«Demnach ist Hackett, nach Aussage Ihres Kumpels in Darlington ...»
«Sergeant Balfour, Sir, ein guter Mann.»
«Laut Ihrem Sergeant Balfour», fuhr Banks fort, «ist unser Freund also erst frühmorgens nach eins im KitKat-Klub aufgetaucht, und in diesem Pub, vom dem er sprach, erinnert sich niemand, ihn gesehen zu haben?»
«So ist es. Der Wirt meinte zwar, daß er öfter mal hereinschaut, aber letzte Woche war es nicht der Samstag, sondern einen Abend früher, am Freitag.»
«Mit anderen Worten, er hat gelogen, dieser Mistkerl», seufzte Banks. Diese Dorfbewohner aus Helmthorpe irritierten ihn mehr und mehr, und je mehr man ihn ärgerte, desto reizbarer wurde er, wie mancher Gauner aus Londoner Zeiten bezeugen konnte. «Ich denke, wir sollten ihn noch mal vorführen. Oder nein, warten Sie...» Er warf einen raschen Blick auf seine Uhr und stand auf. «Vielleicht ist es besser, wenn wir direkt nach Helmthorpe fahren. Ich habe ohnehin noch eine Reihe von Dingen dort zu erledigen.»
Da Sandra mit dem Cortina unterwegs war, ließen sie sich einen Dienstwagen geben, und Hatchley übernahm das Steuer, während Banks die Landschaft bewunderte, das Flußufer mit seinen dichten Hecken und den Büscheln von weißen, roten und gelben Wildblumen, deren Namen ihm allesamt unbekannt waren. Hier und da drifteten ein paar dunkle Wolken über den Himmel, doch die Sonne brach sich immer wieder in glänzenden Streifen Bahn und überzog die schattigen Hänge des Tals mit hellen, grünen Flecken. Der Effekt erinnerte an die Bilder in dieser Londoner Galerie, wo ihn Sandra vor einiger Zeit hingeschleppt hatte, aber der Name des Künstlers wollte ihm nicht einfallen. Turner, Gainsborough, Constable? Er mußte Sandra fragen. Im Geiste machte er sich eine Notiz und beschloß, sich in Zukunft etwas mehr mit Landschaftsmalerei zu beschäftigen.
«Was halten Sie davon?» fragte Hatchley, eine Hand am Steuer und mit der anderen den glühenden Ring des Zigarettenanzünders gegen seine Zigarette drückend. «Von Hackett meine ich.»
«Könnte unser Mann sein. Auf alle Fälle hat er was zu verbergen.»
«Was ist mit den andern, die an dem Abend mit Steadman zusammen waren?»
«Wer weiß? Es kann jeder von den Burschen gewesen sein. Ihre Alibis sind jedenfalls nicht viel wert, nicht mal das von Barnes.»
«Aber welches Motiv sollte er gehabt haben, um Steadman umzubringen? Er hat einen recht guten Ruf in der Gegend, immer schon.»
Banks gestikulierte mit seiner Pfeife. «Erpressung möglicherweise. Vielleicht hatte er was in der Hand gegen Steadman, oder Steadman hat umgekehrt etwas über den Doktor gewußt, womit er dessen Existenz hätte ruinieren können.»
«Schon möglich», räumte Hatchley ein. «Aber Steadman hatte doch genug Geld und brauchte niemanden zu erpressen, oder? Und wenn er umgekehrt an Barnes gezahlt hätte, wäre es doch ziemlich blöd gewesen, wenn der die Gans, die goldene Eier legt, getötet hätte, nicht wahr?»
«Zugegeben, aber es muß ja nicht unbedingt um Geld gegangen sein. Vielleicht hat sich Steadman moralisch verpflichtet gefühlt, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Nach allem, was man so hört, hätte das bestens zu ihm gepaßt. Ich weiß, im Augenblick ist das alles reine Spekulation, aber ich meine doch, wir sollten einmal die Finanzen und den ganzen Hintergrund des Doktors unter die Lupe nehmen. Außerdem müssen wir herausfinden, ob Steadman vielleicht in letzter Zeit irgendwelche größeren Beträge von seinem Bankkonto abgehoben hat.»
«Kann bestimmt nicht schaden, würd ich sagen. Mist, verdammter!» Er riß das Steuer herum, um einem wankenden Radfahrer auszuweichen, und schimpfte aus dem Fenster: «Paß gefälligst auf, wo du hinfährst, du blöde Pistensau!»
Banks zog seinen Sicherheitsgurt straffer an; in Augenblicken wie diesen war ihm wieder einmal völlig klar, warum er es vorzog, den eigenen Wagen auch für Dienstfahrten zu benutzen.
Sie erreichten Helmthorpe einigermaßen sicher und stellten den Wagen am Flußufer ab, auf dem Parkplatz, wo man Steadmans Wagen gefunden hatte. Von dort ging es zu Fuß die Allee hinauf bis zur High Street. Es war Mittagszeit; die Touristen drängten sich in der engen Eisdiele, und die Einheimischen machten ihre Einkäufe oder standen vor ihren geduckten Cottages in den schmalen, holprigen Gassen und hielten ein Schwätzchen über den Gartenzaun. Inzwischen hatte sich überall herumgesprochen, wer die beiden Männer waren, und man dämpfte vorsorglich die Stimmen, als die Polizeibeamten vorbeikamen. Banks fand es immer wieder amüsant, welche Wirkung sein Erscheinen in diesen ländlichen Gebieten auslöste. In London hatte kein Mensch gewußt, wer er war, außer den diversen Kriminellen, die er mehr als einmal hinter Gitter gebracht hatte.
Sie kamen an einen Zeitungsladen, vor dessen Tür ein ganzes Sortiment von Ansichtskarten, Stadtplänen und Reiseführern arrangiert war, und blieben einen Moment stehen vor den sacht im Winde schaukelnden Verkaufsgondeln.
«Wir sollten uns Hackett gemeinsam vornehmen, nach dem Mittagessen», schlug Banks vor.
«In Ordnung.» Hatchley schaute auf seine Uhr. «Wollen wir jetzt gleich essen?»
«Nein, noch nicht. Wie wär's, wenn Sie mal bei Weaver vorbeigehen und schauen, ob sich was Neues getan hat? Ich werd inzwischen mal mit diesem Major Cartwright ein ernstes Wort reden. Anschließend treffen wir uns dann im Bridge, genehmigen uns ein Bierchen und ein Stück Pastete und überlegen uns, wie wir Hackett zu fassen kriegen.»
Hatchley nickte und machte sich auf den Weg zum örtlichen Polizeirevier.
Der Nachbar des betagten Buchhändlers Thadtwistle war der Inbegriff dessen, was sich Banks unter einem Major im Ruhestand vorstellte - ein guterhaltener, durchtrainierter älterer Herr mit silberweißem Haar, ziegelrotem Teint und einem grauen Schnauzbart. Nachdem sich Banks ausgewiesen hatte, gab er ein kurzes Knurren von sich und führte ihn über eine enge Treppe nach oben in seine Wohnung, die offensichtlich direkt über dem Buchladen lag.
Banks folgte ihm in ein Wohnzimmer, das von einem riesigen Bild beherrscht wurde, einer gerahmten Reproduktion, auf der eine üppige, barbusige Frau eine Fahne schwenkte über einem Schlachtfeld voll toter und verwundeter Soldaten. Neben ihr stand ein kleiner Junge, in jeder Hand ein Gewehr.
«Die Freiheit führt das Volk», erklärte der Major, als er Banks' Blick bemerkte. «Von Delacroix. Dafür kämpfen wir doch alle, nicht wahr?»
Glücklicherweise wußte Banks, wann eine Frage rein rhetorischen Charakter hatte, so daß er seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Terrier widmen konnte, der begeistert seine Hosenbeine beschnüffelte. Vorsichtig versuchte er, die Füße zu heben, um das Tier zu vertreiben. Er mochte keine Hunde - für ihn kamen allenfalls Katzen in Frage - und am allerwenigsten deren stolze Besitzer, die gewöhnlich erwarteten, daß man die verdammten Viecher hätschelte wie ein neugeborenes Kind. Nach einem etwas heftigeren Tritt hatte er den aufdringlichen Köter schließlich davon überzeugt, daß es besser war, ihn in Ruhe zu lassen und zu seinem Korb zu schleichen, von wo aus er den Besucher mit einer Mischung aus Groll und Selbstgefälligkeit musterte. Unterdessen war der Major mit den Getränken beschäftigt und hatte dem Geschehen glücklicherweise den Rücken zugekehrt.
Der Raum war heiß und stickig und roch nach abgestandenem Rauch. Banks bemerkte ein altes Pfeifengestell an der Wand über dem Kamin. In der Hoffnung auf ein harmonisches und gemütliches Beisammensein ließ er sich in einem hochlehnigen Sessel nieder und brachte seine eigene Bruyere in Gang.
Der Major überreichte ihm einen knapp bemessenen Whisky mit Soda, goß sich selbst etwas großzügiger ein und ließ sich in die abgewetzten Lederpolster eines Ohrensessels sinken, den er offensichtlich schon seit Menschengedenken für sich beanspruchte.
Banks hatte die Erfahrung gemacht, daß es zwei Typen von Militärs gab : Die einen betrachteten die Angehörigen der Polizei als eine Art Berufskollegen oder gar Waffenbrüder, die anderen hielten sie eher für dubiose Emporkömmlinge, für armselige Amateure, die es nicht ganz geschafft hatten, in die höheren Ränge zu kommen. Major Cartwright gehörte offensichtlich zur zweiten Kategorie, da er Banks mit unverhohlener Feindseligkeit musterte. Die rotgeschwollenen Adern rund um seine Nase verrieten eine deutliche Neigung zu hochprozentigen, frühmorgendlichen Muntermachern.
«Also, was gibt's?» schnarrte er ungeduldig, als habe man ihn mitten in seinen Schlachtplänen für einen neuen Angriff auf die aufmüpfigen Buren gestört.
Banks berichtete von dem Mordfall - begleitet von einem gelegentlichen kurzen Knurren und ruckartigen Nicken seines Gegenübers - und versuchte, möglichst taktvoll darauf hinzuweisen, daß der Major den verstorbenen Mr. Steadman vermutlich als letzter lebend gesehen hatte, von dem Mörder selbstverständlich abgesehen.
«Und wann soll das gewesen sein?» fragte Cartwright.
«Samstag abend, um zehn Uhr etwa. »
Der Major fixierte ihn aus eisblauen Augen und nippte an seinem Whisky. «Wer behauptet das?»
«Das spielt keine Rolle, Major. Entscheidend ist nur, ob es zutrifft.»
«War bestimmt dieses neugierige Frauenzimmer von nebenan, wie? Dummes, altes Klatschweib.»
«Ist es zutreffend, daß Sie Steadman gesehen haben und es eine Auseinandersetzung gab?»
«Sie wollen doch wohl nicht andeuten -»
«Ich will gar nichts andeuten. Ich habe Ihnen lediglich eine einfache Frage gestellt.»
Der Major schwenkte einen Moment lang den verbliebenen Whisky in seinem Glas und entschloß sich dann zu antworten: «Na schön, und was ist, wenn's so wäre?»
«Das werden Sie mir erzählen.»
«Da gibt's nichts zu erzählen, wirklich. Hab ihn erwischt, wie er sich wieder an meine Tochter rangemacht hat, und ihm klargemacht, daß er seine Pfoten bei sich behalten soll.»
«Und warum sind Sie grob geworden?»
«Weil das nicht in Ordnung ist.» Cartwright beugte sich entrüstet vor. «Ein verheirateter Mann, noch dazu viel älter - wie würden Sie denn reagieren? Das ist einfach nicht gesund.» Er ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen.
«Dachten Sie, die beiden hätten ein Verhältnis?»
«Augenblick mal, junger Mann, immer mit der Ruhe! Ich habe nichts dergleichen gesagt.»
«Schauen Sie», insistierte Banks, «es geht doch hier gar nicht um irgendwelche Beschuldigungen oder Anklagen. Ich möchte lediglich wissen, was Sie sich dabei gedacht haben. Wenn Sie gar nicht glauben, daß sich Ihre Tochter auf irgendwelche unschicklichen Sachen eingelassen hat - warum halten Sie es dann für nötig, Steadman buchstäblich über die ganze Straße zu treten?»
«Sie übertreibt wirklich, die alte Schachtel.» Cartwright schniefte, stürzte den Rest seines Whiskys hinunter, erhob sich, um eine betagte Bruyere-Pfeife aus dem Gestell über dem Kamin zu ziehen, steckte sie in einen ledernen Tabaksbeutel und begann sie zu stopfen. «Wir haben ein paar harte Worte gewechselt, ja, aber ich habe nie die Hand gegen ihn erhoben - geschweige denn den Fuß. Wie dem auch sei, es ist eine Frage des Prinzips, oder? Ein verheirateter Mann, damit kommt man nur ins Gerede.»
Banks hatte gewisse Schwierigkeiten, eine zwingende Verbindung zwischen Prinzipien und der Furcht vor übler Nachrede herzustellen, ließ diese Frage jedoch offen. «Ist das der Grund, warum Sie sich einer eher harmlosen Beziehung widersetzt haben, die beiden Beteiligten offenkundig viel Freude gemacht hat?» erkundigte er sich statt dessen. «Haben Sie die Freunde Ihrer Tochter immer schon so behandelt?»
«Verdammt, der Mann war schließlich verheiratet», wiederholte der Major.
«Das war er schon zehn Jahre früher, als die beiden sich kennengelernt haben, aber damals hatten Sie keine Einwände, nicht wahr?»
«Da war auch alles noch offen und ohne Heimlichkeiten. Es war immer jemand dabei, der junge Michael zum Beispiel. Außerdem war sie damals noch ein Kind. Verstehen Sie, wenn sie sich treffen wollen, die beiden - warum tun sie's dann nicht in der Öffentlichkeit? In einem Pub, vor allen Leuten? Ich seh keinen Grund, warum sie sich in ihrem Haus einschließen und verstecken. Gibt 'ne Menge böser Zungen im Dorf, junger Mann, Sie haben ja keine Ahnung, was hier los ist.»
«Haben Sie Angst vor den Gerüchten, die über Sie und Ihre Tochter kursieren? Wollten Sie sie davor beschützen?»
Der Major erbleichte und sackte kraftlos in seinem Sessel zusammen. Die kriegerische Haltung war mit einem Schlag verschwunden, und er sah plötzlich so alt aus, wie er war. Mühsam erhob er sich, mixte sich einen neuen Drink und fragte: «Dann haben Sie's also schon gehört, wie?»
Banks nickte.
«Sie waren ja nicht dabei damals», meinte er mit einem traurigen, bitteren Unterton. «Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Leben war für uns beide, nach dem Tod meiner Frau. Ich war eine Zeitlang völlig hilflos, mußte in ein Krankenhaus und Penny weggeben, zu den Ramsdens, bis sie dann wiederkam und sich um mich gekümmert hat. Ganz selbstlos und rührend, Gott schütze sie. Sie war ein Einzelkind, wissen Sie... Ja, und dann kam dieser bösartige Klatsch auf. Es genügt, wenn einer mit so was anfängt - ein einzelnes, verkommenes Subjekt setzt ein Gerücht in die Welt, und schon hat es sich verbreitet wie ein Schimmelpilz, bis alle genug haben und etwas Spannenderes finden. Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel für diese Leute; es spielt keine Rolle, ob etwas wahr ist oder nicht, Hauptsache, es erregt ihre schmutzige Phantasie, das ist alles. Es ist ihre Schuld, daß Penny weggegangen ist, sie haben sie vertrieben mit diesem Geschwätz. Daß es unnatürlich wäre, wir beide allein unter einem Dach, und als sie dann weg war, hab ich das Haus verkauft und bin hierhergezogen.»
«Ich dachte, sie wäre weggegangen, um als Musikerin Karriere zu machen.»
«Oh, irgendwann wäre es sicher soweit gekommen, aber sie war viel zu jung damals. Sie hätte nicht so früh weggehen dürfen, dann wäre alles anders gelaufen für sie.»
«Mir erscheint ihre Persönlichkeit eigentlich recht rund. Bis auf ein paar kleine Kanten allenfalls.»
«Sie wissen auch nicht, wie sie früher war. Sie hat ihren Schwung verloren, ihre Lebensfreude, und für eine Zynikerin ist sie viel zu jung. Wie dem auch sei, sie konnte es nicht mehr aushalten, daß man sie ständig angestarrt hat, mit diesen vielsagenden Blicken. Und es hat sie eine Menge Mut gekostet, wieder hierherzukommen.»
«Sie haben ihr also verziehen?»
«Da war nichts zu verzeihen, wirklich nicht, auch wenn sie glaubt, sie hätte mich im Stich gelassen. Wir hatten unsere Kämpfe und Streitigkeiten, ja, aber ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Ich weiß, Steadman war gar nicht so übel. Etwas verweichlicht vielleicht, jedenfalls in meinen Augen, aber alles in allem kein schlechter Kerl. Ich wollte ihr nur ersparen, daß sie das alles noch mal durchmachen muß. Sie ist jetzt schon verbittert genug. Außerdem war es nicht das erste Mal, daß wir einen Streit hatten. Meine Vorbehalte gegen Steadman sind allgemein bekannt, da können Sie jeden fragen.»
«Was ist passiert an diesem Samstag?»
«Nichts, wirklich nicht. Ich hab ihm nur gesagt, er soll sich nachts nicht bei ihr blicken lassen. Das hab ich ihm schon zigmal erklärt, aber wahrscheinlich hab ich alles nur schlimmer gemacht, wenn es alle mitgekriegt haben.»
«Was haben Sie anschließend gemacht?»
«Als er weg war?»
«Ja.»
«Ich bin noch geblieben und hab mit Penny gesprochen. So zirka eine Stunde vielleicht. Sie war mir etwas böse, aber wir haben die Dinge dann recht friedlich geklärt.»
«Können Sie sich erinnern, um welche Zeit Sie aufgebrochen sind?»
«Ich weiß noch, daß die Kirchturmuhr elf geschlagen hat. Ich bin dann nur noch ein paar Minuten geblieben.»
«Und Steadman ist also um zehn gegangen?»
«Als ich kam, ja.»
«Haben Sie sonst irgend jemanden bemerkt in der Nähe des Hauses?»
«Nein, alles war völlig ruhig, wie immer um die Zeit. Nur ein paar Leute auf der High Street, aber sonst nichts Ungewöhnliches.»
«Sagte Steadman, wo er hinwollte? Hat er irgendeine Bemerkung gemacht, aus der Sie schließen könnten, was er anschließend vorhatte?»
Major Cartwright schüttelte den Kopf. «Nein, er ist einfach abgezogen. Tut mir leid, daß ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann, Inspector.»
«Macht nichts. Immerhin vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben, Major.»
Cartwright drehte sich um, nahm Kurs auf seinen Barschrank und überließ es Banks, den Weg nach unten allein zu finden.
Den Kopf auf diverse Kissen gebettet, lag Sally im Garten und nahm ein Sonnenbad in ihrem blaßblauen Bikini. Sie fand, daß sie ein Recht hatte auf diesen Luxus. Immerhin hatte sie am Abend zuvor einen vorübergehenden Waffenstillstand bei ihren Eltern erzielt, indem sie Kevin versetzt hatte und statt dessen mit nach Skipton gefahren war zu einem sterbenslangweiligen Besuch bei Tante Madge. Sie hatte artig ihren Tee getrunken, aus zarten kleinen Chinaporzellanschalen mit Goldrand und handgemalten roten Rosen, und höflich die immer gleichen öden Fragen über die Schule beantwortet. Immerhin war der Fernsehapparat in Betrieb gewesen - Tante Madge ließ ihn Tag und Nacht laufen -, und so hatte sie wenigstens mit einem halben Auge einen alten Elizabeth-Taylor-Film verfolgen können, während sie sich scheinbar den faszinierenden Gesprächsthemen widmete, die sich vom skandalösen Zustand des Nachbargartens bis zu der operativen Entfernung der Gebärmutter einer entfernten Cousine erstreckten. Seltsamerweise hatten ihre Eltern den Abend offenbar auch nicht sonderlich genossen. Ihr Vater hatte kaum ein Wort von sich gegeben, und alle schienen mächtig erleichtert, als man sich endlich verabschiedete und zum Wagen gehen konnte.
Mit einem tiefen Seufzer legte sie Sturmhöhe aus der Hand und rollte sich auf den Bauch. Trotz der Sonnencreme fühlte sie bereits ein Prickeln auf der Haut, was erfreulich war, aber sie mußte doch darauf achten, nicht zu lange in der Sonne zu bleiben.
Das Buch war irgendwie komisch und frustrierend. Im Film war dieser Heathcliff so schön tragisch und sexy gewesen - sogar in der Schwarzweißfassung mit Laurence Olivier, die im Fernsehen gezeigt worden war. Mutter und sie hatten eine ganze Packung Kleenex verbraucht, und Vater hatte sie ausgelacht. Aber das Buch war anders. Nicht die Story, die stimmte im wesentlichen, nur der Charakter von Heathcliff. Gut und schön, er liebte Catherine, leidenschaftlich sogar, aber irgendwie war er viel grausamer und brutaler als im Film. Als ob er alle zerstören wollte. Und was noch schlimmer war: Im Buch war er viel mehr darauf versessen, sich das Haus und den ganzen Besitz unter den Nagel zu reißen. In Wirklichkeit war das auch der Grund, warum er Isabella geheiratet hatte - nicht etwa, um Edgar eins auszuwischen, weil der ihm Catherine weggenommen hatte -, und es war nicht gerade romantisch, wenn man wußte, daß jemand nur auf Geld aus war. Eigentlich war er gar kein richtiger Held, sondern mehr so ein Irrer, wie dieser Teddy Hackett, nur viel schöner.
Sie griff nach ihrem Glas mit Perrier. Das Mineralwasser war warm geworden, die Eiswürfel hatten sich aufgelöst, und die Kohlensäure war restlos entwichen. Angewidert verzog sie das Gesicht, drehte sich wieder auf den Rücken und begann, ohne rechte Zuversicht, über ihre Pläne nachzudenken, sich als Amateurdetektivin zu betätigen. Viel war es nicht, was ihr dazu einfiel. Schließlich hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wen die Polizei für verdächtig hielt, welche Spuren man gefunden hatte und wieviel man wußte über die möglichen Motive und Gelegenheiten zur Tat. Sie konnte eigentlich nur von dem ausgehen, was hier ohnehin jeder wußte: daß Steadman hinter Penny Cartwright her gewesen war, sehr zum Ärger ihres Vaters; daß er oft mit Michael Ramsden zusammengearbeitet hatte; daß er dessen Familie geholfen und nach dem Tod des alten Ramsden das Haus gekauft hatte; daß er im großen und ganzen recht beliebt gewesen war und sich regelmäßig mit Jack Barker, Teddy Hackett und Doktor Barnes im Bridge getroffen hatte. Alles in allem nicht gerade der Typ, der bei andern die wilden großen Leidenschaften entfesselt, wie Heathcliff beispielsweise. Trotzdem mußte es ihm wohl bei irgendwem gelungen sein; immerhin hatte man ihn umgebracht.
Der Täter war bestimmt ein Mann, dessen war sich Sally ganz sicher. Steadman war ziemlich groß gewesen und hatte garantiert ein ganz ordentliches Gewicht gehabt. Eine Frau wäre nie imstande gewesen, seine Leiche über den Wall zu hieven und den ganzen Hügel hoch auf dieses Feld zu schleppen. Aber damit war der Kreis der Verdächtigen immer noch recht groß. Wirklich ärgerlich, daß sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hatte, einen Blick aus dem Schuppen zu werfen, in der bewußten Nacht. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Phantasie anzustrengen und sich auf die Fakten zu konzentrieren. Daß Michael Ramsden sich früher mal um Penny Cartwright bemüht hatte, war allgemein bekannt. Vielleicht hatte er immer noch eine Schwäche für sie - wie Heathcliff für Catherine - und war eifersüchtig gewesen auf diesen Steadman ? Andererseits hatte sie ihn doch neulich gesehen - und ganz schnell weggeguckt -, als sie mit Kevin in diesem Lokal gewesen war, in Leeds. Er war mit einer sehr gutaussehenden Frau zusammen gewesen - und zwar nicht mit Penny, das hatte sie genau gesehen, obwohl sie nur mal flüchtig hingeguckt und Kevin schleunigst zum Ausgang gezerrt hatte -, und wenn er Penny immer noch liebte, war wohl kaum anzunehmen, daß er mit einer anderen Frau ausging.
Natürlich kam auch dieser Jack Barker in Frage. Anfangs war er ihr nicht besonders verdächtig vorgekommen, aber inzwischen konnte sie sich gut vorstellen, daß er zu einem Verbrechen aus Leidenschaft fähig war. Sie hatte oft genug beobachtet, wie er mit Penny ins Dorf geschlendert war, und Steadman war ihm sicher im Wege gewesen. Außerdem schrieb er Krimis und wußte alles über Mord. Er war ein Gentleman, ganz klar, aber das hieß noch lange nicht, daß er so blöd war, mit rauchender Kanone in der Landschaft rumzustehen und auf die Polizei zu warten. Schließlich mußte er doch sehen, daß er die Leiche möglichst schnell los wurde, damit er in Freiheit blieb und versuchen konnte, Pennys Liebe zu erringen. Aber vielleicht hatte er ein Alibi, die Frage war nur, wie man das herausfinden konnte.
Bei Hackett war der Fall klar. So was wie Liebe oder Leidenschaft kam natürlich nicht in Frage, aber es hatte allerhand Gerüchte gegeben über dieses Grundstück. Daß die Leute bei so was total ausrasten konnten, sah man ja an Sturmhöhe.
Sie griff nach ihrer Sonnenschutzcreme. Eine Schicht noch, ein Stündchen oder so, dann war es Zeit, wieder ins Haus zu gehen. Was die Jagd nach dem Mörder betraf, so blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich die gesamten achtzehn Monate, die die Steadmans nun schon in Gratly lebten, in Erinnerung zu rufen, jede Einzelheit, die sie seither im Dorf gehört oder gesehen hatte. Möglicherweise fiel ihr heute etwas auf, ein Wort oder eine Geste, deren Bedeutung ihr früher nicht aufgegangen war und die erst im Zusammenhang mit diesem Mord einen Sinn ergab. Sie hatte ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis - wahrscheinlich, weil sie so viele Filme gesehen hatte - und konnte sich jederzeit einen bestimmten Gesichtsausdruck oder eine Körperhaltung in Erinnerung rufen. Vielleicht machte es irgendwann klick, wenn sie lange genug daran arbeitete.
Es war ein angenehmes Gefühl, das warme Sonnenöl zu spüren, sich den Bauch und die Schenkel zu massieren und sich vorzustellen, daß es Kevins Hände waren, die ihre prickelnde, leicht gerötete Haut einrieben. Eine Biene summte um den offenen Flaschenhals, streckte die Fühler aus und schwebte davon, während sich Sally wieder ihrer Lektüre zuwandte, fettige Fingerabdrücke auf den Buchseiten hinterlassend.
Ganz in ihr Gespräch vertieft, schlenderten die beiden Männer langsam über Helmthorpes High Street. Banks hatte eine Hand in der Hosentasche versenkt, während er mit der anderen das lässig über der Schulter hängende leichte Sportsakko festhielt. Die Ärmel des weißen Oberhemds hatte er bis über die Ellbogen hochgerollt und die Krawatte gerade so weit gelockert, daß sich der oberste Kragenknopf öffnen ließ. Er haßte Krawatten, weshalb er sie als Kompromiß vorzugsweise gelockert trug. Mit gesenktem Kopf hörte er sich an, was Hatchley zu berichten hatte. Schwankend wie ein Mast im Wind ging der hochgewachsene Sergeant neben ihm her, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Kopf in den massigen Nacken gelegt, als wolle er den Zustand der Dachfirste begutachten. Den Hosengürtel straff angezogen, schob er einen prallen Bierbauch vor sich her, der auf liebevolle Pflege schließen ließ. Das Wetter war nach wie vor unentschlossen, die Sonne wechselte in schneller Folge mit dunklen Wolken, die im Wind dahintrieben und ihre Schatten über die hellschimmernde Stirn des Crow Star warfen.
«Meinte, er wär 'n bißchen durcheinander gewesen», setzte Hatchley seinen Bericht fort. «Ziemlich geschockt, sozusagen. Hat 'nen doppelten Scotch gekippt, auf die Schnelle, und sich wieder aus dem Staub gemacht.»
Die eher dürftige Meldung, die Constable Weaver so dringend hatte loswerden müssen, beschränkte sich auf die Mitteilung, daß sich der Barkeeper des Dog and Gun erinnerte, Steadman am fraglichen Abend, kurz nach zehn, im Lokal gesehen zu haben. Er hatte seine Aussage erst jetzt machen können, weil er auf einer Angeltour in Schottland gewesen war und von dem Mord erst durch Weaver erfahren hatte.
«Ich kann Ihnen sagen, warum er den Drink gebraucht hat», meinte Banks und berichtete von seinem Gespräch mit Major Cartwright. Offensichtlich hatte Hatchley das Gefühl, damit sei ihm der Wind aus den Segeln genommen, denn als Banks sich erkundigte, ob es irgendwelche weiteren Entwicklungen gegeben habe, erntete er lediglich ein mürrisches «Nein».
Hatchleys Laune hob sich jedoch schlagartig, als sie das Bridge betraten und er die vertraute Mischung aus Bierdunst und Tabakqualm einatmete. Kaum hatten sie sich an dem zerschrammten Tisch niedergelassen, der ihnen schon von ihrem ersten Besuch her bekannt war, standen die gewünschten Theakston's Bitter bereits auf dem Tisch, und die Steak-and-mushroom-pies waren bestellt.
«Wenn er nun wieder zurück ist, zu dem Cottage?» meinte Hatchley. «Kann doch sein, daß ihm hinterher die Suppe hochgekommen •ist, als er sich überlegt hat, wie der Major mit ihm umgesprungen ist, und da hat er sich wieder auf die Socken gemacht, um die Sache zu regeln. Jedenfalls kann man den alten Knaben noch lange nicht streichen. Und das Mädel auch nicht.»
«Richtig. Vielleicht hat er auch gewartet, bis die Luft rein war, und ist dann wieder zu Penny, um da weiterzumachen, wo man ihn unterbrochen hat. Und wir wissen ja, daß sich der Major als der große Beschützer seiner Tochter sieht.»
«Nach allem, was ich höre», meinte Hatchley genießerisch, «muß sie immer eine ziemlich wilde Hummel gewesen sein. Ist nach London abgeschwirrt, hat mit diesen ganzen Freaks und Musikern rumgehangen - wo bestimmt auch Drogen im Spiel waren -, und ich möchte sehr bezweifeln, ob sie immer so genau darauf geachtet hat, mit wem sie grade ins Bett geschlüpft ist. Also, wenn sie meine Tochter wär, würd ich sie nach solchen Geschichten bestimmt auch 'n bißchen fester an die Kandare nehmen.»
«Aber sie ist eine erwachsene Frau von sechsundzwanzig! Im übrigen war sie bei Steadman doch wohl sicher aufgehoben, oder nicht?»
Hatchley zuckte mit den Achseln. «Scheint so, aber vielleicht war auch etwas mehr dran an der Geschichte.»
«Oh, sicher, an solchen Geschichten ist immer etwas mehr dran, aber soweit es Penny betrifft, gibt es da zwei Punkte, die zu ihren Gunsten sprechen. Erstens hat die Nachbarin niemanden mehr bei ihr klopfen hören, später am Abend, und auch nichts davon bemerkt, daß Penny noch einmal ausgegangen wäre. Und zweitens ist sie wohl kaum kräftig genug, um die Leiche bis zu diesem Versteck zu schleppen.» Banks wollte eben hinzufügen, daß ihm Pennys Gefühle gegenüber Steadman überzeugend und echt erschienen waren, doch Sergeant Hatchley hielt solche Eindrücke erfahrungsgemäß nicht für besonders beweiskräftig. Außerdem hatte die Faszination ihrer Gegenwart inzwischen deutlich nachgelassen, und er begann sich bereits zu fragen, ob sie nicht vielleicht eine höchst bemerkenswerte Schauspielerin war. «Allerdings», räumte er ein, «könnte sie natürlich dabei geholfen haben, die Leiche wegzuschaffen. Immerhin hat das Cottage einen Hinterausgang, und es ist ohne weiteres möglich, daß die alte Nachbarin von den vorderen Räumen aus nichts gehört hat.»
«Halten Sie es denn für denkbar, daß das Mädel wirklich was hatte mit diesem Steadman?» fragte Hatchley.
«Keine Ahnung, bei solchen Sachen kann man nie sicher sein. Es gibt Leute, die jahrelang ein Verhältnis miteinander haben, ohne daß es irgend jemand merkt.»
«Welchen Grund soll er denn sonst gehabt haben, ständig bei ihr rumzuhängen?»
«Immerhin gibt's doch noch so was wie Freundschaft, oder?»
«Blödsinn!» knurrte Hatchley.
Inzwischen waren die Pasteten gekommen, und das Gespräch verstummte, bis die Teller leer waren.
«Steadman hatte immerhin einen ganz netten Haufen Geld», nahm Banks schließlich den Faden wieder auf und griff nach seinem zweiten Pint. «Wenn man bedenkt, daß seine Frau ihn wohl beerben wird, sieht das nach einem ziemlich guten Motiv aus, meinen Sie nicht?»
«Leider wissen wir, daß sie's nicht gewesen sein kann», wandte Hatchley ein. «Warum die Dinge komplizierter machen, als sie ohnehin schon sind?»
«Immerhin könnte sie jemanden angeheuert haben.»
«Wir sind hier schließlich in Helmthorpe und nicht in London oder New York.»
«Na und? Ich kannte einen Knaben in Blackpool, der eine regelrechte Preisliste angeboten hat - fünfzig Scheine für einen kleinen Armbruch, fünfundsiebzig für die Beine, so was in der Art. Inzwischen werden die Preise natürlich ein bißchen höhergegangen sein, bei der allgemeinen Geldentwertung, aber es ist doch einfach naiv, anzunehmen, daß sich solche Dinge auf den Süden beschränken. Das sollten Sie doch wohl am besten wissen, oder wollen Sie mir etwa einreden, Sie wüßten in Eastvale niemanden, der einen solchen Job übernimmt? Was ist mit Eddie Cockley zum Beispiel? Oder mit Jimmy Spinks? Der würde doch seiner eigenen Mutter den Hals aufschlitzen für ein armseliges Bier!»
«Aye, aye», bekannte Hatchley, «aber wie soll eine Frau wie Mrs. Steadman an solche Figuren rankommen?»
«Nicht sehr plausibel, zugegeben, aber letzten Endes auch nicht viel abwegiger als der ganze Rest in diesem verdammten Geschäft. Überlegen Sie mal - wir wissen so gut wie nichts über die Ehe der Steadmans. Nach außen hin verlief sie offenbar völlig normal, aber man fragt sich doch zum Beispiel, was sich Mrs. Steadman so gedacht hat bei dieser Beziehung ihres Mannes zu Penny Cartwright. Vielleicht war sie ganz krank vor Eifersucht, wir wissen es nicht. Und selbst wenn wir danach fragen, wird man uns Lügen auftischen. Sämtliche Beteiligten, denn aus irgendeinem Grund scheint hier jeder jeden beschützen zu wollen.»
«Vielleicht weil jeder jeden verdächtigt.»
«Würde mich jedenfalls nicht überraschen.»
Hatchley nahm einen kräftigen Schluck von seinem Pint.
«Wissen Sie, was das Problem ist bei diesem Fall, Sergeant?» fuhr Banks fort. «Daß alle außer Major Cartwright so tun, als wär bei jedem Furz von diesem Steadman die Sonne aufgegangen.»
Hatchley grinste. Dann leerten beide ihre Gläser und machten sich auf den Weg zu Hackett.
Teddy Hacketts Büro lag hinter der Tankstelle in einer alten Mühle am Ufer des Swain. Durch das offene Fenster wehte der Duft von Blumen herein und das Gurgeln des über die Kiesel dahinströmenden Wassers. Hin und wieder verirrte sich eine Biene von der blühenden Klematis an der alten Natursteinfassade ins Büro, drehte summend ein paar Runden, ohne etwas Interessantes an diesem Menschenzubehör entdecken zu können, und schwebte wieder ins Freie.
Hackett war deutlich nervös und sofort ins Schwitzen geraten, als die beiden Beamten auftauchten. Den Rücken zum Fenster gewandt, hatte er sich hinter seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch verschanzt und hantierte mit einem Brieföffner, während Banks ihn von seinem Stuhl aus musterte, die Pfeife hervorholte, sie schließlich in Gang brachte und auf Hacketts falches Alibi zu sprechen kam. Hatchley hatte sich an die Wand gelehnt und beobachtete das Geschehen von erhöhtem Posten.
«Nach allem, was wir bisher feststellen konnten, sind Sie kurz nach eins im KitKat-Klub erschienen - also ein wenig später als ursprünglich angegeben.»
Hackett wand sich verlegen. «Ich hab's nicht so mit den Zeiten. Komm immer zu spät zu meinen Terminen, so bin ich nun mal.»
«Keine besondere Empfehlung für einen Geschäftsmann, nicht wahr?» meinte Banks mit einem Lächeln. «Aber das soll uns hier nicht interessieren. Was mich beschäftigt, ist die Frage, was Sie vorher getan haben.»
«Das hab ich Ihnen doch gesagt», erklärte Hackett und ließ den Brieföffner auf die offene Handfläche klatschen. «Ich war noch auf ein paar Drinks in einem Pub.»
«Aber samstags ist um elf Uhr Zapfenstreich in den Pubs, Mr. Hakkett. Selbst in einem äußerst freizügigen Haus wird man Sie spätestens um halb zwölf vor die Tür gesetzt haben. Was haben Sie also gemacht in der Zeit von halb zwölf bis eins?»
Hackett verlagerte sein Gewicht von einer Gesäßhälfte zur anderen und rieb sich das Kinn. «Hören Sie, ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen, Sie verstehen? Aber wenn der Barmann ein guter Kumpel ist, kriegt man schon mal 'n Extradrink oder auch zwei. Vor allem, wenn auch noch der Ortspolizist dabei ist.» Er zwinkerte vertraulich. «Ich will sagen, falls der junge Weaver vielleicht mal -»
«Ich will nicht wissen, was Constable Weaver treibt», fiel ihm Banks ins Wort, «sondern, was Sie gemacht haben - und ich werde allmählich ungeduldig. Sie wollen also sagen, daß der Wirt die gesetzlich vorgeschriebenen Öffnungszeiten umgangen und Ihnen bis ein Uhr früh Getränke ausgeschenkt hat, ist das zutreffend?»
«So würde ich das nicht ausdrücken. Es war mehr eine Art freundschaftlicher kleiner Umtrunk, sozusagen als Privatmann im eigenen Lokal. Schließlich gibt es ja wohl kein Gesetz, das einem verbietet, mit einem guten Kumpel ein Gläschen zu trinken, wenn man dazu Lust hat, oder?»
«Nein, keineswegs», antwortete Banks. «Einigen wir uns also darauf, daß Sie im Rahmen der Gesetze geblieben sind. Und wenn Sie so gut befreundet sind mit dem Wirt, werden Sie uns doch wohl auch den Namen des Pubs verraten können, nicht wahr?»
«Oh, hab ich das nicht? Ich dachte...»
Banks schüttelte den Kopf.
«Also, ich dachte wirklich, ich hätt es Ihnen gesagt. Tja, also, das war das Cock and Bull auf der Arthur Street, ein paar Häuser weiter vom Klub.» Hackett legte den Brieföffner zur Seite, zündete sich eine Zigarette an und rauchte in tiefen, geräuschvollen Zügen.
«Nein», erklärte Banks, «es war nicht das Cock and Bull auf der Arthur Street. Der Wirt hat zwar ausgesagt, daß er Sie kennt, das ist richtig, aber Sie sind am Freitag dort gewesen und nicht am Samstag. Also, Mr. Hackett, wo waren Sie?»
Hackett wirkte völlig niedergeschmettert. «Er muß sich irren. Hat ein miserables Gedächtnis, der gute alte Joey. Bestimmt fällt's ihm wieder ein, wenn Sie ihn noch mal fragen und ihm ein bißchen auf die Sprünge helfen. Er erinnert sich garantiert. Weil's einfach wahr ist - ich war wirklich da.»
«Nun reicht's aber! Sagen Sie uns endlich, wo Sie gesteckt haben, Mann!» ertönte Hatchleys lautes Organ hinter Hacketts Rücken und brachte ihn völlig aus der Fassung. Offensichtlich hatte er den Sergeant, der bislang keinen Laut von sich gegeben hatte, ganz vergessen. Nun aber drehte er sich zu ihm um und sah sich mit plötzlichem Erschrecken einem weiteren Gegner ausgesetzt, einem weitaus gefährlicheren Mann, der ihn von oben herab musterte. Unwillkürlich erhob er sich von seinem Schreibtischsessel, mußte aber feststellen, daß ihn der Sergeant immer noch um einiges überragte.
«Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen...»
«Wir wollen auf gar nichts hinaus», erklärte Hatchley. «Wir geben Ihnen lediglich laut und deutlich zu verstehen, daß Sie nicht im Cock and Bull waren, sondern uns einen ganz verdammten Bullenscheiß auftischen, ist das klar? Sie waren überhaupt in keinem Pub, weder in Darlington noch sonstwo! Sie haben draußen vor dem Bridge auf Steadman gewartet, sind ihm gefolgt bis zum Haus von Penny Cartwright, haben wieder gewartet und sind dann hinter ihm her zum Dog and Gun und anschließend auf den Parkplatz, wo es schön still und dunkel war. Haben ihm eins über den Schädel gegeben, die Leiche in Ihren Kofferraum gestopft und später - als alles geschlafen hat - auf diese Wiese geschleppt. Liegt ja am Weg, wenn man nach Darlington will, wie? Und die Zeiten stimmen auch, mein Freund, das haben wir überprüft. Zusammen mit den Lügen, die Sie uns aufgetischt haben, und den Spuren, die wir garantiert in Ihrem Wagen finden, heißt das im Klartext: Wir haben dich an den Hammelbeinen, Kumpel!»
Hackett wandte sich hilfesuchend um zu Banks. «Das können Sie doch nicht zulassen», jammerte er. «Er kann mich doch nicht einfach so einschüchtern und beschuldigen. Das ist nicht...»
«Nicht fair, meinen Sie?» erkundigte sich Banks. «Aber seine Version ist möglich, nicht wahr, Mr. Hackett? Sehr gut möglich sogar.»
Hackett sackte in seinen Schreibtischsessel zurück und mußte zusehen, wie sich Hatchley vor ihm aufbaute. «Hören Sie, Sir», begann der Sergeant betont leise, «wir wissen, daß Sie erst nach ein Uhr im Klub aufgetaucht sind. Damit hatten Sie also reichlich Zeit, Steadmans Leiche loszuwerden und anschließend nach Darlington zu fahren. Meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn Sie uns alles erzählen? Vielleicht war es ja nur Totschlag oder so was. Ein harmloser Streit, eine Rauferei, ein Schlag - Sie müssen das ja gar nicht gewollt haben, nicht wahr? Ist es so gewesen?»
Hackett starrte ihn an, äußerst argwöhnisch angesichts der plötzlichen Freundlichkeit. Banks stand auf und trat ans Fenster, angelegentlich nach draußen auf den Fluß schauend.
«Ich bin einfach nur so rumgelaufen, das ist alles», erklärte Hackett. «Nachdem ich aus dem Bridge zurück war und mich umgezogen hatte, bin ich direkt los nach Darlington, aber unterwegs hab ich dann angehalten. Es war wirklich ein besonders schöner Abend, und ich hatte im Moment keine Lust auf einen Drink, also hab ich einen Spaziergang gemacht. Um allein zu sein.»
«Und dann kam Greta Garbo, ich weiß», knurrte Banks von hinten, trat mit einem schnellen Schritt vom Fenster an den Schreibtisch und begann, mit heftigen Bewegungen seine Pfeife in dem dicken Glasaschenbecher auszuklopfen. «Meine Geduld ist inzwischen auf dem Siedepunkt, Verehrtester», drängte er mit lauter Stimme und sah Hackett drohend an, dessen Blick sich nun in höchster Angst und Verwirrung auf die Riesengestalt des eben noch gefürchteten Hatchley richtete, als sei er dankbar für dessen liebevolle Gegenwart.
«Aber ich -»
«Halten Sie den Mund», befahl Banks. «Ich habe keine Lust mehr auf Ihre Märchen. Kapiert, Hackett? Sie werden mir jetzt die Wahrheit sagen, und wenn mir Ihre Geschichte nicht gefällt, sitzen Sie in Eastvale im Loch, bevor Sie noch den Mund zuklappen. Ist das klar?»
Hoch zufrieden mit dieser Vorstellung, übernahm Hatchley die Rolle des guten Onkels. «Ist wohl besser, Sir, wenn Sie tun, was der Chief Ihnen sagt», riet er dem bleichgesichtigen Hackett zu. «Kann doch gar nichts passieren, wenn Sie nichts zu verbergen haben.»
Hackett starrte den Sergeant minutenlang an, bis sich seine Haltung plötzlich entspannte und den Augenblick der Wahrheit ankündigte. Banks hatte solche Dinge im Blut; er kannte diese Augenblicke aus jahrelanger Erfahrung. Hackett war unterdessen immer noch so verwirrt, daß er Hatchley mit finsteren Blicken bedachte und seinen Bericht ausschließlich an Banks adressierte, der ihm freundlich zulächelte und ihn von Zeit zu Zeit mit einem wohlmeinenden Nicken ermunterte.
Alles in allem war die Geschichte höchst enttäuschend, räumte aber immerhin einige ungeklärte Fragen aus. Nach seinem Besuch im Bridge hatte sich Hackett zu Hause geduscht und umgezogen und war dann nach Darlington gefahren, um sich dort für etwa zwei Stunden den Freuden des Fleisches hinzugeben, mit einer jungen Frau, deren Ehemann gerade die Nachtschicht in der heimischen Kohlenzeche fuhr. Anschließend war er in den KitKat-Klub gegangen, ohne ihre Begleitung, um sie nicht zu kompromittieren und ins Gerede zu bringen. Den Namen und die Adresse der Dame zu erfahren war ein hartes Stück Arbeit, und Hackett bat inständig, unter allen Umständen zu vermeiden, daß der Muskelprotz von Ehemann von der Sache Wind bekam.
«Wenn Sie schon unbedingt mit Betty sprechen müssen, dann achten Sie bitte darauf, daß Sie nicht vor zehn Uhr abends zu ihr gehen», flehte er. «Oder ich sag ihr, daß sie zu Ihnen kommen soll. Wär vielleicht noch besser, wie?»
«Wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Hackett», versetzte Banks, «werden wir tun, was wir für richtig halten.»
«Haben Sie doch ein Herz, Chief Inspector! Machen Sie denn nie mal 'n kleinen Seitensprung?»
Banks' Wangenmuskeln strafften sich. «Nein», antwortete er bissig. «Und selbst wenn das der Fall wäre, würde das an Ihrer Situation nicht das geringste ändern.» Er legte seine Hände auf den Schreibtisch und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Hackett entfernt war. «Allem Anschein nach haben Sie noch nicht begriffen, Sie Hansdampf in allen Gassen, daß es hier um einen Mord geht! Genau gesagt, um einen Mord an einem Ihrer Freunde, falls Sie das vergessen haben. Und Sie haben nichts weiter im Sinn, als sich den Kopf zu zerbrechen über dieses dumme Flittchen, mit dem Sie in Darlington herum vögeln!»
«Sie ist kein Flittchen - und es gibt keinen Grund, eine völlig intakte Ehe zu zerstören. Aber genau das werden Sie tun, jawohl.»
«Nein, nicht wir, das haben Sie bereits getan - und sie mit Ihnen. Und wenn ich nur einen Moment glauben könnte, daß Sie sich mehr Sorgen um diese Ehe machen als um Ihre eigene kostbare Haut, würde ich möglicherweise in Betracht ziehen, die Dinge diskreter zu handhaben.»
Er nickte Hatchley auffordernd zu und überließ den nägelkauenden Hackett seinen trübsinnigen Betrachtungen über den verhängnisvollen Tag, an welchem ihm die aufreizende Betty Fields im Cock and Bull über den Weg gelaufen war.
«Wie wär's, wenn Sie Darlington übernehmen, Sergeant?» erkundigte sich Banks, als sie die High Street erreicht hatten. «Ist wohl am besten, Sie machen sich selbst ein Bild, oder?»
«Jawohl, Sir», grinste Hatchley.
«Na schön. Aber erst nach zehn, wenn's möglich ist.»
«Wie? Aber...»
«Es macht Ihnen doch nichts aus?»
«Das nicht, hab sowieso 'n paar Kumpel da drüben, die ich schon länger nicht mehr gesehen habe. Aber was ist mit diesem Hackett?»
«Nichts Besonderes, im Grunde hat er recht. Es macht keinen Sinn, eine Ehe unnötig zu strapazieren, auch wenn sie nicht besonders stabil zu sein scheint wie bei dieser Betty Fields. Hackett braucht nichts davon zu wissen. Er wird völlig zerrüttet sein, bis er wieder von seiner kleinen Freundin hört. Das ist gut so, denn ich hab mir sagen lassen, daß diese Jungs von den Zechen keine üblen Burschen sind.» Er lächelte, als er Verständnis in Hatchleys Miene aufdämmern sah. «Man muß eben sehen, wie man die notwendige Härte mit angemessenem Mitgefühl ausgleicht, nicht wahr, Sergeant? Kommen Sie, ein kurzer Besuch noch und dann nichts wie nach Hause. Ach ja, noch etwas...»
«Ja, Sir?»
«Nicht schlecht, Ihr kleines Wortspiel mit dem Cock and Bull und dem Bullenscheiß...»
«Oh, ja, ich fand's eigentlich ganz gelungen.»
Um das schöne Wetter zu nutzen, legten sie den Weg nach Gratly zu Fuß zurück, nahmen die Abkürzung über den Friedhof und von dort über einen schmalen Pfad durch die Felder. Die Keime der Wintersaat zogen sich wie ein grüner Samtteppich über die Terrassen hinunter zum Bach, wo sich eine Herde von Schafen unter einer Gruppe von Eschen versammelt hatte und das saftige Gras der Uferwiesen abweidete.
Gratly hatte wirklich etwas Besonderes, eine Stille und Individualität, die Banks erst bei diesem zweiten Besuch bemerkte. Mitten im Ort schwang sich eine Natursteinbrücke mit niedrigen Seitenmauern über einen breiten, in steilen Stufen abfallenden Bach, der an einer alten Mühle vorbeirauschte und sich in Kaskaden von kleinen Wasserfällen talwärts stürzte in die allumfassenden Arme des River Swain.
Um dieses Zentrum gruppierte sich der eigentliche Ort in Form eines Kreuzes mit allerhand Rissen und Kerben, die zu verschlungenen Hintergassen und versteckten Anbauten führten, von denen manche zahlreiche Dachluken aufwiesen und früher wohl als Webereischuppen gedient hatten, während andere eher nach alten Bauernhütten oder Tagelöhnerkaten aussahen. Der Glanz der Sonne auf dem hellen Sandstein und das unablässige Rauschen des Wassers hatten etwas Beruhigendes und Entspannendes und gaben Banks das Gefühl, daß dies weder der Tag noch der Ort war für ein Geschäft wie das seine. Alles lag friedlich und still, nirgendwo ein Zeichen für Leben.
Emma Steadman zeigte sich erst beim zweiten Klingeln an der Tür, eine braune Schürze über Hemd und Hose gebunden. Sich für die Unordnung entschuldigend, bat sie die beiden Beamten herein und führte sie zum Wohnzimmer, vor dessen offener Tür sie einen Moment ratlos stehenblieb und sich mit der staubigen Hand über die schweißnasse Stirn fuhr. Eine Geste, deren Bedeutung Banks augenblicklich klar wurde, als er entdeckte, daß Steadmans sämtliche Bücher aus den Regalen entfernt worden waren und in ungeordneten, bedrohlich schwankenden Stapeln auf dem Boden verstreut lagen.
Mit einem Ausdruck hilfloser Verzweiflung tastete sich die verwitwete Mrs. Steadman zur Zimmermitte vor und deutete auf das Durcheinander rundum. «Alles seine Bücher. Ich kann's einfach nicht ertragen, daß sie hier rumstehen, aber jetzt weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll.» Im Vergleich zu der Begegnung am voraufgegangenen Montag wirkte sie deutlich weniger frostig, verletzlich geradezu, inmitten dieser Trümmer eines Lebens zu zweit.
«Meines Wissens gibt es ein Buchantiquariat in Eastvale. Sicher brauchen Sie den Besitzer nur anzurufen und hierherzubitten», empfahl Banks. «Ich denke, er wird Ihnen die Sachen zu einem fairen Preis abnehmen. Oder wie wär's mit diesem Thadtwistle in Helmthorpe?»
«Danke, das ist eine gute Idee», meinte Mrs. Steadman und setzte sich. «Aber ich werde wohl noch ein bißchen damit warten müssen. Im Moment kann ich das alles noch gar nicht fassen. Was soll ich bloß mit seinen ganzen Sachen machen? Ich wußte gar nicht, wieviel Zeug er in all den Jahren gesammelt hat. Am liebsten würde ich einfach alles liegen- und stehenlassen, von hier weggehen und irgendwo anders neu anfangen.»
«Sie wollen also nicht in Gratly bleiben?» erkundigte sich Hatchley.
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, Sergeant, ich glaube nicht. Mich hält hier nichts. Das hier war Harolds Platz. Und seine Arbeit.»
«Wohin werden Sie gehen?»
«Das hab ich mir noch nicht überlegt. Wahrscheinlich in die Stadt. Nach London vielleicht», antwortete sie mit einem Blick zu Banks.
«Darüber sollten Sie sich im Moment noch nicht den Kopf zerbrechen», meinte er. «Lassen Sie sich Zeit, dann werden sich die Dinge von allein regeln.»
Nach einem kurzen Schweigen erbot sich Mrs. Steadman, einen Tee zu kochen, was Banks zu Hatchleys Bedauern jedoch ablehnte. «Nein, danke. Wir wollten nur mal eben vorbeischauen, weil wir gerade in der Gegend zu tun hatten.»
Sie zog die Augenbrauen hoch, als wolle sie ihn ermuntern, endlich zur Sache zu kommen.
«Es handelt sich um Penny Cartwright», begann Banks, wohl registrierend, daß sein Gegenüber bei diesem Namen keine Miene verzog. «Offenbar standen sich Ihr Mann und Miss Cartwright sehr nahe. Hat Sie das nicht gestört?»
«Was meinen Sie? Warum soll mich das gestört haben?»
«Nun ja», fuhr Banks behutsam fort, «Miss Cartwright ist immerhin recht attraktiv, und die Leute reden gern. Im Fall von Miss Cartwright schon seit eh und je. Haben Sie sich nie Sorgen gemacht, daß Ihr Mann vielleicht ein Verhältnis mit ihr haben könnte?»
Es war offensichtlich, daß Emma Steadman eher verblüfft als verärgert war, als handle es sich um eine Vorstellung, die ihr noch nie in den Sinn gekommen war. «Aber sie waren Freunde, seit Jahren schon», antwortete sie. «Seit sie noch ein ganz junges Mädchen war und wir zum erstenmal unsere Ferien hier verbrachten. Ich habe sie... ich meine, ich bin nie auf die Idee gekommen, in ihr etwas anderes zu sehen als das, was sie damals war. Ein Teenager oder eine Art Tochter, aber doch keine Rivalin, wirklich.»
Banks fand, daß es schon von bemerkenswerter Arglosigkeit zeugte, wenn man eine nur zwölf oder dreizehn Jahre jüngere Person noch als Kind betrachtete, zumal wenn dieses Kind schon über sechzehn und damit eher eine junge Frau war. «Mit anderen Worten, Sie sahen keinen Grund zur Beunruhigung oder gar zur Eifersucht?» hakte er nach.
«Nicht im geringsten, nein. Wie ich bereits sagte, Chief Inspector - sie gehörte gewissermaßen zur Familie, seit Jahren. Sie werden vermutlich erfahren haben, daß sie damals mit Michael Ramsden zusammen war. Er hat sie oft mit hierhergebracht - schließlich war das ja auch noch sein Elternhaus zu der Zeit, und wir kamen nur als Sommergäste. Ich glaube, sie hatte viel mit Harry gemeinsam. Sie hat zu ihm aufgesehen wie zu einem Lehrer, einem Mann von Wissen und Lebenserfahrung. Genau wie Michael übrigens. Tut mir leid, aber ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, worauf Sie eigentlich hinauswollen.»
«Ich habe mich lediglich gefragt, ob Sie Ihren Mann vielleicht im Verdacht hatten, eine Liaison zu haben mit Penny Cartwright.»
«Keineswegs. Was ist eigentlich los? Erst zweifeln Sie den Zustand meiner Ehe an, und nun beschuldigen Sie meinen Mann des Ehebruchs. Was soll das?»
Banks hob abwehrend die Hand. «Moment, ich habe keinerlei Beschuldigungen ausgesprochen. Ich habe nur ein paar Fragen gestellt, was schließlich mein Job ist.»
«Das haben Sie schon beim letztenmal beteuert», meinte sie, «und es hat mir nicht besonders weitergeholfen. Ist Ihnen eigentlich klar, daß man meinen Mann morgen beerdigen wird?»
«Durchaus, und es tut mir wirklich leid für Sie. Aber Sie werden sich wohl schon ein paar unangenehme Fragen stellen müssen, wenn Sie wollen, daß wir die Hintergründe seines Todes klären. Die Wahrheit wird wohl kaum ans Tageslicht kommen, wenn wir nur verschämt an der Oberfläche kratzen und alle heiklen Punkte diskret umgehen.»
«Ich verstehe», räumte Mrs. Steadman mit einem Seufzer ein. «Es geht nur so... so schnell.»
«Haben Sie Penny noch häufig gesehen, nachdem sie Helmthorpe verlassen hatte?»
«Nein, eher selten. Gelegentlich haben wir uns zum Abendessen getroffen, wenn wir zufällig an einem Ort waren, in London beispielsweise. Aber diese Anlässe kann man an einer Hand abzählen.»
«Welchen Eindruck machte sie in dieser Zeit?»
«Keinen besonderen, sie war wie immer.»
«Wirkte sie vielleicht manchmal deprimiert oder high oder sonstwie unter Drogen?»
«Nein, jedenfalls nicht, wenn wir uns trafen.»
«Wie stand Ihr Mann zu Jack Barker? Wie gut haben sich die beiden gekannt?»
«Jack? Oh, ich würde sagen, sie standen sich recht nahe. So nahe, wie das eben möglich war bei jemandem, der Harrys Leidenschaften nicht teilte.»
«Wie lange lebt Barker eigentlich schon in Gratly?»
«Das weiß ich nicht so genau, aber länger als wir jedenfalls. Seit drei oder vier Jahren vielleicht.»
«Und seit wann kannten sich die beiden?»
«Seit den letzten achtzehn Monaten. Wir hatten ihn zwar schon vorher gelegentlich getroffen, aber die engeren Kontakte mit den Einheimischen hat Harold erst angeknüpft, als wir hierherzogen.»
«Wo kam Barker her?»
«Aus Cheadle, in Cheshire. Soweit ich weiß, hat er aber auch eine Zeitlang in London gelebt.»
«Sind Sie oder Ihr Mann ihm vielleicht früher schon mal begegnet, also vor Ihrem ersten Ferienaufenthalt in Gratly?»
«Nein, und das gilt wahrscheinlich für jeden hier in Gratly oder in Helmthorpe. Was ist eigentlich so faszinierend an diesen Dingen aus der Vergangenheit, Chief Inspector?»
Banks runzelte die Stirn. «Das kann ich nicht so genau sagen, Mrs. Steadman. Ich versuche nur, mir ein Bild zu machen von den Beziehungen der Betroffenen zueinander. Von den Auftritten und den Abgängen auf der jeweiligen Bühne.»
«Ist das der Grund, warum sie mich über Harry und Penny befragt haben?»
«Zum Teil schon. Major Cartwright scheint übrigens nicht so besonders begeistert gewesen zu sein über diese Freundschaft.»
Mrs. Steadman gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem verächtlichen Schnauben und einem prustenden Gelächter angesiedelt war. «Der Major! Der Mann ist ein Spinner, das weiß doch jeder. Total verrückt, Penny ist alles, was ihm noch geblieben ist, und sie hat sich schon seit Jahren von ihm gelöst.»
«Sie wissen von diesen Gerüchten?»
«Wer denn nicht? Aber inzwischen werden Sie wohl kaum noch jemanden finden, der diese Geschichten ernst nimmt.»
«Vergeben und vergessen?»
«So was in der Art, ja. Solche Sachen werden schnell langweilig, heutzutage. Sie glauben doch wohl nicht, daß... daß der Major?»
Banks gab keine Antwort.
«Ihr Polizisten habt wirklich eine blühende Phantasie», fuhr Emma Steadman fort. «Was stellen Sie sich eigentlich vor? Glauben Sie etwa, der Major hätte von dieser vermeintlichen Affäre gehört und Harry umgebracht, um die Tugend seiner Tochter zu retten? Oder bilden Sie sich ein, daß ich es getan hätte, aus rasender Eifersucht?»
«Sie können es doch gar nicht getan haben, nicht wahr? Schließlich haben Sie doch zur fraglichen Zeit mit Ihrer Nachbarin vor dem Fernsehapparat gesessen, oder? Wir verlassen uns nicht ausschließlich auf unsere Phantasie, Mrs. Steadman. Es tut mir leid, wenn es so aussieht, als ob ich Sie unnötig quälen wollte, aber ich bemühe mich nur, mir ein möglichst umfassendes Bild vom Wesen Ihres Mannes und von seinem Umfeld zu machen. Und für den Moment kann ich leider noch nicht entscheiden, was von den Erinnerungen der Beteiligten wichtig ist und was nicht.»
«Tut mir leid, das ins Lächerliche gezogen zu haben», entschuldigte sich Mrs. Steadman. «Natürlich müssen Sie Ihre Arbeit machen, aber es ist doch einigermaßen bestürzend, wenn Sie so daherkommen und von angeblichen Eheproblemen und irgendwelchen Affären reden, die Harold gehabt haben soll. Versuchen Sie sich einmal in meine Lage zu versetzen, dann werden Sie sicher verstehen, daß das für mich wie eine Anschuldigung klingt.» Sie machte eine Pause und lächelte dünn. «Er war nicht der Typ für solche Dinge, und wenn Sie ihn gekannt hätten, wüßten Sie genau, was ich damit meine. Wenn er überhaupt eine Affäre hatte, dann allenfalls mit seiner Arbeit. Tatsächlich hatte ich manchmal eher den Eindruck, daß er mit der verheiratet war und daß ich die Affäre war.»
Ihre Bemerkung war offensichtlich humorvoll gemeint, ohne eine Spur von Verbitterung, und Banks quittierte sie mit einem höflichen Lachen. «Ich fürchte, meine Frau sieht das genauso», bekannte er und gab Hatchley, der sich unterdessen mit den Restbeständen in den Bücherregalen beschäftigt hatte, das Zeichen zum Aufbruch.
An der Tür wandte er sich noch einmal um und meinte: «Ich möchte Sie nicht länger strapazieren, aber da wäre doch noch eine Kleinigkeit, bei der Sie mir vielleicht helfen könnten.»
«Und die wäre?»
«Soweit ich weiß, war Ihr Mann doch Historiker, an der Universität von Leeds, nicht wahr?»
Sie nickte. «Ja, das war seine Fachrichtung.»
«Was war mit seinen Kollegen? Mit wem hatte er engeren Kontakt seinerzeit?»
Sie dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete: «Wir waren eigentlich nicht besonders gesellig, Harry war zu sehr mit seiner Karriere beschäftigt. Lassen Sie mich überlegen... ja, da gab es Tom Darnley, mit dem er recht gut befreundet war, und Godfrey Talbot, den er, glaube ich, auch noch von Cambridge her kannte. Das wär's schon, bis auf Geoffrey Barnes, der allerdings nach Winnipeg wechselte, bevor Harry die Universität verließ. Mehr fällt mir im Moment nicht ein.»
«Vielen Dank, Mrs. Steadman», sagte Banks, während sich die Tür langsam hinter ihm schloß, «das wird uns helfen für den Anfang. Bis morgen dann.»
Sie nahmen wieder den Weg durch die Felder, zurück zu ihrem Wagen, in dem es heiß und stickig geworden war, nachdem er den größten Teil des Tages ungeschützt in der Sonne gestanden hatte. Banks vermißte den Cortina mehr denn je, denn die Landschaft, die draußen vorbeirauschte, inspirierte zum Musikgenuß. Statt dessen mußte er sich damit abfinden, daß Hatchley zu schnell fuhr und sich ausführlich darüber verbreitete, noch nie so viele verdammte Bücher gesehen zu haben, außer in Gristhorpes Büro. «Komisches Frauenzimmer, diese Mrs. Steadman, finden Sie nicht auch?» meinte er schließlich.
«Ja», bestätigte Banks, in die Betrachtung eines fernen Moränenhügels versunken, auf dem sechs einsame Bäume ihre windgepeitschten Stämme in eine Richtung bogen. «Man fühlt sich irgendwie unbehaglich in ihrer Gegenwart, und ich muß zugeben, daß ich nicht so recht weiß, was ich von ihr halten soll.»