfügbar war.
«Hab das Alibi von diesem Barnes heute morgen überprüft, wie befohlen», meldete Hatchley und griff nach seinem Teegebäck.
«Und?»
«Ist in Ordnung, er war Tatsache bei dieser Mrs. Gaskell. Scheint echt Probleme zu haben mit der Schwangerschaft, die Lady.»
«Um welche Zeit war das?»
«Wie der Ehemann sagt, ist er um halb zehn gekommen und war um Viertel nach zehn wieder weg.»
«Demnach hätte er vorher oder nachher ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, Steadman umzubringen und die Leiche in seinem Kofferraum zu verstecken.»
«Hat aber kein Motiv», meinte Hatchley.
«Zumindest keins, von dem wir wüßten. Was ist das da?» fragte Banks und deutete auf die Mappe.
«Infos über Steadman», nuschelte Hatchley mit vollem Mund.
Banks widmete sich seinem Teegebäck und sah das Material durch. Den Unterlagen zufolge war Steadman vor knapp dreiundvierzig Jahren in Coventry geboren, zu einer Zeit, wo das Geschäft seines Vaters noch in den Anfängen stand. Nach dem Besuch der örtlichen Grammar School hatte er ein Stipendium für Cambridge bekommen und sein Geschichtsstudium mit Auszeichnung abgeschlossen.
Anschließend hatte er in Birmingham und Edinburgh weiterstudiert und mit sechsundzwanzig Jahren bereits einen Posten als Hochschullehrer an der Universität von Leeds bekommen. Im Rahmen dieser Tätigkeit befaßte er sich zunehmend mit dem Gebiet der Industriearchäologie, einem damals noch jungen Teilbereich der Landesgeschichte und der Denkmalpflege. Im ersten Jahr seiner Universitätslaufbahn ereigneten sich zwei wichtige Dinge: der Tod seiner Mutter, kurz vor Weihnachten, und die Eheschließung mit Emma Hartley, Ende des Wintersemesters. Zu diesem Zeitpunkt kannte er Emma schon zwei Jahre. Sie war die einzige Tochter eines Ladenbesitzers aus Norwich und hatte in Edinburgh als Bibliothekarin gearbeitet, während Steadman dort seine Studien fortsetzte. Emma war fünf Jahre jünger als ihr Mann, und die beiden hatten keine Kinder.
Das Paar hatte seine Flitterwochen in Gratly verbracht, in dem Haus, das sie inzwischen gekauft hatten. Hatchley hatte diesen Punkt mit einem Sternchen gekennzeichnet und in der Fußnote dazu angemerkt: «Gegenchecken bei Ramsden. Haus gehörte seinen Eltern.» Das wußte Banks bereits; innerlich pries er Hatchleys Gründlichkeit.
Während Steadmans Karriere weiter gedieh - Publikationen, öffentliches Ansehen, Beförderungen -, wurde die Gesundheit seines Vaters immer prekärer, und als der alte Herr schließlich starb - was zwei Jahre zurücklag -, erbte sein Sohn ein ansehnliches Vermögen, machte mit seiner Frau eine ausgedehnte Europareise, absolvierte den Rest des Universitätsjahrs, kaufte das Haus in Gratly, hängte seinen Job an den Nagel und widmete sich fortan seinen privaten Interessen.
«Was hätten Sie gemacht mit dem ganzen Geld?» erkundigte sich Banks bei seinem Sergeant, der inzwischen sein Mahl beendet hatte und sich mit den Fingernägeln die Speisereste aus den Zähnen klaubte.
«Tja, was soll man schon damit machen?» fragte Hatchley. «Ich würde jedenfalls den Teufel tun, mir in dieser gottverlassenen Gegend ein Haus zu kaufen und in irgendwelchen Trümmern rumzukriechen.»
«Sie halten das also für ziemlich verrückt?»
«Naja, besonders toll isses ja wohl nicht, oder?»
«Aber anscheinend genau das, was er wollte: finanziell unabhängig sein, um sich seinen Hobbys zu widmen.»
Hatchley zuckte mit den Achseln, als lohne es nicht, auf eine derart törichte Bemerkung näher einzugehen. «Na ja, Sie wollten ja wissen, was ich an seiner Stelle getan hätte.»
«Sie haben's mir aber nicht verraten.»
Hatchley schlürfte den letzten Rest seines stark gesüßten Kaffees, der sich sirupartig auf dem Boden der Tasse abgesetzt hatte. «Schätze, ich würd mir erst mal 'n paar gute Papiere zulegen. Nichts Riskantes, nur soviel, daß ich von den Zinsen nett leben könnte. Dann würd ich mir 'n paar Tausender in die Tasche stecken und richtig toll verreisen.»
«Und wohin?»
«Egal. An sämtliche Fleischtöpfe der Welt.»
Banks lächelte. «Und dann?»
«Dann würd ich wieder zurückkommen und in aller Ruhe meine Zinsen verfressen.»
«Und was würden Sie tun?»
«Tun? Nichts weiter. Hier mal was und da was, vielleicht würd ich sogar nach Spanien ziehen oder nach Südfrankreich. Oder in eins dieser Steuerparadiese, wie die Bermudas.»
«Heißt das, Sie würden Ihren Job aufgeben?»
Hatchley warf Banks einen Blick zu, als zweifle er an dessen Verstand. «Meinen Job? Na klar! Das würde doch jeder tun.»
«Ja, ich glaube schon», stimmte Banks zu, obwohl er keineswegs sicher war, wie er selbst sich in einem solchen Fall verhalten würde. Eine lange Reise, ja, das schon. Aber was war danach? In seinen Augen hatte Steadman genau die richtige Wahl getroffen - er hatte sich freigemacht von der eintönigen Alltagsroutine und sich konzentriert auf die eigentliche Essenz seiner Arbeit. Möglicherweise, dachte Banks, würde ich mich als eine Art Sherlock Holmes niederlassen - übrigens auch ein Mann aus den Dales wenn mir plötzlich ein Vermögen zufallen würde. Ich könnte nur die Fälle übernehmen, die mich interessieren... könnte mir eine extravagante Mütze aufsetzen ...
«Lassen wir das», sagte er, die verführerischen Phantasiebilder verscheuchend, «eher friert die Hölle zu, bevor Leute wie Sie oder ich sich über derartige Probleme den Kopf zerbrechen müssen.»
In seinem Büro wartete Emma Steadman, die gekommen war, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren und sich von diesem Eindruck offenbar noch nicht erholt hatte. Das blasse Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, nur die eulenhaft vergrößerten Augen hinter den dicken Brillengläsern ließen erkennen, daß sie eben noch geweint hatte. Steif und aufrecht saß sie in ihrem Stuhl, die Hände fest in ihrem Schoß zusammengepreßt.
«Ich werde Sie nicht lange aufhalten», erklärte Banks, während er sich ihr gegenüber niederließ und seine Pfeife stopfte. «Zunächst einmal würde ich gerne erfahren, ob Ihr Mann irgendwelche Feinde hatte. Können Sie sich vielleicht vorstellen, wer ihm nach dem Leben getrachtet haben könnte?»
«Nein», antwortete sie rasch, «nein, das kann ich nicht. Harry gehörte nicht zu den Leuten, die sich Feinde machen.»
Banks hatte wenig Lust, auf die fehlende Logik dieser Bemerkung einzugehen; es war häufig der Fall, daß die trauernden Hinterbliebenen eines Mordopfers kein Motiv für ein Verbrechen entdecken konnten.
«Heißt das, daß er nie mit jemandem Streit hatte? Nicht einmal eine kleine Meinungsverschiedenheit? Überlegen Sie, das könnte wichtig sein.»
Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. «Nein, wie ich schon sagte, er war nicht der Typ... Warten Sie, doch, da fällt mir etwas ein. Aber es ist wahrscheinlich nicht so wichtig.»
«Sagen Sie's mir trotzdem.»
«Neulich hat er sich ein bißchen über Teddy Hackett beschwert.»
«Hackett? Wann war das?»
«Ungefähr vor einer Woche. Eigentlich waren die beiden dicke Freunde, aber sie hatten so eine Art Dauerstreit über Grund und Boden. Ziemlich kindisch, würde ich sagen, aber so sind nun mal die meisten Männer. Benehmen sich wie kleine Jungs. Leider weiß ich nichts Näheres darüber. Da müssen Sie schon Mr. Hackett selbst fragen.»
«Haben Sie denn eine Vorstellung, worum es überhaupt ging bei dieser Sache?»
Mrs. Steadman legte erneut die Stirn in Falten, offenkundig angestrengt nachdenkend. «Ich glaube, es hatte irgendwas zu tun mit Crabtree's Field. Das ist nichts weiter als ein Stück Wildnis unten am Fluß, und Harry hat geglaubt, daß da irgendwelche römischen Ruinen zu finden wären. Offenbar hatte er ein paar Münzen und Tonstücke gefunden, die darauf hindeuteten, aber Teddy Hackett wollte das Grundstück unbedingt kaufen.»
«Warum? Was wollte er damit?»
«Wie ich ihn kenne, wollte er wahrscheinlich irgendeinen gräßlichen Schuppen darauf bauen, mit dem man viel Geld verdienen kann. Vielleicht eine Diskothek, einen Rummelplatz, einen Spielsalon, einen Supermarkt oder was auch immer...»
«Mit anderen Worten», meinte Banks und lehnte sich vor, «Hackett wollte mit dem Land etwas Neues anfangen, und Ihr Mann hat versucht, es als Denkmal des Vergangenen zu erhalten? Trifft das ungefähr den Kern?»
«Ja, und zwar nicht zum ersten Mal. Letztes Jahr wollte Harold in einem Ladenlokal auf der High Street ein kleines Museum eröffnen, aber Hackett hat das Objekt heimlich aufgekauft und einen Andenkenladen daraus gemacht, worüber sie sich natürlich auch gestritten haben. Harold war zu vertrauensselig, zu... zu freundlich. Er war einfach nicht aggressiv genug.»
«Fällt Ihnen vielleicht sonst noch etwas ein? Was ist mit Dr. Barnes? Hat Ihr Mann jemals über ihn gesprochen?»
«In welchem Zusammenhang?»
«In jedem.»
«Nein.»
«Jack Barker?»
«Nein. Er hielt Barker zwar für etwas zynisch und ziemlich schnoddrig, aber das war alles.»
«Was ist mit den Leuten, die bei Ihnen zu Hause verkehrten? Hatten Sie viele Gäste?»
«Nur ein paar enge Freunde.»
«Wen zum Beispiel?»
«Überwiegend Leute von hier, die Kontakte zu unseren Bekannten in Leeds sind allmählich eingeschlafen - also Barker, Penny Cartwright, Hackett und manchmal auch Dr. Barnes. Gelegentlich ist Michael Ramsden vorbeigekommen, aus York, und dann noch ein paar Lehrer und Schüler von der Eastvale Comprehensive - Harold hat da von Zeit zu Zeit Vorträge gehalten oder die Schüler mitgenommen auf seine Exkursionen. Das wäre eigentlich alles.»
«Es wird eine Menge Geld geben demnächst», meinte Banks beiläufig «Wie bitte?»
«Das Geld, das von Ihrem Mann. Sie werden es doch wohl erben, nehm ich an.»
«Ja, vermutlich», antwortete sie. «Daran hab ich noch gar nicht gedacht... Ich habe keine Ahnung, ob Harold ein Testament gemacht hat.»
«Was werden Sie damit machen?»
Mrs. Steadmans Blick hinter den dicken Brillengläsern wirkte leicht befremdet - und deutlich mißbilligend. «Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wie ich schon sagte, ist mir der Gedanke bisher noch gar nicht gekommen.»
«Wie war die Beziehung zu Ihrem Mann? Haben Sie sich gut verstanden? Würden Sie sagen, daß Ihre Ehe in Ordnung war?»
Mrs. Steadman erstarrte. «Wie?»
«Ich habe die Fragen zu stellen.»
«Aber ich habe nicht unbedingt zu antworten.»
«Das ist richtig.»
«Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten wollen, Inspector», fuhr sie fort, «aber ich halte Ihre Frage für äußerst geschmacklos. Vor allem zu diesem Zeitpunkt.»
«Ich will gar nichts andeuten, Mrs. Steadman, ich mache nur meine Arbeit, das ist alles.» Er verstummte und erwiderte ihren eisigen Blick.
«Wenn das alles ist, dann...» Sie erhob sich.
Banks begleitete sie hinaus und atmete erleichtert auf; als die Tür hinter ihr ins Schloß fiel.
Nach seinem gelungenen Auftritt im Postamt ließ Jack Barker die schockierten Damen hinter sich und machte sich auf den Weg hinunter zur High Street. Trotz der relativ frühen Stunde - es war etwa halb elf - schlenderten die Touristen bereits in dichten Trauben über die Bürgersteige, dicke Strickjacken über den Schultern, um sich vor der morgendlichen Kühle zu schützen. Ab und an blieben sie stehen, preßten die Nasen an die Schaufensterscheiben wie erwartungsvolle Kinder und bestaunten die Erzeugnisse des heimischen Kunsthandwerks. Im Norden zeichnete sich schemenhaft die Steilwand des Crow Star ab, und von Zeit zu Zeit segelte der Schatten einer duftigen Wolke über die hellen Kreidefelsen.
Barker zögerte einen Augenblick, als er vor dem winzigen Secondhandbuchladen von Mr. Thadtwistle - dem mit achtundneunzig Jahren ältesten Dorfbewohner - ankam. Nach kurzer Überlegung eilte er weiter, bog in die enge Gasse mit den Cottages gegenüber der Kirche, hielt vor der Nummer sechzehn und klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Erst auf sein zweites Klopfen hörte er im Innern des Hauses ein Rumoren und strich sich das Haar zurück, während er geduldig wartete, bis sich die Tür ein paar Zentimeter weit öffnete.
«Ach, du bist das», sagte Penny Cartwright mit einem schrägen Blinzeln.
«Meine Güte, du siehst ja schrecklich aus», meinte Barker. «Der alte Knabe nicht da?»
Penny wollte eben den Kopf schütteln, besann sich dann aber eines Besseren.
«Darf ich reinkommen?»
Schweigend trat sie zur Seite und ließ ihn herein. «Nur, wenn du mir einen starken Kaffee machst.»
«Als ob du den nötig hättest. Du siehst frisch und lieblich aus wie eine Rosenknospe im Morgentau.»
Penny zog eine Grimasse und ließ sich auf die Couch fallen. Ihr langes, tiefschwarz gefärbtes Haar war ungekämmt und struppig, das Weiß der Augen gelb angelaufen und rotgeädert. Die Lider waren geschwollen und von dunklen Ringen umgeben, die Lippen trokken und aufgesprungen. Sie trug einen flaschengrünen Morgenrock - eine Art Kimono mit einem feuerspeienden Drachen auf dem Rükken -, den sie mit beiden Händen an Taille und Hals zuhielt.
Barker machte sich in der kleinen unaufgeräumten Küche zu schaffen und war bald zurück mit zwei Bechern dampfenden Kaffees. Er ließ sich in dem abgewetzten Sessel neben der Couch nieder und beobachtete, wie sich Pennys Kimono leicht öffnete und ihren sommersprossigen Brustansatz enthüllte, als sie sich vorbeugte, um nach ihrem Becher zu greifen. Dann schlug sie die Beine übereinander, so daß sich die ebenmäßigen Rundungen ihrer langen, festen Schenkel unter dem dünnen Seidenstoff abzeichneten. Offensichtlich war sie sich der Wirkung auf Barkers Pulsfrequenz nicht im mindesten bewußt.
«Ich nehme an, du hast schon gehört von der Sache mit Harry», begann er und zündete sich eine Zigarette an.
Penny nickte, griff nach seiner Zigarette, nahm einen tiefen Zug und meinte hustend: «Diese Dinger werden mir noch total die Stimme ruinieren.»
«Hat dich die Polizei schon vernommen?»
«Warum sollte sie?»
«Dieser Chief Inspector - Banks heißt er, glaube ich - war im Bridge gestern abend», erklärte Barker. «Hat sich eine ganze Weile mit uns unterhalten. Dich hat er auch gesehen - jedenfalls hat er bemerkt, wie ich mich zu dir umgedreht habe, und wollte wissen, wer du bist.»
«Und? Hast du's ihm gesagt?»
«Ja.»
«Hast du ihm auch erzählt, daß ich mit Harry befreundet war?»
«Mußt ich doch. Hätte er sowieso rausgekriegt, früher oder später, und sich gewundert, warum ich ihm nicht gleich die Wahrheit gesagt habe.»
«Na und? Willst du etwa behaupten, du hättest nichts zu verbergen?»
Barker zuckte mit den Achseln.
«Na, egal», meinte Penny, «aber du weißt doch, was ich von diesen Bullen halte.»
«Ach, der hier ist gar nicht so übel. Richtig nett, Tatsache. Aber verdammt gerissen. Läßt keinen Trick aus. Die Sorte, die dir den ganzen Abend Drinks spendiert und dich dann knüppelhart ausfragt, wenn du hinüber bist.»
«Klingt ja schrecklich.» Penny verzog angewidert das Gesicht und versenkte ihre halbgerauchte Zigarette in dem glasierten Aschenbecher. «Da siehst du's, sind alle gleich, diese Typen.»
«Was wirst du ihm sagen?»
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. «Was hätt ich denn zu sagen?»
«Der Alte?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Er ist wirklich gerissen», wiederholte Barker.
Penny lächelte. «Na also, dann wird er ja wohl selbst herausfinden, was er wissen will, oder?»
Barker beugte sich vor und ergriff ihre Hand. «Penny...»
Sie entzog sich ihm mit einem Lächeln. «Nein, Jack, laß das. Jetzt nicht.»
Beleidigt ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen.
«Also wirklich, Jack, hör schon auf», meinte Penny tadelnd. «Du benimmst dich wie ein kleines Kind.»
«Tut mir leid.»
Penny wickelte sich fester in ihren Kimono und stand auf. «Denk dir nichts dabei. Aber jetzt solltest du vielleicht besser gehen. Ich bin heute nicht gut drauf.»
Barker erhob sich. «Singst du noch diese Woche?»
«Am Freitag, falls meine Stimme das mitmacht. Kommst du?»
«Das laß ich mir doch nicht entgehen, um nichts in der Welt, mein Schatz», erwiderte Barker und verabschiedete sich.
Die Polizeiwache entsprach nicht im entferntesten Sallys Erwartungen. Die alte Fassade im Tudorstil ging noch an, aber innen war alles nüchtern-modern, und es gab keine Steckbriefe von Verbrechern an den Wänden. Statt dessen sah es hier eher aus wie in einem dieser munteren Großraumbüros, mit den Grünpflanzen überall und den Schreibtischen, die sich an die Empfangstheke anschlossen und nur durch einige niedrige Sichtschirme getrennt waren. Über dem Ganzen lag ein Geruch nach Möbelpolitur und Fichtennadeln aus der Spraydose.
Sie erklärte dem höflichen jungen Beamten am Empfang, daß sie Chief Inspector Banks, den Leiter der Ermittlungen im HelmthorpeMord, zu sprechen wünsche. Nein, hier könne sie nichts sagen, sie müsse schon den Chief Inspector persönlich sprechen. Sie habe wichtige Informationen. Ja, sie werde warten.
Schließlich zahlte sich ihre Beharrlichkeit aus, und man führte sie nach oben, durch ein Netzwerk von Fluren, vor eine Bürotür mit der Aufschrift «Vernehmungsraum». Man bat sie, auf der Bank im Flur Platz zu nehmen, und erkundigte sich höflich, ob es ihr etwas ausmache, sich noch einen Moment zu gedulden. Nein, keineswegs. Sie setzte sich, die Hände im Schoß gefaltet, den Blick starr geradeaus gerichtet auf eine Tür mit der wenig verheißungsvollen Aufschrift «Materiallager».
Die Minuten zogen sich endlos hin, und sie bedauerte bereits, keine «Vogue» bei sich zu haben, mit der sie sich hätte die Wartezeit vertreiben können, wie bei ihrem Zahnarzt. Plötzlich hörte sie im Treppenhaus das Geräusch von Schritten und Stimmen, ein Scharren, Trampeln und Fluchen. Kurz darauf polterten drei Männer über den Flur und fast vor ihre Füße. Zwei der Männer waren offensichtlich Polizeibeamte, und sie hatten schwer zu kämpfen mit dem dritten, der sich trotz seiner Handschellen wehrte und wand wie ein Aal. Schließlich gelang es den Beamten, ihn wieder auf die Beine zu stellen und den Flur hinunterzuschleppen. Er zappelte und zerrte, die wildesten Verwünschungen ausstoßend, stemmte sich gegen den Boden und hatte sich plötzlich mit einer blitzschnellen Drehung befreit. Sally sah, wie er über den Flur rannte, direkt auf sie zu. Sie erstarrte vor Schreck, aber andererseits fand sie die Sache ganz spannend. Irgendwie war es aufregend, wie im Film. «Hill Street Blues» oder so was. Außerdem hatte der Polizist ihn schon wieder eingefangen und in ein Zimmer gezerrt, bevor er ihr zu nahe gekommen war. Trotzdem, ihr Herz klopfte wie wild, sie wollte nur noch nach Hause, aber in diesem Moment kam der Chief Inspector aus seinem Büro und bat sie zu sich herein.
«Tut mir leid für Sie», entschuldigte er sich, «so was passiert sonst eigentlich nicht.»
«Wer war das?» erkundigte sich Sally mit kreidebleichem Gesicht und schreckgeweiteten Augen.
«Ein Einbrecher. Wir vermuten, daß er letzte Woche Merriweather's Stereoladen ausgeräumt hat.»
Sally fand sich vor einem wackligen Stahlschreibtisch wieder, der übersät war mit Büroklammern, Stiften und einer Menge amtlich aussehender Papiere. Die Luft war eingenebelt mit Pfeifenrauch, dessen Geruch sie an ihren Vater erinnerte. Unwillkürlich mußte sie husten, was Banks als Aufforderung verstand, das Fenster zu öffnen. Ein warmer Luftzug wehte herein, und man hörte das Geräusch von Stimmen unten auf der Market Street.
Banks nahm Platz und erkundigte sich nach dem Grund ihres Kommens.
«Die Sache ist vertraulich», flüsterte sie, warf einen Blick über ihre Schulter und lehnte sich vor. Der Vorfall draußen im Gang hatte sie etwas aus dem Konzept gebracht, und sie wußte nicht mehr so recht, wie sie anfangen sollte. «Ich will damit sagen», fuhr sie fort, «ich möchte Ihnen etwas erzählen, aber Sie müssen mir erst versprechen, daß Sie mit niemandem darüber reden.»
«Mit niemandem?» Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, schimmerte aber noch sanft in seinen lebhaften, braunen Augen, während er sich zurücklehnte und seine Pfeife anzündete.
«Na ja, also, ich nehme an, das müssen Sie entscheiden», meinte Sally, hob die Nase und schnupperte den vertrauten Pfeifenrauch. «Ich werd Ihnen einfach erzählen, was ich weiß, okay?»
Banks nickte.
«Also, das war letzten Samstag. Ich war oben am Crow Star, in dieser Schäferhütte - Sie wissen schon, dieses Ding, das fast zusammenfällt.» Banks war im Bilde. Man hatte den morschen Schuppen gründlich durchsucht, nach Auffindung der Leiche. «Tja, also, ich hab ein Auto gehört. Es hat da gehalten, ungefähr zehn oder fünfzehn Minuten. Dann ist es wieder weggefahren.»
«Haben Sie den Wagen gesehen?»
«Nein, nur gehört. Ich dachte, es wär ein Liebespaar oder so was. Aber die wären wahrscheinlich etwas länger geblieben, oder?»
Banks lächelte. Ihm war durchaus klar, was die Bitte um Diskretion bedeutete. Außerdem verrieten die Intimkenntnisse über dieses Liebesnest am Berg, was die junge Dame selbst dort gesucht hatte.
«Aus welcher Richtung ist der Wagen gekommen?» fragte er.
«Aus dem Ort, nehm ich an. Jedenfalls von Westen. Möglicherweise kam er von der andern Seite des Tals, rauf nach Norden, allerdings ist nicht viel los auf der Straße. Meilenweit nichts als Moor.»
«In welche Richtung ist er dann gefahren?»
«Die Straße weiter rauf. Ich hab nichts davon gehört, daß er irgendwo gewendet hat und wieder zurückgekommen ist.»
«Das ist die Straße nach Sattersdale, nicht wahr?»
«Ja, aber die hat jede Menge Seitenstraßen. Man kann eigentlich überall hinkommen, von da.»
«Um welche Zeit war das?»
«Vierzehn Minuten nach zwölf. Da hat er gehalten.»
«Vierzehn Minuten? Wieso nicht kurz nach zwölf oder Viertel nach? So genau weiß man das doch meistens gar nicht.»
«Meine Uhr hat Digi -» Sally stockte mitten im Satz, als sie bemerkte, daß Banks auf ihr Handgelenk sah, an dem sie eine kleine schwarze Uhr mit einem pinkfarbenen Plastikarmband trug. Die Uhr hatte eindeutig keine Digitalanzeige.
«Es ist besser, wenn Sie die Wahrheit sagen», meinte er. «Und machen Sie sich keine Sorgen - Ihre Eltern müssen das nicht unbedingt erfahren.»
«Aber ich hab doch gar nichts Schlimmes gemacht!» platzte Sally heraus, errötete plötzlich und fuhr, etwas gefaßter, fort: «Trotzdem, vielen Dank. Ich glaube nämlich nicht, daß sie das verstehen. Ich gebe zu, ich war nicht allein. Mein Freund war dabei. Wir haben uns nur unterhalten.» Das klang nicht sehr überzeugend, spielte aber wohl keine Rolle in diesem Zusammenhang. «Dann kam plötzlich dieser Wagen», fuhr Sally fort. «Wir dachten, es wär sowieso schon ziemlich spät. Deshalb hat Kev - so heißt mein Freund - auf seine Uhr geguckt - die hat nämlich Leuchtschrift und Digitalziffern - und da war's genau vierzehn Minuten nach zwölf. Ich hätte längst zu Hause sein müssen, aber jetzt war's sowieso zu spät und kam nicht mehr darauf an. Also sind wir einfach noch geblieben, haben uns weiter keine Gedanken gemacht, und als der Wagen dann abgefahren ist, hat Kevin wieder auf die Uhr geguckt. Da war's neunundzwanzig Minuten nach zwölf, das weiß ich noch genau, weil ich so lachen mußte, als Kevin gesagt hat, die hätten sich ja wohl nicht viel Zeit...»
Sie verstummte und wurde rot. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu beichten, hatte sie völlig vergessen, wem sie sich da anvertraute. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie diesem fremden Mann mit der Pfeife nicht nur den Namen ihres Freundes verraten, sondern wohl auch den Eindruck in ihm erweckt hatte, daß sie alles wußte über das nächtliche Treiben auf den Rücksitzen der Autos, an verschwiegenen Plätzen.
Tatsächlich hatte Banks wenig Interesse an ihren romantischen Aktivitäten. Ihn beschäftigte weniger ihr Liebesleben als die weit wichtigere Frage, inwieweit man sich auf die Richtigkeit ihrer Informationen verlassen konnte. Außerdem war sie dem Aussehen nach mindestens neunzehn, also alt genug, auf sich selbst aufzupassen, was immer ihre Eltern auch davon halten mochten.
«Ich nehme an, daß Kevin - Ihr Freund - das alles bestätigen kann?» fragte er.
«Nun ja... wenn's unbedingt sein muß», stimmte sie zögernd zu. «Ich meine... ich habe ihm versprochen, seinen Namen nicht zu erwähnen. Wir wollen keine Schwierigkeiten, verstehen Sie? Meine Mutter und mein Vater würden das nicht so gern sehen. Ich habe ihnen erzählt, daß wir bei ihm zu Hause ferngesehen haben, und wenn mein Vater seinen Eltern erzählt, wo wir in Wirklichkeit waren, dürfen wir uns bestimmt nicht mehr treffen.»
«Wie alt sind Sie, Sally?»
«Sechzehn», antwortete sie stolz.
«Und welche Zukunftspläne haben Sie?»
«Ich möchte Schauspielerin werden. Auf alle Fälle irgend etwas mit Theater oder Modefotos oder so. Ich habe mich bereits beworben, an der Schauspielakademie von Marion Boyars.»
«Donnerwetter», meinte Banks, «ich hoffe, Sie werden angenommen.» In Sachen Schminktechnik hatte die junge Dame offensichtlich keine Hilfe mehr nötig, wie er bemerkte. Die meisten Mädchen in ihrem Alter taten gewöhnlich des Guten zuviel, aber Sally wußte anscheinend, wann sie aufhören mußte. Einen Sinn für die passende Kleidung konnte man ihr auch nicht absprechen. Sie trug weiße Kniestrümpfe zu einem tiefblauen Faltenrock, der bis knapp an die kleinen Grübchen in ihren runden Knien reichte, darüber eine weiße Baumwollbluse und ein breites rotes Band in ihrem goldblonden Haar. Sie war wirklich ein schönes Mädchen, und es war durchaus vorstellbar, daß man sie eines Tages auf einer Bühne oder im Fernsehen wiedersah.
«Stimmt es, daß Sie aus London kommen?» fragte Sally.
«Ja.»
«Hat Scotland Yard Sie hergeschickt?»
«Nein, ich habe mich hierher versetzen lassen.»
«Wie kann man nur auf die Idee kommen, in diese Gegend zu ziehen?»
«Oh, ich wüßte eine Menge Gründe», meinte Banks achselzukkend. «Die frische Luft, die herrliche Landschaft - und in meinem Fall die Hoffnung auf einen etwas leichteren Job.»
«Aber in London, da ist doch wenigstens was los», fuhr Sally aufgeregt fort. «Ich war einmal einen ganzen Tag da. Auf einem Klassenausflug mit der Schule. Es war einfach fantastisch!» Ihre großen Augen verengten sich, und sie schaute ihn mißtrauisch an. «Ich begreife nicht, wie jemand das alles eintauschen kann gegen dieses gottverlassene Kaff!»
Banks mußte feststellen, daß sich Sallys Meinung von ihm binnen weniger Sekunden radikal gewandelt hatte. Bislang war sie eher kokett gewesen, hatte sogar ein wenig geflirtet, inzwischen aber schien sie nur noch Verachtung oder allenfalls Mitleid für ihn übrig zu haben und legte einen weitaus schrofferen, geschäftsmäßigen Ton an den Tag. Sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifend, fragte er:
«Kannten Sie Harold Steadman?»
«Ist das der... der Mann?»
«Ja. Haben Sie ihn gekannt?»
«Nur flüchtig. Er kam manchmal zu uns in die Schule und hielt Vorträge über Landesgeschichte und Geologie. Langweiliges Zeug über Ruinen und den ganzen Kram. Außerdem hat er uns auf Exkursionen mitgenommen. Nach Fortford und auch weiter weg, nach Malham oder Keld.»
«Also haben ihn die Schüler doch recht gut gekannt?»
«Soweit man einen Lehrer kennen kann...» Sally überlegte einen Augenblick und korrigierte sich dann: «Überhaupt war er ja gar kein richtiger Lehrer. Ich meine, was er so erzählte, war zwar ziemlich langweilig und so, aber ihm hat's anscheinend viel Spaß gemacht. Er war immer total begeistert bei den Ausflügen, hat uns hinterher sogar mit nach Hause genommen und Hot dogs und Popcorn gemacht.»
«Uns?»
«Ja, die Schüler aus Helmthorpe oder Gratly, ungefähr sieben oder so. Seine Frau hat uns dann immer was zu essen gemacht, und wir haben zusammengehockt und einfach erzählt. Wo wir überall waren und was wir gefunden haben. Er war sehr nett, wirklich.»
«Und was war mit seiner Frau? Haben Sie sie näher kennengelernt?»
«Nein, eigentlich nicht. Sie war nicht dabei. Hatte immer irgendwas anderes zu tun. Ich glaube, sie war einfach nur ein bißchen schüchtern. Ganz im Gegensatz zu Mr. Steadman. Der hat sich immer mit allen unterhalten.»
«Waren das die einzigen Anlässe, bei denen Sie ihn gesehen haben? Also in der Schule oder auf den Ausflügen?»
Sallys Augen zogen sich erneut mißtrauisch zusammen. «Ja, abgesehen von den paar Malen auf der Straße oder in irgendwelchen Läden. Hören Sie, wenn Sie glauben, er wär einer von diesen alten Fieslingen gewesen, dann irren Sie sich.»
«Ich habe nichts dergleichen gemeint», stellte Banks klar, war jedoch insgeheim froh, daß sie seine Bemerkung falsch gedeutet und entsprechend reagiert hatte.
Schließlich ging er alles noch einmal mit ihr durch und machte sich Notizen zu den einzelnen Punkten. Ihre Bereitschaft, ihm die nötigen Informationen zu geben, war inzwischen deutlich geschwunden, sie schien nur noch daran zu denken, sich so schnell wie möglich davonzumachen. Schließlich ließ Banks sie gehen, lehnte sich in seinen Sessel zurück und sinnierte grinsend über den Verlust seiner Anziehungskraft. Sein unwiderstehlicher Charme, sein Zauber - alles war dahin mit dem Wechsel von der Weltstadt aufs platte Land.
Vom Kirchturm, draußen auf dem Marktplatz, schlug es vier.