Effelins Garten
Kathie!«, höre ich hinter mir rufen. Dann ein erstickter Schrei und noch einmal: »Kathie!« Ich knie im Kohlbeet, schaue hinter mich. Und sehe gerade noch, wie Effelin, unsere Gartenschwester, zusammensinkt und rücklings zu Boden fällt.
Quer über die Kohl- und Möhrenbeete bin ich bei ihr. Ich bücke mich, rüttele an ihrer Schulter.
»Effelin, was ist mit dir?«, rufe ich, streiche ihr über den Kopf, über die Stirn.
Effelin antwortet nicht. Die setzfertigen Knoblauchzehen aus ihrem Schurz liegen verstreut um sie herum.
»Effelin, sprich doch! Was ist mit dir?«, flüstere ich.
Mir ist bange. Effelin liegt ausgestreckt im frisch gehäufelten Beet. Die Arme halb ausgebreitet, die Augen starr nach oben gerichtet. Aufwärts zu den tief hängenden Oktoberwolken, die auf Regensburg zutreiben.
Ich schlucke, blicke suchend hinüber zu unserer Hofreite*, dem Schwesternhaus. Doch ich sehe niemand, den ich zu Hilfe rufen könnte, nicht am Brunnen, nicht bei den Wirtschaftsgebäuden.
»Schnell, tu was, Kathie!«, sage ich mir.
Ich knie mich neben sie, fasse nach Effelins Hand, suche ihren Puls und finde ihn nicht. An meinen Fingern klebt Erde, vielleicht liegt es daran. Dann plötzlich spüre ich eine Folge von kräftigen Schlägen. Wie wenn das Blut in den Adern kochen würde, dann stockt der Puls abermals, meldet sich wieder zurück, mal schneller, mal langsamer.
»Ich rufe die Schwestern!«, flüstere ich Effelin zu. »Gute Muttergottes, stehe ihr bei!«, murmele ich und bekreuzige mich.
Und gleich renne ich los. Springe über die zum Einkellern aufgereihten Kohlköpfe, hüpfe über die Winterrüben, laufe an unserem Bienenhaus vorbei, den Walnussbäumen, dem Kräuterhaus, auf den Weg zu, der zum Schwesternhaus führt. Mit zwei Sätzen bin ich die Treppe hinauf und stoße gegen den Türflügel. Polternd fliegt er auf.
»Schnell, kommt!«, bringe ich schluchzend hervor. »Effelin ist was passiert!«
Drei Frauen befinden sich im Arbeitsraum. Märthe und Elspet halten ihre Spindeln an. Ina am Lesepult, meine Zwillingsschwester, legt die Hand ans Herz.
»Nun kommt doch!«, rufe ich. »Effelin stirbt!« Ich schlage meine Hände vors Gesicht und schluchze.
Die drei fahren hoch, rufen, fragen durcheinander. Ich bringe kein Wort hervor, stolpere die Stufen hinab und renne ihnen voran zum Gartenland bei den Walnussbäumen.
Genau so, wie ich sie verlassen habe, liegt unsere Gartenschwester da. Wie leblos, den Blick unbewegt in die Wolken gerichtet.
Feiner Regen hat eingesetzt. Zu viert stehen wir um Effelin, unfähig uns zu rühren.
Dann bückt sich Elspet zu ihrem Gesicht. »Es ist Leben in ihr!«, sagt sie leise. »Es zuckt ihr um den Mund!«
Märthe bekreuzigt sich. »Das ist der Schlag«, sagt sie tonlos. »Die Hand Gottes. So lag mein Simon auch da, als er von uns ging.«
Wir alle bekreuzigen uns.
Dann tragen wir Effelin durch den stäubenden Regen zum Kräuterhaus, wo Effelin und ich unseren Schlafplatz haben.
»Sie lässt alles unter sich«, sagt Märthe, unsere Meisterin. »Alles ist genau wie bei Simon. Es ist der Schlag, die Gotteshand!«
»Ihr Zwillinge, ihr habt junge Füße, holt Wasser, dass Effelin auf ihr Lager kommt«, sagt Elspet zu Ina und mir.
An zwei Jochstangen tragen wir Wasser vom Brunnen ins Kräuterhaus. Stumm, ohne Worte zu wechseln. Für uns beide ist es das erste Mal, dass wir Todesnähe unmittelbar erleben. Als Mutter vor sechs, sieben Jahren plötzlich verstarb, waren wir beide noch fast in unseren Kinderschuhen. Die Erinnerung an Mutters Tod bleibt für mich undeutlich, versteckt hinter einer Nebelwand.
Ihren Todestag weiß ich genau. Es war der Tag vor dem »Kleinen Frauentag«, dem Geburtstag der Gottesmutter im Herbstmonat September.
An Maria Geburt fliegen die Schwalben furt, hat Effelin mich gelehrt. Da gehen Ina und ich jedes Jahr zur Messe in die Domkirche und beten für unsere Mutter. Damit Mutter sich freut, droben im Himmelsgarten.
Ina kann richtig zählen und rechnen. Meine Schwester hat sogar die Kalenderzahlen im Kopf. Ich verstehe von Zahlen nicht viel und große Zahlen machen mir Angst.
Ina hatte mir am Neujahrstag gesagt, dass es jetzt tausend Jahre her ist, seit Maria das Jesuskind geboren hat. »Und noch zweihundert Jahre dazu«, erklärte sie mir. »Und dann sind es noch einmal vierunddreißig Jahre von damals bis zum Neujahrstag heute!« Ich kann mir so lange Zahlen nicht vorstellen, Ina aber hat sie in ihrem Kopf.
Wenn ich darüber nachdenke, wird mir geradezu schwindelig. Dass man so lange zurückzählen muss, bis man an das Jahr kommt, in dem Maria das Christkind geboren hat. Die Gottesmutter ist doch bei uns, jeden Tag, immerzu, gestern und heute. Muss sie dabei zählen und rechnen, wie Ina es tut?
»Es ist die fressende Krankheit*«, sagten damals unsere Hausleute in Taytingen bekümmert und hoben hilflos die Schultern. Man zerstückelte ein Hündchen und legte Mutter das noch warme Fleisch als Heilmittel unter ihren bloßen Kopf. Hatte ich an jenem Tag mit an ihrem Bett gestanden oder weiß ich das alles bloß vom Erzählen? Jedenfalls kann ich bis heute nicht mit ansehen, wenn ein Tier zu Tode gebracht wird. Und das Fleisch unter ihrem Kopf konnte auch Mutters fressende Krankheit nicht stillen.
Vater war mit Kaiser Friedrich* übers Meer ins Heilige Land gefahren und Mutter weinte; dicke, verschwollene Augen hatte sie vor lauter Tränenjammer. Sie weinte schon, als sie Vater aus rotem Stoff das Kreuz auf den Waffenrock nähte. Die Glocken von Donauwörth läuteten, Priester versprengten Weihwasser und schwenkten Weihrauchgefäße, Mönche und Nonnen psalmodierten, während die Ritter der Grafschaft mit ihrem Gefolge die Schiffe bestiegen, auf denen sie die Donau abwärts zum Sammellager der Kreuzfahrer* gelangten. Von dort aus zogen sie los, um Christus gegen die Ungläubigen in Waffen zu dienen. Die Männer in den Schiffen reckten Schwerter und Lanzen in die Höhe und riefen wie aus einem Mund: »Deus vult! Gott will es!«
Wir an der Ufermauer weinten. Nur Ina nicht. Auf dem Weg von Taytingen nach Donauwörth hatte Vater sie mit aufs Pferd genommen: »Kindel, ich bringe euch in den schönen Himmel, die liebe Mutter und auch euch, ihr lieben Zwillinge beide!« Ich sehe Ina noch vor mir an der Ufermauer. Mutter hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, Ina winkte mit ihrem Kopftuch, bis die Schiffe der Kreuzfahrer hinter einer Flussbiegung verschwanden. Wir Zwillinge haben unseren Vater nicht wiedergesehen. Und bald nach seiner Todesnachricht kam Mutters Krankheit ins Haus, ihre fressende Krankheit, die auch das zerstückelte Hündlein nicht heilen konnte.
Als müsste ich die Mutter zum zweiten Mal verlieren – so ist mir jetzt. Tränen laufen mir übers Gesicht, bis wir mit unseren schwappenden Wasserkübeln zurück im Kräuterhaus sind. Märthe und Elspet haben inzwischen Effelin entkleidet und ihr Bett mit frischem Leinen bezogen. Gemeinsam waschen sie die Schwester und schlagen ihren Körper in ein Laken.
Effelin hat die Augen noch immer starr nach oben gerichtet, sie liegt aber nicht mehr so leblos da. Der Atem pfeift in ihrer Brust.
»Ich laufe in die Stadt«, sagt Märthe. »Wir brauchen den Arzt! Du, Ina, begleitest mich. Und du, Elspet, du bleibst mit Kathie bei ihr. Setzt euch ans Bett, betet ein Vaterunser, ein Ave-Maria*. Laut, dass Effelin es hört und mitbeten kann, solange die Seele noch bei ihr ist!«
Elspets Stimme ist kräftig. Ich begleite sie flüsternd. Außer dem Vaterunser spricht Elspet noch Worte aus den Psalmen. Ich kann die lateinischen Worte nicht mitsprechen, anders als Ina habe ich das bis heute noch nicht gelernt.
Ich schließe die Augen, während ich Elspets Stimme in stummer Andacht begleite. Bilder tauchen vor mir auf. An Effelins Seite sehe ich mich hacken und pflanzen. Wie kleine und so ungeschickte Hände hatte ich damals, als Märthe mich zu ihr ins Gartenland schickte! Doch Effelin hatte Geduld mit mir. Sie lehrte mich, wie Kräuter, Salate und Wurzeln, die das Haus braucht, richtig und ordentlich gesät und gepflanzt werden. Wie die Beete zu häufeln sind. Nicht zu breit, damit die Arme darüberreichen können. Und dass für Petersilie, Pastinak, Sellerie die Beete tief umzugraben sind, weil sie unter der Erde Fleisch ansetzen, bei den übrigen Gewächsen dagegen genüge es, den Boden mit der Hacke zu lockern. Ich lernte, Kräuter und Unkräuter zu unterscheiden, im Herbst Äpfel und Birnen zu schnitzeln, und ich lernte, auf die Wetterzeichen zu achten, die Regen und Schnee, Blitz und Donner ankündigen.
Und Effelin tröstete mich. Vor allem, als Märthe befahl, dass Ina ihren Schlafplatz im Schreibhaus haben sollte und ich in Zukunft bei Effelin im Kräuterhaus zu schlafen hätte.
Ina und ich sind Zwillinge, zum Verwechseln ähnlich, wie zwei Erbsen in einer Schote. Als Kinder haben wir uns wieder und wieder einen Spaß daraus gemacht, insgeheim unsere Namen zu tauschen. Dann hieß ich Ina, und meine Schwester hörte auf Kathie, wenn Mutter nach mir rief. Oder umgekehrt. Heute kann man uns beide nicht mehr so leicht verwechseln. Ich rieche nach Garten und Erde, Ina nach Tinte und Lampenöl.
Wenn ich von Ina erzähle, steigt mir Blutgeschmack in den Mund. Metallisch, bittersüß, so schmecke ich es, wenn ich Inas Namen nenne. Damals, an jenem Tag, als Effelin vom Schlag getroffen wurde, war Ina bereits dabei, jenes verwünschte Büchlein zu schreiben, das später so viel Unheil über uns bringen sollte. Gott verzeih mir, wenn ich Inas Büchlein verwünsche! Vielleicht ist es ja ein frommes, wer weiß, womöglich sogar ein hochheiliges Buch! Ich kann darüber nicht urteilen. Wenn aber dieses geheime Büchlein nicht gewesen wäre, dann wäre alles nicht so schlimm gekommen. Deshalb verwünsche ich jeden Buchstaben, den Ina an ihrem Schreibpult auf die Pergamentseiten malte!
In der Stadt läutet es schon zu Mittag, bis der Arzt in Begleitung eines Gehilfen am Krankenbett eintrifft. Regensburg hat viele Ärzte, Enichel ist einer der angesehensten. Märthe hat bestimmt ihre ganze Überredungskunst darauf verwenden müssen, den würdigen Herrn zu bewegen, den Schwestern draußen vor der Stadt seinen Dienst zu erweisen. Vom Tor am Wehr in der Weststadt bis zum Schwesternhof* bei St. Sixtus* ist es nicht mal eine halbe Wegstunde. Doch Enichel hat sich von einem Maulesel bis zur Hofreite tragen lassen.
Mit einem »Gott zum Gruß!« tritt er an Effelins Bett und bedeutet seinem Gehilfen, die Ledertasche mit dem medizinischen Gerät abzustellen. Elspet und ich machen den Weg zum Krankenbett frei. Verbeugen uns und grüßen zurück: »Gott grüße Euch, Herr!« Märthe und Ina gesellen sich zu uns und dann huschen auch Loebel und Ava, zwei unserer übrigen Mitschwestern, durch die Tür.
Beklommen verfolge ich die Tätigkeit des Arztes. Lebt Effelin noch? Ihr Atem scheint stillzustehen. Enichels Gehilfe reicht dem Arzt eine Flaumfeder. Der Flaum bewegt sich, als Enichel Effelin die Feder unter die Nase hält. Dann wedelt der Arzt ihr mit seiner Hand vor den Augen, aber Effelins Blick folgt ihr nicht. Er beugt sich zu ihr und betrachtet ihr gerötetes Gesicht und tastet danach den Puls an Schläfe und Handgelenk ab.
Hat die Kranke in der letzten Zeit über Kopfweh, Schwindel oder Mattigkeit geklagt, erkundigt sich Enichel. Klagte sie über Ohrensausen? Knirschte sie im Schlaf mit den Zähnen? Zitterten ihr die Lippen? Hatte ihr Gedächtnis abgenommen, fiel der Schwester das Reden schwer?
Und als wir alles verneinen, fragt Enichel nach ihrem Wochenfluss: »Hatte sie regelmäßig ihre Menstrua?«
Es sieht so aus, als ob Effelin mit den anderen Schwestern nicht darüber gesprochen hat.
Und ich antworte flüsternd: »Effelin klagte, dass ihre Tage unregelmäßig waren. Und in der letzten Zeit hatte sie gar keinen Fluss mehr.«
Der Arzt nickt. »Das hatte ich befürchtet«, sagt er. »Das faulige Blut hat sich in ihr gesammelt und nach einem Ausgang gesucht. Es ist ihr vom Kopf in die Blutbahn getropft und hat die Adergänge zum Herzen verschlossen. Die Apoplexia ist das, der Schlag! Das, was die Leute ›die Gotteshand‹ nennen. Sie hätte zur Ader gelassen werden müssen. – Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät!«
Der Gehilfe reicht dem Arzt ein spitziges Messerchen, Enichel deckt Effelins Füße auf, sucht nach der Blutbahn am linken Innenknöchel, winkt seinen Gehilfen mit einer Schale herbei und öffnet die Ader.
Nachdem er vor der Tür das Blut in der Schale berochen und betrachtet hat, kehrt Enichel ans Krankenlager zurück.
»Es gibt nur wenig Hoffnung für eure Schwester«, sagt er. »Gegen Gottes Hand richten auch wir nichts aus. Lasst den Priester kommen!«
Er verabschiedet sich mit einem Gottbefohlen. Wir stehen vor der Tür und schauen zu, wie Märthe den Arzt zur Hofreite hinausbegleitet. Über seinem blauseidenen Kopfbund ragen die Mauern und Türme der Stadt in einen fahlgrauen Oktoberhimmel.
Märthe winkt uns zu sich. »Ich gehe den Priester holen«, erklärt sie. »Und Marina kommt mit.«
Wir schauen zu Marina hinüber. Sie ist die älteste der Schwestern, zuständig für die St.-Sixtus-Kapelle, die mit ihrem Gottesacker an unsere Hofreite grenzt. Irgendwann in den nächsten Tagen müssen wir vielleicht Effelin dort zu Grabe tragen.
»Wir wollen den Heimgang unserer Schwester mit einem Fasten begleiten«, fährt Märthe fort. »Gesäuertes Wasser und Aschenbrot zu den Tageszeiten. Ava wird noch ein paar Brotreste in der Küche auftreiben. Und während ihr esst, soll Ina euch die Bußpsalmen lesen, lateinisch und deutsch. Marina und ich machen uns derweil auf den Weg.«
Die Meisterin entscheidet nicht gern allein. Das würden die Schwestern auch nicht dulden. Denn sie leben freiwillig hier. Ohne Klosterzwang und Gelübde, einzig und allein, um zu dienen. Sich der Siechen und Kranken, der Armen und Hilflosen in der Stadt anzunehmen. Für keinen anderen Lohn als den Gotteslohn. Nichts geschieht auf dem Schwesternhof von St. Sixtus ohne gemeinsame Absprache. Doch Effelin liegt in den letzten Zügen, die Zeit drängt, da muss Märthe schnell und allein entscheiden.
Im Schwesternhaus umstehen wir mit gefalteten Händen das Lesepult, während Ina uns im Sprechgesang die Psalmen vorträgt.
»Domine, ne in furore tuo arguas me – Herr, strafe mich nicht in Deinem Zorn und züchtige mich nicht in Deinem Grimm!«
Ich achte nicht auf die einzelnen Worte. Inas Stimme ist klar und fest. Es ist schön, auf Inas Stimme zu lauschen. Wenn sie vorliest, entgeht mir oft der Inhalt. Ob sie mir in der Schreibstube Rezepte aus dem Kräuterbuch vorliest oder wie jetzt, wenn Ina den Schwestern die Bußpsalmen vorträgt. Der Klang ihrer Stimme erinnert mich an das wohlige Gefühl, mit dem ich früher in Taytingen auf Mutters Stimme lauschte. Wenn Mutter uns Zwillinge in ihren Armen hielt und uns von Sonne, Mond und Sternen erzählte, von den Engeln, die im Himmel musizieren.
Als Ina das Psalmbuch schließt, bleiben die Schwestern zusammen, um auf den Priester zu warten, der das Sterbesakrament und die Letzte Ölung für Effelin bringt.
Ich bin es nicht gewohnt, den Tag in geschlossenen Räumen zu verbringen. Es zieht mich hinaus in den Garten, zu den Kohl- und Rübenbeeten. Effelin wird es mir nicht verübeln, Gartenarbeit war ihr Leben. Ich mache einen Abstecher zum Abtritt hinter den Walnussbäumen. Mit einem Blick durch das Sitzloch sehe ich, dass die Grube reichlich gefüllt ist. Und das ist gut. Denn um den St. Hedwig- oder den St. Gallustag pflegte Effelin den Garten zu düngen. Bevor der erste Schnee kommt und der Boden gefriert.
Ich laufe zu dem Kohlbeet, wo ich heute früh das Weißkraut ausgewurzelt hatte. Vor dem Knoblauchbeet halte ich inne. Hier lag sie und schaute unverwandt in den Himmel, der jetzt mit seinen Engeln auf Effelin wartet. Der Boden ist zertreten, von unseren Füßen verwüstet. Ich muss das Beet neu richten, die Knoblauchzehen ausgraben und wieder reihenweise in die Erde stecken.
Und dabei wird mir plötzlich klar, dass die ganze Gartenarbeit jetzt allein in meinen Händen liegt. Säen, pflanzen, ernten, Rüben, Möhren, Kohl, Pastinak muss ich bald in den Erdkeller einlagern, ach, und die ganze Arbeit im Bienenhaus, Apfelschnitzel und Pflaumen dörren, düngen, graben – gute Muttergottes, wie soll ich das allein mit meinen Händen schaffen?
Nichts ist mir lieber auf der Welt, als in der Erde zu arbeiten, Erde zu riechen. Scharf und durchdringend riecht sie im Frühjahr, wenn der Boden zum Wachstum drängt, dumpf und gesättigt, wenn die Erde im Herbst ermüdet ist. Ohne den Erdgeruch an meinen Händen könnte ich nicht leben. Doch ich habe nur diese beiden Hände, diese zehn Finger, und die reichen nicht, um Beete, Bäume und Bienen zu pflegen, zu umsorgen.
»Steh nicht da wie eine gebackene Maus!«, sagte Vater, wenn ich mir aus Angst vor dem bösen Nachbarshund fast in den Kittel machte. »Steh nicht da wie eine gebackene Maus! Schrei ihn an, belle zurück, so laut du kannst!« Der Nachbarshund war wirklich ein Riesenvieh. Aber eine gebackene Maus wollte ich nicht sein und bellte tapfer zurück.
An Vater, den Hund und die gebackene Maus denke ich in diesem Augenblick. Kathie, du bist nicht allein auf der Welt, sage ich mir. Solange ich Erde zwischen den Fingern habe, werde ich mir nicht in den Kittel machen. Notfalls kannst du auch arbeiten für zwei, sage ich mir. Ist erst der Oktober vorüber, geht die Gartenarbeit gemächlicher vonstatten, und den Rest schaffe ich dann allein. So versuche ich, mir Mut zuzusprechen.
Zurück von meiner Gartenrunde, begebe ich mich ans Hoftor, um nach Märthe und Marina mit dem Priester Ausschau zu halten. Aber so schnell geht das nicht, sage ich mir. Die beiden werden eine Zeit brauchen, bis sie einen Priester finden, der nach draußen vor die Stadt kommt. Nach rechts führt der Weg zum irischen Kloster St. Jakob. Von da aus geht es weiter zum Westtor von Regensburg. Wie Schiffe vor Anker ragen dahinter die Kirchen aus dem Dächermeer der Stadt.
Plötzlich fühle ich mich mutterseelenallein. Und von Neuem überfällt mich die Angst. Oh Gott, wie viele Arbeiten warten an den Beeten und im Bienenhaus auf mich, Arbeiten, die ich jetzt in eigener Verantwortung erledigen muss! Ohne dass Effelin mir sagt: Kind, heute Morgen zupfen wir die Möhren, später tragen wir sie körbeweise in den Erdkeller! Es ist erst Anfang Oktober, der frühe Herbst ist die Hauptarbeitszeit in den Gärten. Was für Arbeiten muss ich besorgen und in welcher Reihenfolge, bis im November oder Dezember der erste Schnee fällt?
Unwillkürlich setzen sich meine Füße in Bewegung, linksab, in Richtung von Prebrunn und dem Donauknie.
Mit Effelin bin ich noch vor wenigen Tagen hier gegangen, an dem Kirchlein von St. Otto vorbei, über den Lohgraben hinaus zu den Magerwiesen und Feldgehölzen im Donauknie. Zwischendurch, beim Wurzelausgraben und -stechen, zählte Effelin auf, was für Arbeiten während der kommenden Wochen anstehen. Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört, mir war es wichtiger, die Schöpfe und Strünke der Wurzeln unterscheiden zu lernen, die wir in unseren Handkörben sammelten, etwa die spitze Pfahlwurzel der Wegwarte von den knotigen Wurzelstöcken des Benediktenkrauts. Die Wurzel des heiligen Benedikt darfst du nur in kleinen Mengen verwenden, hatte Effelin mir beim Stechen eingeschärft. Zerrieben oder zerkocht eingenommen oder auf die Haut gebracht, heilt seine Kraft die Gicht, hilft gegen Kopf- und Zahnschmerzen und nützt überdies noch gegen so manche anderen Beschwerden. Das hatte ich mir gut merken wollen.
Als wir gegen Abend, vorbei an Hecken, die noch mit den letzten Glühwürmchen besetzt waren, zum Schwesternhof heimkehrten, waren unsere Körbe mit Wurzelstöcken von Beinwell, Scharbockskraut, Weidenröschen, von Eibisch und Löwenzahn gefüllt. Und ich machte keine Fehler, als Effelin und ich tags darauf die verschiedenen Wurzelstrünke auf der Darre neben dem Bienenhaus ordneten und zum Trocknen einlagerten.
Aber während ich jetzt den Lohgraben auf einem Steg überquere, denke ich: Kathie, das ganze Wurzelwerk kannst du wegwerfen, wenn Effelin nicht wiederkommt! Nein, im Leben nicht würde ich mich trauen, von den Medizinkräutern unserer Gartenschwester Gebrauch zu machen, sie einem Kranken zu verabreichen! Dazu fehlt mir Effelins Wissen und ihre Erfahrung.
Ach, mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, dass Effelin vor wenigen Tagen hier bei den Erlen neben mir am Wasser gegangen ist! Ihr Schritt war sicher und ausdauernd gewesen, wie immer, und nichts an ihr hatte auf irgendeine Unpässlichkeit hingedeutet. Beim Gehen höre ich noch ihre Stimme neben mir. Doch unsere Gartenschwester liegt wie vom Leben verlassen in der Kräuterkammer, und Märthe ist mit Marina unterwegs, um den Priester zu rufen.
So versunken in traurigen Gedanken bin ich, dass ich an der Teichmulde, wo sich neulich eine Schildkröte mitten auf dem Weg sonnte, beinah das raue, heisere Heulen hinter mir überhört hätte. Ich fasse mir ans Herz, als ich mich umschaue und einen schwarzen Hund sehe, der mit taumelnden Beinen geradewegs auf mich zuhält. Den Kopf gesenkt, sein Maul steht offen, die bläuliche Zunge hängt tief heraus. Mit einem Satz springe ich ins Wasser, in den Teich neben mir, spüre Mulm und Matsch um die Beine, sinke bis an die Knie ein. Der schwarze Kerl hält in doppelter Armeslänge von mir entfernt am grasigen Uferrand an, zeigt mir die Zähne, verzerrt sein Gesicht.
Jesus, Maria!, bete ich stumm.
Wird der Kerl mir nachspringen, dann bin ich verloren. Wutgeifer steht ihm weiß vorm Maul, vor Tollheit und Raserei funkeln seine Augen. Ich taste mich einen weiteren Schritt zurück, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Der Grund unter meinen Füßen gibt weiter nach, jetzt reicht das Wasser mir bald bis an den Nabel. Und ich kann nicht schwimmen. Doch lieber ertrinken, als von einem tollwütigen Hund gebissen zu werden!
Mit knatterndem Flügelschlag fliegt ein Entenschwarm hinter mir auf, hält hoch über meinem Kopf auf Prebrunn, auf Regensburg zu. Die turmbewehrte Mauer der Stadt leuchtet wie ein glänzendes Band im gleißenden Mittagslicht zu mir herüber, unerreichbar in der Ferne.
Eine Erinnerung meldet sich, kurz wie ein Blitz, schneller, als ich es jetzt hier in Worte fassen kann.
Ich stand bei Effelin in unserer Hofreite, und Sybolts Vater erzählte, wie er seinen Ältesten an einen tollwütigen Hund verlor. Sybolt, so heißt unser Ziegenhirt, und vor ihm hütete dessen Bruder unsere Tiere. Einen Ratscher, mehr nicht hatte der Junge von dem Biest abbekommen, erzählte sein Vater, bloß einen Ratscher an der Hand. Gegen die Hundsraserei aber gebe es kein anderes Mittel, als die Wunde auszubrennen. Das habe dann der Schmied getan, mit weiß glühendem Eisen aus der Esse. Direkt auf die bloße Hand. Doch geholfen hatte es nichts. Nach wenigen Tagen knurrte und murrte der arme Junge genau wie ein Hund, biss wie rasend um sich und rannte schließlich wie wild auf allen vieren davon. Ja, genau wie es die Hunde tun, auf allen vieren.
Soll ich, Kathie, das Gartenmädchen von St. Sixtus, auch so enden? Oder muss ich jetzt hier ertrinken?
Das will ich nicht. Doch ich muss mich von der Stelle bewegen, ich sacke immer tiefer ein. Nur, wohin mit mir? Der schwarze Kerl lässt mich nicht aus den Augen, unverwandt ist sein böser Blick auf mich gerichtet. Er steht taumelnd auf seinen Beinen und beißt um sich in die Luft, wässriger Geifer trieft von seinen Lefzen. Zwischendurch leckt er sich heftig, schnappt nach Schmetterlingen oder Fliegen. Und schon wieder lässt er sein lang gezogenes, schauriges Heulen vernehmen.
Da vorn, beim Erlengebüsch, ragt eine kleine Landzunge ins Wasser, Steine liegen, von Wasser umspült, an ihrem Grasrand. Wenn ich das Tier mit Steinwürfen verscheuchen könnte, hätte ich gewonnen! An Zielsicherheit war mir nicht eins von den Dorfkindern in Taytingen überlegen gewesen.
Behutsam taste ich mich nach rechts. Mühsam komme ich gegen Schlick und Schlamm, gegen den Modder an, der an meinem Gewandtuch, an meinen Beinen zieht, ich verliere einen Schuh, ein Schritt weiter bleibt der zweite im Uferschlamm stecken, ich schaffe es aber trotzdem bis zu den Erlen.
Bevor ich jedoch die Steine erreiche, erwartet mich auf der Landzunge bereits das schwarze Geifermaul.
Und jetzt? Irgendwann habe ich sagen gehört, kein Hund täte einem nackten Menschen etwas zuleide. Soll ich es versuchen? Doch wie kriege ich das schlammdurchtränkte Gewandtuch vom Leib? Ganz abgesehen von dem Hemd darunter? Ich würde mich dabei so heftig bewegen müssen, dass ich noch tiefer im Mulm und Modder versacke.
Jesus, Maria, hilf! Mittlerweile bin ich mit meinen Kräften am Ende. Tränen laufen mir übers Gesicht.
Und vor Wut brülle ich lauthals: »Pack dich! Ab ins Gebüsch, dummer Kerl! Mach die Augen zu, sag dein Nachtgebet! Kommt wer vorbei, schlägt er dich mit dem Knüppel tot!« Ich schreie den Kerl mit solchem Stimmaufwand an, dass mir mittendrin die Stimme aussetzt. »Hörst du, jetzt pack dich, los, mach dich fort!«, ende ich im Flüsterton.
Da setzt das Tier heulend zum Sprung an. Ich kann mich gerade noch ins Wasser ducken, da tut es neben mir einen riesigen Platscher. Ich reiße meine Füße aus dem Uferschlamm, lange ins Gebüsch und ziehe mich an Land.
Der schwarze Kerl treibt zwei, drei Klafter entfernt in der Teichmulde, sein Kopf unter Wasser, seinen Körper zieht es nach unten, und das Letzte, was ich von ihm sehe, ist die zuckende Schwanzspitze. Es schüttelt mich vor Kälte von innen, von außen, ich keuche, ich schluchze, meine Knie geben nach, es wird mir schwarz vor den Augen.
Als ich wieder auf die Beine komme, weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich muss ohnmächtig gewesen sein. Jedenfalls ist der wütige Hund nicht mehr da, als ich übers Wasser schaue. Und ich bekreuzige mich, spreche ein Ave-Maria und schlage auch ein Kreuz übers Wasser, für die arme Hundeseele.
Benommen arbeite ich mich aus meinem schwernassen Gewandtuch, wasche gebückt am Ufersaum den schwarzen Schlick und das Algengrün aus dem Leinen. Nur mit dem Hemd bekleidet, das nasse Gewand überm Arm, folge ich dem Weg aus der Teichmulde. Von einer Bodenwelle aus gewahre ich linker Hand einen Trupp von Männern in der Ferne. Sie ziehen an einem Zugseil ein mit Fässern beladenes Schiff stromaufwärts in Richtung Prüfning-Kloster. Ein Windhauch trägt Liedfetzen zu mir, die Männer singen im Takt, während sie Schritt um Schritt das bauchige Schiff gegen die Strömung treideln.
Wie in einem Traum ist mir zumute, so unwirklich ist die Landschaft, der Fluss, sind drüben die Winzerberge, wie erstarrt verharrt ein Libellen-Paar vor mir in der Luft, und ich stehe, das nasse Hemd festgeklebt am bloßen Leib, mutterseelenallein in der schweigenden Landschaft.
Dann kehre ich mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Bis in die Ohren höre ich mein Herz pochen: Effelin, der Priester, die Letzte Ölung! Und du, Kathie, bist nicht dabei, um von Effelin Abschied zu nehmen!
Wie lange bin ich hier draußen gewesen? Zwei Stunden? Drei Stunden? Zwischen aufziehenden Regenwolken steht die Sonne kaum eine Handbreit über den Hügeln von Sinzing, es ist schon später Nachmittag. Ich renne los. Eile, hetze, jage auf bloßen Füßen die Pfade und Wege entlang, die nach Prebrunn, zum Schwesternhaus von St. Sixtus führen.
Im Laufen werfe ich mir mein Gewandtuch über, das nasse Haar pappt am Kopf, in meinem Nacken, das feuchte Leinen klatscht mir um die Beine. Und dann fängt es auch noch an, zu tröpfeln und richtig zu regnen. Auf einem zweiräderigen Karren stapelt sich gedörrter Flachs, hinter dem Zugochsen geht ein Fuhrmann, er ruft und lacht hinter mir her. Mit fliegendem Atem erreiche ich endlich unsere Hofreite.
Dem Himmel sei Dank! Gerade noch rechtzeitig habe ich es geschafft! Aus Regensburg kommend, hält ein Priester mit seinem Esel eilig auf unseren Hof zu, Ministranten begleiten ihn. Ich atme tief ein und aus. Dann husche ich am Hofbrunnen vorbei, streife in Inas Kammer meine nasse Kleidung ab, finde in ihrer Truhe frische Anziehsachen, auch ein paar Schuhe. Im nächsten Augenblick bin ich im Kräuterhaus bei den Schwestern, die um Effelins Lager versammelt sind.
Wir empfangen kniend den Priester, der Effelin das Sterbesakrament bringt. Er salbt ihr die Augenlider, die Ohren, Nase, Mund, die Hände und die Füße.
»Gott, der Herr, verzeihe dir alle Sünden, die du mit deinen Sinnen und mit deinen Gliedern begangen hast!«, sagt der Priester.
Den Leib des Herrn kann er Effelin zur Wegzehrung nicht reichen. Effelin liegt auch jetzt noch, nach Stunden, so unbeweglich da wie im Garten, als sie der Schlag getroffen hatte. Unansprechbar, sie kann ihre letzte Beichte nicht ablegen.
Märthe hat eine Laterne bereitgestellt, denn es dunkelt schon, als sie mich heißt, den Priester in die Stadt zurückzugeleiten.
Eigentlich möchte ich mich zu Ina setzen und meine Hundegeschichte loswerden. Der Schreck sitzt mir noch in allen Gliedern. Der scheußliche Hundeblick will einfach nicht von mir weichen, er verfolgt mich, selbst als ich beim Gebet des Priesters meine Augen schloss, sah ich die vor Wut geröteten Pupillen des schwarzen Höllenhundes vor mir. Es wird mir helfen, wenn ich Ina davon erzähle. Doch Märthe, unserer Meisterin, widerspricht man nicht. Ich schon gar nicht. Weil Märthe für uns alle Sorge trägt, genau wie ich für meinen Garten.
Also nehme ich die Laterne und mache mich mit dem Priester auf den Weg in die Stadt. Wenigstens aber hat der Regen aufgehört. Der Himmel klart auf, in einer Wolkenlücke erkenne ich die Bärensternbilder linker Hand über der Donau.
Wir passieren das Stadttor mit den Wächtern. Hinter dem Tor hält der Priester an.
»Du musst mich nicht länger begleiten«, sagt er. »Da ist aber noch eines, das ich dich fragen will. – Hebe die Laterne, dass ich dein Gesicht sehe!«
Ich gehorche stumm und blinzle wegen des blendenden Lichts.
Der Priester mustert mich und nickt. »Ihr seht euch unglaublich ähnlich!«, sagt er dann und bedeutet mir, die Laterne zu senken. »Du und die junge Frau am Kopfende der Kranken – seid ihr Geschwister?«
»Zwillingsgeschwister sind wir, Herr«, sage ich.
»Das hatte ich mir fast gedacht«, meint er. »Die großen Augen, das kastanienbraune Haar, und wie ihr euch haltet, alles stimmt überein. – Und du heißt?«
»Ich bin Kathie, meine Schwester heißt Ina«, antworte ich.
»Das gibt zusammen den Namen Katharina«, stellt er fest.
»Am Katharinentag sind wir getauft«, erkläre ich ihm. »Der Priester hat Katharinas Namen in zwei Hälften geschnitten, die erste Hälfte gab er mir.«
»Du bist also die Ältere«, sagt er.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sage ich.
»Wieso, weiß es eure Mutter nicht?«, will er wissen.
»Mutter ist tot, Verwandte haben uns zu den Schwestern von St. Sixtus gegeben«, erkläre ich ihm. »Früher wurden wir beide ständig verwechselt, Ina und ich. Möglicherweise schon gleich nach der Geburt.«
Der Priester wirkt nachdenklich. »Ausschließen kann man das nicht«, meint er. »Dann seid ihr also nicht sicher, wer von euch beiden Kathie oder Ina ist?«
Seltsam, das hat bisher noch kein Mensch gefragt! Doch genau so ist es. Eigentlich wissen wir Zwillinge nicht, wer von uns beiden Kathie und wer Ina ist.
»Früher haben wir uns oft deswegen gestritten«, sage ich.
»Das ist eine kniffelige Sache!«, sagt er. »Etwas für die Rechtsgelehrten. Maior dividat, minor eligat, heißt es im Recht. Der Ältere teilt, der Jüngere wählt! Gebt gut aufeinander acht, ihr beiden. Wer von euch Kathie heißt, trägt Verantwortung für Ina.«
Mich überläuft es. Was will der Priester damit sagen?
»Danke, Herr!«, sage ich leise. »Euer Wort vergesse ich nicht.«
»Dann sei Gott befohlen!«, sagt er. »Und jetzt laufe heim nach St. Sixtus!« Beim Weggehen dreht er sich noch einmal um. »Beim supplicium* werde ich eure Namen dem Schutz der Gottesmutter befehlen.« Damit verschwindet er in der Dunkelheit.
Ich weiß nicht, was ein supplicium ist. Auf dem Rückweg wiederhole ich mehrmals laut das fremde Wort, um Ina nachher danach zu fragen.
Auf den Stufen zum Haupthaus begegne ich der Meisterin. »Mädchen, gottlob, da bist du ja!«, empfängt sie mich. »Ich mache mir schon Gedanken, warum du so lange ausbleibst. Ist alles in Ordnung?«
»Der Priester wollte noch mit mir reden«, erkläre ich Märthe und stelle die Laterne ab.
»Dann ist es ja gut«, sagt sie. »Lauf in die Küche und hole dir Brot! – Wir haben Effelins Krankenwachen abgesprochen. Elspet übernimmt mit dir die letzte Wache. Und schlafen tust du nicht in der Kräuterkammer. Ich habe dein Lager zu Ina in die Schreibstube bringen lassen.«
Ich danke, laufe zum Hofbrunnen, trinke und stapfe dann hinüber zum Garten. An seinem Ende, vor dem Heckenzaun, finde ich im blassen Sternenlicht die Reihe mit den ausgezogenen Möhren. Die wollte ich heute Nachmittag eigentlich in den Erdkeller tragen.
»Heute ist Gallustag*«, hatte Effelin in der Frühe beim Aufstehen gesagt. »Später als St. -Gallustag im Garten Frucht nicht bleiben mag! – So heißt die Wetterregel. Es eilt, dass wir die Möhren, Rüben und den Kohl einlagern!«
Was für ein schlimmer Tag daraus geworden ist.
Mit den Händen voll Möhren kehre ich zum Brunnen zurück, säubere sie und stecke mir gleich eine von den leckeren Früchten in den Mund. Sie schmeckt frisch und süß. Bestimmt besser als das Aschenbrot aus Avas Küche. Kauend, mit vollen Backen, gehe ich über den Hof zu Inas Schreibstube hinüber.
An ihrem abgeschrägten Schreibpult sitzt Ina und malt Buchstaben aufs Pergament. Sie dreht sich kurz nach mir um, nickt mir zu und schreibt weiter.
»Du musst neue Tinte machen«, sagt sie, während ich mein Nachtlager in Augenschein nehme. »Meine geht zu Ende. Und du musst mir neue Schreibfedern schneiden. Ich schreibe mit der letzten, die hat keine scharfe Zunge mehr. Ständig hängt sie am Pergament fest!«
Niemand darf Ina beim Schreiben stören. Märthe hat es allen Schwestern streng untersagt.
Ein falscher Buchstabe ist schlimm genug und ein falsches Wort ist eine ganze verdorbene Seite. Und wir haben niemand außer Ina, die in Deutsch und Latein schreiben und lesen kann. Also stört das Mädchen nicht bei der Arbeit! Das hat Märthe den Schwestern eingeschärft. Von Anfang an, seit Ina und ich hierher ins Schwesternhaus kamen.
Ich denke, die Meisterin hatte uns Zwillinge nach Mutters Tod überhaupt nur deswegen aufgenommen, weil Ina die Schreib- und Lesekunst beherrschte. Vater, der ein Amtmann des Grafen von Graisbach war, hatte es ihr beigebracht. Auch bei mir hatte er es versucht. Ich fand aber keine Freude am Buchstabenmalen. Dafür kann ich gut Federn zuschneiden. Und aus Schlehenholz Tinte machen. Auf beides versteht sich Ina nicht, dazu braucht sie meine Hände.
Mit untergeschlagenen Beinen sitze ich im Bettstroh und knabbere Möhren. Und warte darauf, dass Ina die Feder beiseitelegt.
Endlich verschließt sie das Tintenhorn und wischt die Feder in dem Wergbausch aus Flachsabfall sauber, klettert von ihrem Sitz und kauert sich zu mir.
»Danke«, sagt sie und greift zu den Möhren. »Also, was ist mit deinen verdreckten Anziehsachen, da drüben in der Ecke?«
»Ich wasche sie morgen«, sage ich.
»Außerdem hast du meine Schuhe an!«, beschwert sich Ina. »Du nimmst dir einfach Sachen aus meiner Truhe. Was ist passiert?«
Eigentlich wollte ich meine gelehrte Schwester zuerst nach dem supplicium fragen, bevor ich das schwierige Wort vergessen habe. Doch jetzt erzähle ich ihr von dem tollwütigen Hund am Donauknie. Mit kurzen Worten, denn ich bin sterbensmüde nach diesem schlimmen Tag.
»So nass und schmutzig, wie ich war, konnte ich mich doch nicht bei dem Priester blicken lassen«, schließe ich meinen Bericht. »Sonst wäre ich nie an deine Sachen gegangen!«
Ina hört sich meine Geschichte an, ohne mich zu unterbrechen, aber mit einem merkwürdigen Gesicht. Und zwischen ihren Brauen stehen zwei kleine Falten.
»Da hast du mehr Glück als Verstand gehabt, Schwesterchen«, sagt sie schließlich. Mehr nicht.
Und ich dachte, Ina bekreuzigt sich, nimmt mich in den Arm, froh, dass diese böse Sache doch noch gut für mich ausgegangen ist.
»Und? Was hättest du an meiner Stelle gemacht?«, frage ich gereizt.