6.
TAGE IN KAFARNAUM
Nach seiner Taufe und der Begegnung mit dem Teufel in der Wüste kehrt Jesus nach Galiläa zurück. Er nimmt den Weg entlang dem Jordan zum See Gennesaret, der auch See von Tiberias, »das Meer von Galiläa« oder einfach nur »der See« genannt wurde. Drei bis vier Tage braucht man zu Fuß für diese Strecke. Kurz vor dem See, dort, wo der Fluss Jarmuk in den Jordan fließt, trifft er auf zwei junge Männer. Sie sind Anhänger des Täufers Johannes und haben gehört, was ihr Meister über diesen Mann aus Nazaret gesagt hat. Ihre Neugier können sie nun nicht mehr bändigen. Doch Jesus anzusprechen, das trauen sie sich nicht. Also gehen sie schweigend hinter ihm her. Nach einer Zeit dreht sich Jesus plötzlich um und fragt die beiden, was sie wollten. »Rabbi«, stottern sie verlegen, »wo wohnst du?« »Kommt und seht!«, sagt Jesus. (Joh 1,35-39)
Wo Jesus wohnte, das wird in der Bibel nicht gesagt. Nazaret wird er nicht gemeint haben, denn das war zu weit entfernt. Vielleicht wollte er den jungen Bewunderern nur zeigen, dass er, der »Menschensohn«, wie er sich später nannte, kein Zuhause hat oder überall zu Hause ist.
Einer der beiden Männer, die Jesus gefolgt waren, hieß Andreas. Er hatte einen Bruder namens Simon oder Simon Petrus, wie er auch genannt wurde. Andreas erzählte seinem Bruder begeistert von seinem Treffen mit diesem Mann aus Nazaret, und er wollte unbedingt, dass auch Simon ihn kennenlernt. Eines Tages nahm er Jesus mit nach Kafarnaum, einem kleinen Fischerdorf am Nordufer des Sees Gennesaret, wo Simon und Andreas lebten. Simon scheint von Jesus augenblicklich beeindruckt gewesen zu sein. Auch er wurde ein Anhänger von Jesus oder ein Jünger, wie man später sagte.
So wird im Johannesevangelium die Berufung der ersten Jünger geschildert. In den Berichten des Markus und des Matthäus verläuft die Begegnung Jesu mit den Fischern vom See Gennesaret dramatischer. (Mt 4,18-22, Mk 1,16-20) Jesus geht am Ufer entlang und sieht, wie die Brüder Petrus und Andreas ihre Netze auswerfen. Jesus sagt zu ihnen einfach nur: »Kommt her! Folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen«, und Andreas und Petrus lassen alles stehen und liegen und schließen sich tatsächlich Jesus an. Als sie zusammen weitergehen, treffen sie auf eine andere Gruppe von Fischern. Es ist ein älterer Mann namens Zebedäus mit seinen Söhnen Jakobus und Johannes. Sie sitzen in einem Boot und bessern ihre Netze aus. Auch die zwei jungen Männer fordert Jesus auf, mit ihm gehen. Und die Brüder steigen aus dem Schiff, lassen ihren Vater alleine zurück und laufen Jesus nach.
Es ist erstaunlich, welche Wirkung Jesus in diesen Geschichten auf Menschen hat. Offenbar ging eine besondere Faszination von ihm aus, von der Menschen augenblicklich gepackt wurden und die sie dazu brachte, ihr bisheriges Leben »sogleich«, wie es immer heißt, aufzugeben. Aber ist das, was Jesus tat, nicht völlig verantwortungslos? Immerhin stürzte er die armen Fischer in die Arbeitslosigkeit und er zerriss ihre Familien. Petrus war verheiratet. Wer kümmerte sich nun um seine Familie? Wer sorgte für den Lebensunterhalt? Wie sollte man die hohen Steuern und Abgaben, die von den Römern erhoben wurden, in Zukunft bezahlen? Und dem Fischer Zebedäus und seiner Frau Salome wurden ihre Kinder weggenommen, auf die sie im Alter auch aus wirtschaftlichen Gründen angewiesen waren. Und das alles nur, weil sie einem wildfremden Mann nachliefen, der nicht einmal ein berühmter Schriftgelehrter war, der selber nichts hatte und seinen Anhängern keine Zukunft bieten konnte.
Auf der Suche nach seinen Begleitern erwies sich Jesus als radikal. Von Anfang an machte er deutlich, dass es für ihn Wichtigeres gibt als den gesicherten Arbeitsplatz und die Familie. Und das waren keine abstrakten Forderungen, sondern es waren Überzeugungen, die Jesus mit seinem Auftreten, mit seiner Person ausstrahlte. Es muss ein Gefühl von Freiheit, von Weite und Unabhängigkeit gewesen sein, das von ihm ausging und von dem die Fischer vom See Gennesaret wie von einem Sturmwind erfasst wurden.
Die Aufforderung, ihm nachzufolgen, war für Jesus viel mehr als nur die Bitte, sich ihm anzuschließen. Es war das Angebot, sich für eine andere Lebensform zu entscheiden. Die Menschen, die Jesus so ansprach, sollten die Maßstäbe ihres bisherigen Lebens aufgeben und sich von nun an ganz einem Gott anvertrauen, der es gut mit ihnen meint. Die Entscheidung für diesen menschenfreundlichen Gott und damit für ein anderes Leben duldet keine Halbheiten, keine Rückversicherung und kein Wenn und Aber. Jesus war in dieser Frage von unerbittlicher Härte.
Als er später einmal einen jungen Mann auffordert, ihm nachzufolgen, möchte der sich erst von seiner Familie verabschieden. Jesus lässt das nicht zu. Jemand, der zurücksieht, so meint er, ist für das Reich Gottes nicht geeignet. Selbst als ein anderer junger Mann, der bereit ist zur Nachfolge, noch vorher seinen verstorbenen Vater beerdigen will, zeigt Jesus kein Verständnis und schon gar kein Mitgefühl. »Lass die Toten ihre Toten begraben!«, antwortet er ihm schroff. (Lk 9,57-62) Wenn es also darum geht, ein neues Leben, wie Jesus es verspricht, zu ergreifen, dann dürfen auch familiäre Bande und soziale Verpflichtungen keine Rolle mehr spielen. Lass die Vergangenheit hinter dir, so scheint Jesus zu sagen, das Leben, das auf dich wartet, ist tausendmal wichtiger.
Kein Wunder also, wenn Jesus nicht nur auf begeisterte Anhänger traf, sondern auch auf Ablehnung, ja Hass. Nicht anders war es in Kafarnaum. Seine neuen Freunde und »Jünger« Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes lebten hier und sie nahmen Jesus bei sich auf. Im Haus von Petrus wohnte auch seine Schwiegermutter, von der berichtet wird, dass sie mit hohem Fieber auf ihrem Lager lag. Ob dieses Fieber auch mit den verrückten Plänen ihres Schwiegersohnes zusammenhing? Für die Familie des Petrus war das Auftauchen des fremden Predigers nicht weniger als eine Katastrophe. Seine Frau, seine Kinder sollten nun ohne den Ehemann, Vater und Ernährer auskommen. Dass diese Nachricht im Hause des Petrus für Aufregung, ja Panik sorgte, ist verständlich. Und nun hatte Petrus diesen Jesus auch noch in sein Haus eingeladen. In den Schilderungen dieser Szene wird angedeutet, dass die Schwiegermutter des Petrus sich weigerte, diesen Gast zu empfangen und zu bewirten, wie es die Gastfreundschaft eigentlich gebot.
Der Besuch verlief dann doch ganz anders. Jesus trat an das Lager von Petrus’ Schwiegermutter, er nahm ihre Hand und das Fieber ging zurück. Die Frau stand auch sofort auf und »sorgte für ihn«, so heißt es. (Mt 8,14-15; parallel bei den anderen Synoptikern) Offenbar waren mit dem Fieber auch ihr Groll und ihre Abneigung verschwunden. Jesus wurde herzlich aufgenommen, und das Haus des Petrus wurde für ihn wie ein neues Zuhause, in das er von seinen Wanderungen immer wieder gerne zurückkehrte.
Das Dorf Kafarnaum lag am östlichen Rand jenes Territoriums, das vom Herodes-Sohn Antipas regiert wurde, der sich jetzt Herodes Antipas nannte. Der Jordan, der hier in den See Gennesaret floss, bildete die Grenze zu jenem Gebiet, über das sein Bruder Philippus herrschte. Es gab eine Zollstation, wo Beamte den Warenverkehr kontrollierten. Und die römische Armee hatte hier einen Posten eingerichtet, mit einem Hauptmann an der Spitze, der vermutlich ein »Gottesfürchtiger« war, so nannte man jene Heiden, die mit dem Judentum sympathisierten.
Aufgrund von Ausgrabungen kann man sich heute gut vorstellen, wie das Leben in Kafarnaum ausgesehen hat, als Jesus dort wohnte.56 Es gab eine bescheidene Synagoge und gleich daneben sogenannte Wohninseln. Das waren kleine, aneinandergebaute Häuser, die durch enge Innenhöfe und Durchgänge verbunden waren. An die fünfzehn Familien und ganze Sippen lebten hier zusammen und bildeten so etwas wie eine große Wohngemeinschaft, zu der auch Schafe, Ziegen und Hühner gehörten. Die aus unbehauenen Basaltsteinen gebauten Häuser bestanden meist nur aus einem Raum, in den Licht nur durch die offene Tür fiel. Zum Wohnraum gehörte auch das Dach, auf dem Flachs oder Fische getrocknet wurden oder wo man in Sommernächten schlief. Von dort oben konnte man beobachten, was in den Nachbarhöfen vor sich ging, und wenn es Neuigkeiten gab, konnte man sich die zurufen, sozusagen von Dach zu Dach.
Die Archäologen glauben, auch das Haus des Petrus gefunden zu haben. Jedenfalls deuten freigelegte Graffiti darauf hin, dass dieser Ort, wo später eine Kirche gebaut worden ist, schon sehr früh verehrt wurde. Das Haus des Petrus wird auch nicht anders ausgesehen haben als die anderen Hütten in Kafarnaum, vielleicht ein wenig größer, denn offenbar musste hier eine Großfamilie Platz finden. Zu dieser Familie gehörte nun auch Jesus, der von seinen Wanderungen immer wieder hierher zurückkam. Ein eigenes Zimmer hat er sicher nicht gehabt. Er musste sich den engen Raum mit vielen Menschen teilen.
Allmählich sprach es sich herum, dass dieser Jesus ganz unglaubliche Taten vollbracht hatte. Nicht nur hatte er die Schwiegermutter des Petrus allein durch die Berührung mit seiner Hand wieder gesund gemacht, auch andere Kranke waren auf wundersame Weise von ihm geheilt worden. Und auf sein Wort hin soll Petrus so viele Fische gefangen haben, dass beinahe die Netze gerissen wären. (Lk 5,6) Solche Geschichten hatten zur Folge, dass von überall her Leute mit allen möglichen Krankheiten und Sorgen nach Kafarnaum kamen.
Einmal war der Andrang so groß, dass sogar der Platz vor der Tür verstopft war und niemand mehr hinaus noch hinein konnte. Plötzlich fiel von oben Stroh und Staub auf Jesus und seine Freunde herab. Ein Loch tat sich auf in der Decke, das immer größer wurde, und dann senkte sich mit einer Staubwolke langsam eine Trage zu ihnen herab. Weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, hatten Leute das Hausdach abgedeckt und einen gelähmten Mann auf der Trage zu Jesus hinuntergelassen.
Jesus war beeindruckt vom Vertrauen dieser Leute, selbst wenn es bloß die verzweifelte Hoffnung war, dass nur noch er helfen könne. Dieses Vertrauen gehörte für Jesus zum Glauben. »Mensch«, sagte er zu dem Gelähmten auf der Trage, »deine Sünden sind dir vergeben.« Und dann forderte er ihn auf, sich zu erheben, sein Bett zu nehmen und nach Hause zu gehen. Und tatsächlich stand der Mann auf, nahm die Trage und bahnte sich damit einen Weg durch die Menge. (Lk 5,17-26)
Alle, die diese Heilung mit eigenen Augen gesehen hatten, staunten über dieses Wunder. Aber Wunderheiler gab es viele zu jener Zeit. So außergewöhnlich war das nicht. Was die Leute wirklich betroffen machte, war die Art, wie Jesus auftrat und wie er lehrte. Wenn ein normaler Rabbi die Schrift auslegte, dann wägte er die verschiedenen Lehrmeinungen sorgfältig gegeneinander ab. Und wenn er zu einem Schluss kam, war das nicht seine eigene Meinung, sondern er berief sich auf die Autorität der Väter, etwa darauf, was Mose gesagt hatte. Sogar die Propheten sahen sich als menschliche Werkzeuge Gottes und nahmen sich selbst nicht wichtig.
Jesus dagegen benahm sich so, als ob mit seiner Person Gott höchstpersönlich anwesend wäre. Er zeigte wenig Respekt vor den Lehren der »Alten«. Er zitierte zwar Mose und die Propheten, setzte aber sein eigenes Wort dagegen. »Amen, ich aber sage euch«, so leitete er oft seine Rede ein und behauptete damit, dass sein Urteil richtiger und wichtiger war als das eines Mose oder eines Propheten. Jesus berief sich nicht auf eine menschliche Autorität, sondern er sprach für sich oder aus sich. Dabei zeigte er nicht dauernd auf sich und stellte seine eigene Person in den Vordergrund. Sein Ich setzte er gleich mit dem Ich Gottes. Und damit nicht genug. Er nahm sogar für sich in Anspruch, Sünden vergeben zu können, was für einen rechtgläubigen Juden nur Gott konnte. War es nicht ein ungeheurer Skandal, dass dieser Jesus sich anmaßte, im Namen Gottes zu sprechen? War das nicht Gotteslästerung?
Die Schriftgelehrten jedenfalls, die das Auftreten Jesus’ in Kapernaum beobachteten, waren entsetzt. Wie konnte ein normaler Mensch reden und handeln, als wäre er Gott? Die naheliegendste Erklärung für sie war, dass es sich hier um einen Betrüger handelte oder um einen wahnsinnigen Hochstapler. Wer dieser Jesus in Wirklichkeit war, das wussten doch alle. Er kam aus Nazaret und war der Sohn eines Zimmermanns. Wahrscheinlich war er eines Tages verrückt geworden und aus seinem Dorf davongelaufen. Hörte man nicht, dass seine Familie auf der Suche nach ihm war?
Maria und ihre Kinder scheinen tatsächlich nach Jesus gesucht zu haben, offenbar um ihn wieder nach Hause zu holen. Eines Tages fanden sie ihn auch, aber Jesus war wieder in einem Haus von so vielen Menschen umringt, dass sie nicht zu ihm vordringen konnten. Sie ließen nach ihm rufen, und man teilte Jesus mit, dass seine Mutter, Brüder und Schwestern draußen stehen würden und mit ihm reden wollten. Jesus schien keinen Wert darauf zu legen, seine Familie zu sehen. Wie schon der Zwölfjährige in Jerusalem, so zeigte sich der erwachsene Mann auch jetzt wieder äußerst kühl und gleichgültig gegen seine Verwandtschaft. »Wer sind meine Mutter und meine Brüder?«, fragte er in die Runde, und indem er den Blick über seine Begleiter schweifen ließ und auf sie zeigte, antwortete er sich selbst: »Das hier sind meine Mutter und meine Brüder und Schwestern! Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.« (Mt 12,46-50 parr)
Sosehr Jesus auf die Menschen zuging und von dem täglichen Andrang manchmal fast erdrückt wurde, so sehr brauchte er auch wieder die Stille und die Einsamkeit. Nach einem solchen Tag mit vielen Gesprächen und Begegnungen stand er schon früh morgens auf, als es noch stockdunkel war, und ging aus Kafarnaum hinaus an einen stillen Ort, um für sich zu sein. Die Einsamkeit war seine Kraftquelle. Es war, als würde er in der Stille auf eine innere Stimme lauschen, auf die Stimme Gottes, von der er immer wieder aufs Neue in seiner Sendung bekräftigt wurde. Gegenüber seinem Vater war Jesus ein Hörender. Alles, was er war, hat er von seinem Vater empfangen. Und das war gleichzeitig die Voraussetzung dafür, ganz für Menschen da zu sein. Empfangen und Geben, totale Ausrichtung auf Gott und tiefste Mitmenschlichkeit gehörten für ihn zusammen.
Als Simon und die anderen Freunde bemerkten, dass Jesus nicht auf seiner Schlafstelle lag, gingen sie ihm nach und fanden ihn außerhalb von Kafarnaum. Sie baten ihn, wieder mit ins Dorf zu kommen, denn es wurde schon wieder nach ihm gefragt. (Lk 4,42-44) Aber Jesus wollte nicht. Er wollte Kafarnaum verlassen und zu den benachbarten Orten gehen, um dort zu den Leuten zu sprechen, und er forderte seine Freunde dazu auf, ihn zu begleiten.
Und so brach eine kleine Schar von Gefährten auf, mit Jesus durch Galiläa zu ziehen. Es war ein seltsamer Haufen, der sich da auf den Weg machte. Jesus war kein Rabbi, der eine Predigtreise machte und seine Zuhörer in der Auslegung der Schrift unterrichtete. Und seine Begleiter waren keine Schüler, die sich einen berühmten Meister zum Lehrer erwählt hatten. Es waren Männer, die gewohnt waren, hart zu arbeiten, Fische zu fangen oder ein Handwerk auszuüben. Sie waren nicht reich, sondern eher arme Schlucker, Angehörige des einfachen, ungebildeten Volkes, auf das die Schriftgelehrten mit großer Verachtung herabsahen.57
Simon Petrus und sein Bruder Andreas gehörten zu diesem Kreis.58 Und auch die Brüder Johannes und Jakobus ließen ihre Heimat und ihre Eltern hinter sich. Jesus nannte sie »Donnersöhne«, weil manchmal ihr Temperament mit ihnen durchging und sie am liebsten Feuer vom Himmel fallen lassen wollten, um ihre Feinde zu vernichten. Auch ein anderer junger Mann, der sich Jesus anschloss, zeichnete sich nicht durch ein sanftes Gemüt aus. Er hieß ebenfalls Simon und erhielt den Spitznamen »der Eiferer«, weil er mit den Zeloten sympathisierte, die allein Gott gehorchten und die verhassten Römer mit Gewalt aus dem Land jagen wollten. Wesentlich zurückhaltender war da schon der junge Philippus, der immer etwas zögerlich war und sich erst einen Ruck geben musste, ehe er sich auf dieses Abenteuer einließ.
Denn ein Abenteuer war es, das Jesus und seiner Schar bevorstand, und kein ungefährliches. Das dürfte ihnen spätestens klar geworden sein, als sie hörten, dass Johannes der Täufer von Herodes Antipas gefangen genommen und hingerichtet worden war. Flavius Josephus berichtet, dass Antipas den Johannes rechtzeitig aus dem Weg räumen wollte, ehe sein Einfluss bei den Menschen zu groß wurde und es zu einem Aufstand kam.59
Nach den biblischen Zeugnissen waren noch andere Gründe im Spiel. (Mt 14,1-11) Johannes hatte Antipas in aller Öffentlichkeit angeklagt, weil dieser Herodias, die Frau seines Bruders, geheiratet und damit gegen das Gesetz verstoßen hatte. Herodias verzieh ihm das nicht und überredete Antipas dazu, Johannes in Ketten legen zu lassen. Antipas hatte Ehrfurcht vor Johannes und wollte ihn eigentlich schützen. Aber bei einem Festmahl verdrehte ihm Salome, die Tochter der Herodias, mit ihrem Tanz so sehr den Kopf, dass er ihr jeden Wunsch erfüllen wollte. Und Salome verlangte den Kopf des Täufers auf einer Schale. Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt.
Jesus war gewarnt, zumal es Gerüchte gab, die besagten, dass Antipas schon auf diesen Mann aus Nazaret, der sich auf seinem Herrschaftsgebiet herumtrieb, aufmerksam geworden war und ihn für einen Nachfolger des Johannes hielt. Antipas war für Jesus ein »Fuchs«60, womit er vermutlich darauf anspielen wollte, dass Antipas jede Gelegenheit nutzte, sich beim Kaiser Tiberius einzuschmeicheln und die römischen Präfekten im Land anzuschwärzen. Besonders auf Pontius Pilatus hatte es Antipas abgesehen. Pilatus hatte Schilder mit den Anfangsbuchstaben des Kaisers an der Burg Antonia in Jerusalem aufhängen lassen und damit schwere Unruhen ausgelöst. Antipas machte sich zum Sprecher des Protestes und erreichte, dass Pilatus auf Befehl des Kaisers die Schilder wieder entfernen musste. Antipas hatte damit gezeigt, dass er sich mit den jüdischen Sitten und Empfindlichkeiten besser auskennt als Pilatus, der nicht nur in diesem Fall das nötige Fingerspitzengefühl vermissen ließ.
Antipas hatte seine Residenz schon vor Jahren von Sepphoris an den See Gennesaret verlegt. Am landschaftlich reizvollen Westufer des Sees, wo ein mildes Klima herrschte, hatte er eine neue prächtige Stadt erbauen lassen, die er zu Ehren des Kaisers Tiberias nannte. Allerdings lag die Stadt auf dem Gelände eines ehemaligen Friedhofes, weshalb es für gesetzestreue Juden ein unreiner Ort war, den man nicht betreten durfte. Antipas musste Menschen aus allen Teilen des Landes zwingen, sich in Tiberias anzusiedeln. Es wurden sogar Häuser für Bettler gebaut, um sie in die Stadt zu locken.
Jesus machte einen weiten Bogen um die großen Städte wie Tiberias und Sepphoris. Mag sein, dass der Boden für ihn dort zu heiß war. In erster Linie aber wollte er zu den einfachen Leuten auf dem Lande, die in den Dörfern Galiläas lebten. In einem Dorf wie Kana beispielsweise, wo Jesus mit seinen Jüngern auftauchte. Inzwischen hatte sich die Gruppe vergrößert. Ein Mann namens Natanael war dazugestoßen, ein kritischer Geist, der zunächst nicht fassen konnte, dass aus einem Nest wie Nazaret etwas Gutes kommen kann. Er selbst kam aus Kana und hat vielleicht Jesus in sein Heimatdorf eingeladen, wo gerade eine Hochzeit stattfand. (Joh 2,1-12)
Jesus und seine Begleiter nahmen an dem Fest teil. Und auch seine Mutter und seine Geschwister waren unter den Gästen, was sich möglicherweise damit erklären lässt, dass Braut oder Bräutigam zur Verwandtschaft gehörten. In der Schilderung des Evangelisten Johannes ist Jesus’ Verhältnis zu seiner Mutter weiter frostig und gereizt. Als Maria ihren Sohn darauf hinweist, dass den Gastgebern der Wein ausgegangen ist, schnauzt er sie an: »Was willst du von mir, Frau?« Doch dann lässt er sich doch überreden, etwas gegen den Notstand zu tun. Jesus war kein Spielverderber, und im Gegensatz zu Johannes dem Täufer war er auch kein Asket, der sich von Heuschrecken und Honig ernährte. Jesus mochte Leute nicht, die sich kasteiten und fasteten, nur um ihre Frömmigkeit zu beweisen. Er selbst aß und trank gern, wenn sich dazu die Gelegenheit bot. Engherzige und kleinkarierte Gesetzeshüter drehten ihm daraus wieder einen Strick und nannten ihn einen »Säufer und Fresser« (Lk 7,34).
Auf der Hochzeit zu Kana weist Jesus die Bediensteten an, steinerne Krüge mit Wasser zu füllen. Als der für das Essen und Trinken zuständige Zeremonienmeister davon probiert, stellt er fest, dass es sich um einen guten Wein handelt, viel besser als derjenige, den die Hochzeitsgäste zuvor serviert bekommen hatten.
Zu diesem Weinwunder gibt es unzählige Erklärungen. Manche haben versucht, dieses Ereignis ganz vernünftig zu deuten, etwa indem sie behaupteten, der Wein, der so geheimnisvoll in die Krüge kam, sei in Wahrheit nichts anderes gewesen als das Hochzeitsgeschenk von Jesus und seiner Familie an das Brautpaar. Andere Theologen lesen diese Geschichte rein symbolisch und sehen darin einen Hinweis auf das letzte Abendmahl, bei dem Jesus Wein in sein Blut verwandelt.61
Wie auch immer. Jedenfalls hat Jesus auf dieser Hochzeitsfeier für einigen Wirbel gesorgt und auf sich aufmerksam gemacht. Auch das Dorf Kana hat davon profitiert, bis heute ist es ein Ziel vieler Touristen und Pilger. Kfar Kanna, wie der Ort heute heißt, liegt auf dem »Jesus Trail«, der von Nazaret nach Kafarnaum führt. Wer Jesus auf sportliche Weise nachfolgen will, der kann diese Strecke zu Fuß in vier Tagen zurücklegen. In Kfar Kanna trifft er dann nicht nur auf Wanderer, sondern auf viele Busse, die sich vor der »Hochzeitskirche« stauen. Überall wird der »Wedding Wine« angeboten und dann zu Geld verwandelt. Und in der Kirche sammeln sich viele Paare, die diesen besonderen Ort nutzen, um ihr Hochzeitsversprechen zu erneuern.
Im Vergleich zu den späteren Heilungswundern war die Verwandlung von Wasser zu Wein für Jesus eine leichte und feucht-fröhliche Übung. Dass solche Wunder nicht zwangsläufig dazu führten, dass die Menschen Jesus als Messias verehrten und seinen Worten glaubten, das wird in den Evangelien immer wieder betont. Jesus war angewiesen auf das Vertrauen der Leute, oder mit einem anderen Wort: auf ihren Glauben. Nur bei Menschen, die ihm dieses Vertrauen entgegenbrachten, konnte er auch Wunder wirken. Umgekehrt blieben Wunder dort aus, wo dieser Glaube fehlte.
Das sollte Jesus in drastischer Weise erfahren, als er das erste Mal wieder in seinem Heimatdorf Nazaret war. (Lk 4,16-30) Es war ein Sabbat, und Jesus ging in die Synagoge, die er schon seit Kindertagen kannte. Nachdem der vorgeschriebene Text aus der Heiligen Schrift verlesen worden war, ließ sich Jesus die Rolle des Propheten Jesaja reichen. Denn er hatte wie jeder jüdische Mann das Recht, aus der Schrift vorzulesen und darüber zu predigen. In dem Text des Propheten wird das Kommen eines Messias am Ende der Zeit angekündigt.
Nach der Lesung rollte Jesus die Schriftrolle zusammen und setzte sich, wie es üblich war, wieder hin, um über den gehörten Text zu predigen. Es war totenstill und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Man kann sich vorstellen, wie überrascht die Leute waren, als Jesus nun sagte: »Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.«
Zunächst staunten die Gottesdienstbesucher, wie klug Jesus redete, und sie konnten es gar nicht fassen, dass dies der Sohn des Zimmermanns war, den sie alle kannten und der unter ihnen aufgewachsen war. Aber an diesem Stolz der Dorfgemeinschaft auf ihren besonderen Sohn schien Jesus nicht gelegen gewesen zu sein. Er sprach weiter, und aus der Bewunderung wurde Unbehagen und Zorn. Man hatte erwartet, dass Jesus tröstende Worte darüber sagt, wie Gott wirken wird, wenn er einmal kommt, wie er Armen hilft, die Unterdrückten befreit und die Kranken heilt. Das hätte man verstanden und für angemessen empfunden.
Jesus aber redete nicht darüber, wie gut und schön die Welt sein könnte oder einmal werden wird. Arme, Kranke und Gefangene gab es für ihn jetzt. Und Hilfe für sie alle gab es ebenfalls schon jetzt. Und er deutete an, dass er derjenige ist, der diese Hilfe ist, nicht irgendwann und möglicherweise, sondern jetzt.
Das war mehr, als die Leute in Nazaret vertragen konnten. Was Jesus da sagte, ging ihnen viel zu nahe. Und wer war er denn, dass er sich für einen Heilsbringer halten konnte? Er war doch der Sohn des Josef, seine Mutter und seine Geschwister lebten im Dorf. Was bildete er sich ein, sie so zu belehren und sich als etwas Besseres aufzuspielen! Wenn er wenigstens ein paar Wunder gewirkt hätte wie in anderen Orten Galiläas, dann hätte man ihn bewundern und feiern können. Aber selbst das tat er nicht. Aus Ärger wurde Zorn: Die Leute sprangen auf und trieben Jesus zum Ort hinaus bis zu einem Abhang, wo sie ihn hinabstürzen wollten. Aber plötzlich schienen sie völlig machtlos. Jesus schritt einfach mitten durch die Menge hindurch und ging aus Nazaret hinaus.