EINFÜHRUNG
AM JORDAN
ODER
JESUS, DAS ÄRGERNIS
Betanien, was so viel heißt wie »Bootshausen«, so wird im Johannesevangelium der Ort am Jordan genannt, wo Jesus von Johannes dem Täufer getauft worden sein soll. (Joh 1,28)*
Die Uferbereiche nahe der Stadt Jericho, wo man die Taufstelle vermutet, sind heute ein Ziel für Gläubige aus aller Welt. Pilger in weißen langen Hemden steigen der Reihe nach in den Fluss und lassen sich von einem Priester rückwärts ins Wasser tauchen. Der Jordan ist ein schmales Flüsschen, in dem das Wasser mehr steht als fließt. Damals, in den Tagen des Täufers Johannes, soll der Fluss noch zwei- bis dreihundert Meter breit gewesen sein. An einer Furt, wo der Fluss weniger reißend und nicht so tief war, hatten die Jünger des Johannes eine Treppe ins Wasser gebaut. Davor drängten sich die Menschen. Johannes war eine Berühmtheit und die Leute kamen von weit her, um ihn zu hören und sich von ihm taufen zu lassen. Am Ufer entlang standen nicht wie heute Autos und Busse, sondern Kamele und Esel, beladen mit Decken und Zeltplanen. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus nennt Johannes einen edlen Mann, dessen »wunderbare Anziehungskraft« eine »gewaltige Menschenmenge« anlockte.1
Und das, obwohl sie von Johannes keine angenehmen Worte und erbaulichen Predigten zu hören bekamen. Vielmehr beschimpfte er sie wüst als »Schlangenbrut« (Mt 3,7) und drohte ihnen zornig mit einem entsetzlichen Gericht, wenn sie nicht bereit wären, ihr Leben radikal zu ändern. Zu den donnernden Reden des Täufers passte auch sein Aussehen. Er hatte eine wilde Haarmähne, bekleidet war er mit einem groben Umhang aus Kamelhaar, und alles, was er aß, waren Heuschrecken und wilder Honig.
Der Evangelist Lukas nennt ziemlich genau den Zeitpunkt, als sich seiner Schilderung nach an der Taufstelle am Jordan etwas Ungewöhnliches ereignet haben soll. (Lk 3,1-22) Der Kaiser in Rom hieß Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Antipas, ein Sohn des Herodes des Großen, war Tetrarch von Galiläa und Kaiphas Hohepriester in Jerusalem. Die Amtszeiten dieser Personen sind bekannt, legt man nun noch die damalige Zeitrechnung zugrunde, dann muss es ein Tag Ende des Jahres 27, Anfang des Jahres 28 n. Chr. gewesen sein.
Wieder sind viele Menschen an den Jordan gekommen, um sich von Johannes taufen zu lassen. Unter ihnen ist ein junger Mann Mitte zwanzig. Als die Reihe an ihm ist, steigt er zu Johannes ins Wasser. Aber der sonst so temperamentvolle und hitzköpfige Johannes wird plötzlich kleinlaut, zögerlich, ja unterwürfig. »Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?«, sagt Johannes im Matthäusevangelium. (Mt 3,14) Der junge Mann besteht darauf, von Johannes getauft zu werden, und schließlich geschieht es so.
Dieser Vorfall sorgt unter den Leuten am Fluss für erhebliche Unruhe. Denn viele von ihnen halten Johannes für einen Propheten oder gar für den geweissagten Messias. Johannes hatte eine solche Verehrung immer energisch zurückgewiesen und darauf beharrt, dass er nur ein Vorläufer sei und nach ihm einer komme, der viel größer sei als er. Und nun zeigt er vor einem jungen Mann so viel Respekt und Ehrfurcht. Ist denn an diesem Mann etwas Besonderes? Keiner kennt ihn. Nur so viel ist zu erfahren, dass er Jesus heißt, aus Galiläa kommt und der Sohn eines Bauhandwerkers namens Josef ist.
Mit der Taufe am Jordan begann das öffentliche Wirken des Jesus von Nazaret. In den folgenden Wochen und Monaten machte er immer mehr von sich reden. Er zog in der Gegend um den See Gennesaret umher, heilte Kranke und hielt Reden, wie man sie noch nie gehört hatte. Immer mehr Menschen schlossen sich ihm an und verehrten ihn als einen Propheten oder sogar als den Messias, der das Volk Israel von der römischen Herrschaft befreien würde. Mit seinen Ansichten zog er den Argwohn der jüdischen Schriftgelehrten auf sich, und für die römischen Besatzer waren Wanderprediger wie dieser Jesus gefährliche Unruhestifter, die im Verdacht standen, die römische Herrschaft infrage zu stellen und ihre Landsleute zum Widerstand aufzuwiegeln. Schließlich wurde Jesus verhaftet und hingerichtet, am Kreuz, wie man es nur mit Schwerverbrechern machte.
Mit seinem Tod brach für seine Anhänger, die sich der »neue Weg« (Apg 9,2) nannten, eine Welt zusammen. Für viele unter ihnen war es eine bittere Tatsache, dass sie sich in Jesus getäuscht hatten und die ganze Bewegung um ihn erbärmlich gescheitert war. Jahrelang waren sie einem Mann gefolgt, von dem sie sich so viel erwartet hatten. Einige hatten gehofft, dass Jesus den entscheidenden Aufstand gegen die Römer anführen werde. Andere hatten erwartet, dass mit Jesus das ersehnte Gottesreich anbrechen werde und sie darin bevorzugte Plätze einnehmen würden. Nichts davon war eingetroffen. Stattdessen war ihr Meister am Kreuz gestorben wie ein x-beliebiger Verbrecher.
Die Frauen und Männer, die dem Mann aus Nazaret gefolgt waren, zerstreuten sich in alle Winde und damit schien diese kleine jüdische Sekte ausgelöscht und vergessen zu sein. Aber schon nach kurzer Zeit tauchten die Jesus-Leute wieder auf und behaupteten, ihr Meister sei nicht tot, sondern von den Toten auferstanden. Die Nachricht vom Zimmermannssohn aus Galiläa, der in Wahrheit Gottes Sohn war, der die väterliche Liebe Gottes zu den Menschen verkündete und selber lebte, der hingerichtet wurde und wieder auferstanden war, verbreitete sich nun unaufhaltsam. Entscheidend trug dazu ein Mann namens Paulus bei, der nur wenig jünger war als Jesus. Er, der sich vom fanatischen Verfolger der Jesus-Leute zum Apostel gewandelt hatte, verhinderte, dass die Lehre des Nazareners eine rein jüdische Angelegenheit blieb. Er brachte die »frohe Botschaft« auch zu den Heiden. Überall in Kleinasien und sogar in Griechenland und in Rom entstanden Gemeinden der Christen, wie sie jetzt genannt wurden.
Zunächst wurden die Erinnerungen an Jesus mündlich weitergegeben. Doch dann begann man in den Gemeinden, diese Geschichten zu sammeln und sie aufzuschreiben. Die Verfasser dieser Berichte hatten von Anfang an mit einem Problem zu kämpfen. Wie sollten sie über jemanden schreiben, dessen »Reich nicht von dieser Welt« war, wie es im Johannesevangelium heißt, und der doch auch ein Mensch war aus Fleisch und Blut, der aß und schlief, der Hunger und Durst kannte, der lachte und weinte, der Schmerzen erlitt und eines gewaltsamen Todes starb.
In der frühen Kirche wurde heftig darüber gestritten, wie man diese zwei Seiten des Jesus von Nazaret, seine göttliche und seine menschliche, verstehen und wie man sie beschreiben kann. War Jesus nun zur Hälfte ein Mensch und zur anderen Hälfte ein Gott? Oder war er nur ein bisschen Mensch und hauptsächlich Gott? Oder war er nur scheinbar ein Mensch? Oder war er nicht wirklich Gott, sondern nur Gott ähnlich?
Auf einem Konzil in der kleinasiatischen Stadt Chalkedon wollte man im fünften Jahrhundert diesen Spekulationen ein für alle Mal ein Ende bereiten, indem man festlegte, dass Jesus »wahrer Mensch und wahrer Gott« gewesen sei. Er war demnach also beides – und beides ganz. Das ist schwer zu verstehen. Es ist ein Paradox.
»Wahrer Mensch und wahrer Gott« – diese Formel ist weniger eine Lösung als eine Aufgabe. Denn wie kann man das Leben eines Menschen erzählen, der ein Mensch und zugleich Gott war, und beides ganz? Einige Wissenschaftler und Autoren haben in erster Linie die menschliche Seite des Nazareners betont und sahen ihn als einen Religionsstifter, als großen Lehrer, als einen genialen Psychologen oder einen politischen Rebellen. Bei anderen wiederum überwiegen die göttlichen Eigenschaften Jesu, und das führt oft so weit, dass er zu einer abgehobenen Gestalt wurde, die über der menschlichen Welt schwebt und kaum noch mit den Füßen die Erde berührt. Wie kann man ein zu einseitiges Bild von Jesus vermeiden? Wie schafft man es, ihn zu sehen als »wahrer Mensch« und »wahrer Gott«?
Auch seine Zeitgenossen hatten offenbar ihre Schwierigkeiten mit Jesus. Selbst seine engsten Freunde sind manchmal schier verzweifelt an ihm, weil er einfach nicht die Vorstellungen erfüllte, die sie sich von ihm machten. Denn er trat ganz anders auf, als man es sich von einem religiösen Führer oder einem Volkshelden erwartete. Er lebte arm und anspruchslos. Er gab sich mit Leuten ab, die in den Augen rechtgläubiger Juden gebrandmarkte Außenseiter und Sünder waren. Er bekleidete kein hohes Amt, verdiente kein Geld und genoss kein Ansehen wie die Tempelpriester in Jerusalem. Er war wehrlos und ließ es geschehen, dass man ihn verfolgte und schließlich tötete. Als er am Kreuz hing, zeigte es sich am deutlichsten, dass die meisten seiner Freunde ein falsches Bild von ihm hatten.
Schon vorher, als sie noch gemeinsam durch Galiläa gezogen waren, hat Jesus seine Begleiter immer wieder ermahnt, sich nicht über ihn zu ärgern. (Lk 7,23; Mk 14,27) Denn ärgerlich war es für seine Gefährten, dass Jesus sich oft so ganz anders benahm, als sie es erwarteten und erhofften. Seine Jünger hätten es gern gehabt, dass Jesus ihnen eindeutige Zeichen und Antworten gibt, um Klarheit darüber zu haben, wer er war und was er wollte. Jesus ging auf solche Forderungen nicht ein. Er wollte seinen Jüngern und Begleitern nicht die Zweifel, die Ungewissheiten nehmen. Denn ihm nachzufolgen, das sollte ein Wagnis sein und bleiben.
Dieses Wagnis, sich auf ihn einzulassen, gehört wesentlich zu dem, was Jesus Glauben nannte. Und dieses Wagnis bleibt auch uns Heutigen nicht erspart. Darum ist es gefährlich, sich über Jesus allzu sicher zu sein. Ein allzu selbstgewisses Wissen über Jesus nimmt uns jedes Risiko. Es ist eine Abkürzung zu Gott, die uns eher von ihm wegführt. Und selbst zweitausend Jahre Christentum, Generationen von Theologen, Berge von gelehrten Abhandlungen, unzählige Lehren der Kirche, Zeugnisse von Heiligen und Menschen, die ihm nachgefolgt sind – all das gibt uns keine Gewissheit über Jesus von Nazaret, die wir einfach nur zu übernehmen bräuchten. Um ihm nahezukommen und sein Geheimnis zu verstehen, müssen wir zu allen Zeiten mit ihm gleichzeitig werden. Das heißt, wir müssen ihn sehen und gleichsam mit ihm leben wie seine Zeitgenossen und Begleiter – mit denselben Zweifeln, mit derselben offenen Frage, wie die Sache wohl ausgeht.
Jesus selbst hat zu seinen Lebzeiten immer wieder Hinweise gegeben, wie man ihn sehen, wie man zu ihm stehen soll. In den Schriften des Evangelisten Lukas ist auch Johannes der Täufer unsicher darüber, mit wem er es zu tun hat. (Lk 7,18-23) Als Johannes im Gefängnis sitzt, lässt er über Freunde an Jesus die Frage richten, wer er sei. Jesus antwortet Johannes nicht, indem er etwa sagt: »Ich bin der Sohn Gottes«, oder »Ich bin der Messias«. Er teilt Johannes auch nicht seine Botschaft mit. Er sagt ihm nur, was er getan hat, dass er Kranke geheilt und Arme getröstet hat. Diese Auskunft soll Johannes genügen, um zu verstehen, wer Jesus ist.
Unsere Situation heute ist nicht anders als die von Johannes. Auch wir können erfahren, was Jesus gesagt und getan hat, und wir müssen diese Worte und Taten richtig auslegen und deuten, um zu wissen, wer Jesus war. Das heißt aber auch, dass das Leben des Jesus von Nazaret nicht abtrennbar ist von seiner Lehre. Auch das unterscheidet ihn von anderen großen Gestalten der Weltgeschichte. Die Lehren eines Aristoteles kann man verstehen, ohne dass man wissen muss, wie und zu welcher Zeit dieser griechische Gelehrte gelebt hat. Man braucht auch nichts über den Menschen Karl Marx zu wissen und kann trotzdem den Marxismus studieren. Und wer klug genug ist, kann sich mit der Relativitätstheorie beschäftigen, auch wenn er noch nie etwas von Albert Einstein gehört hat.
In all diesen Fällen ist die Lehre ablösbar vom jeweiligen Erfinder oder Entdecker. Bei Jesus ist das nicht möglich. Er hat nicht nur eine Botschaft verbreitet, sondern er hat seine Botschaft gelebt. Seine Lehre und sein Leben sind eins. »Die Person Jesu ist seine Lehre und seine Lehre ist er selbst«, so drückte es Joseph Ratzinger aus.2 Insofern ist auch das Christentum keine Lehre, es ist eine »Existenz-Mitteilung«3, und das einzige Vorbild für diese Mitteilung ist das Leben des Jesus von Nazaret. Er, der sich »Menschensohn« nannte, hat vorgelebt, wie ein Dasein im absoluten Vertrauen auf die göttliche Liebe aussehen kann. Dieses Leben bleibt für alle Zeiten das Vorbild für alle, die dem »Menschensohn« nachfolgen wollen. Nachfolge bedeutet mithin, die innere Freiheit zu gewinnen, wie Jesus sie besaß, und die Mitmenschlichkeit zu praktizieren, wie er sie geübt hat.
Auch für das Christentum ist das Leben Jesu die Grundlage und die einzige Orientierung. Nach Karl Jaspers, der Jesus zu den »maßgebenden Menschen« zählt, geht von ihm auch heute noch eine große »Lebendigkeit« aus, die für Jaspers ihren Grund in seiner »Radikalität« hat.4 Eine Radikalität freilich, der es nicht darum geht, immer dagegen zu sein, sondern die immer eine Alternative aufzeigt, ein Leben, das möglich und »sinnvoll« ist. Jesus ist somit auch das »Dynamit«, das die Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt und beide zwingt, sich immer wieder zu hinterfragen. Jesus wollte ein Ärgernis sein in dem Sinne, dass er sich den Ansichten und Vorurteilen der Menschen immer wieder entzogen hat. Es erwies sich, dass er immer anders, tiefer und größer war als die Bilder, mit denen ihn die Menschen festlegen wollten. Das »Heil«, das er versprach, überstieg die herkömmlichen, oft allzu menschlichen Anschauungen über ihn und seine Sendung. Insofern ist Jesus eine stete Herausforderung – und damit auch eine Aufforderung an uns, auch von uns selbst größer, »göttlicher« zu denken.