ZWISCHENFRAGE

WIE SAH JESUS EIGENTLICH AUS?

Wie hat Jesus eigentlich ausgesehen? War er klein oder groß? Hatte er lange oder kurz geschnittene Haare? Welche Farbe hatten seine Augen? Trug er einen Bart oder war er glatt rasiert? Wie war er angezogen? Merkwürdigerweise berichten die vier Evangelisten mit keinem Wort über das Aussehen des Mannes aus Nazaret. Waren Sie daran nicht interessiert, oder scheuten sie sich, das Äußere eines Menschen zu beschreiben, den sie als Gottes Sohn verehrten? Spätere Generationen waren jedenfalls weniger zurückhaltend, wenn es galt, der Gestalt Jesus ein Gesicht und einen Körper zu geben.

Origenes, ein christlicher Gelehrter, der Ende des zweiten, Anfang des dritten Jahrhunderts lebte, beschrieb Jesus als klein, unscheinbar und hässlich.38 Er war dabei vermutlich beeinflusst von einer Stelle im Alten Testament, wo über den Messias gesagt wird, dass sein Anblick nicht angenehm gewesen sei. Diesem Urteil schlossen sich viele Heilige der Ostkirche an und glaubten sogar zu wissen, dass Jesus mit dem linken Bein hinkte oder sonst missgestaltet war. In einer slawischen Übersetzung von Flavius Josephus’ Darstellung des Jüdischen Krieges gegen die Römer wird Jesus geschildert als kleiner Mann mit einem Buckel, mit langem Gesicht, zusammengewachsenen Augenbrauen, schütterem Haar und mickrigem Bart.39

Die westliche Kirche dagegen pflegte das Bild von Jesus als einem schönen Mann und dieses Bild wurde vor allem durch die christliche Kunst verbreitet. Auf den meisten Darstellungen ist Jesus groß gewachsen, hat lange braune Haare mit einem Mittelscheitel, einen Vollbart, ausdrucksvolle Augen und ein gleichmäßiges, sanftes Gesicht. Diese Vorstellung ist durch die verschiedenen Jesus-Filme noch verfestigt worden. Ob Pier Paolo Pasolinis Verfilmung des Matthäus-Evangeliums, Franco Zeffirellis Filmepos Jesus von Nazaret mit Robert Powell in der Hauptrolle, Martin Scorseses Die letzte Versuchung Christi mit Willem Dafoe als Jesus oder Mel Gibsons blutige Passion Christi – immer wird die Gestalt Jesu mit ähnlichen Merkmalen ausgestattet, als schlanker, großer Mann mit langen Haaren und Bart. Selbst in der Rockoper Jesus Christ Superstar oder bei den Passionsspielen in Oberammergau wird diese Tradition wie selbstverständlich weitergeführt. Dabei ist dieses Bild von Jesus natürlich von unseren kulturellen Vorgaben in Europa geprägt, und für Menschen in Afrika ist es ganz normal, wenn in einer afrikanischen Ausgabe der Bibel Jesus abgebildet ist mit dunkler Haut und Kraushaar.

Bis in die heutige Zeit hat sich das Bedürfnis erhalten, sich Jesus bildlich vorstellen zu können. Der Autor und Journalist Peter Seewald orientiert sich in seiner »Biografie« über Jesus an dem berühmten Turiner Grabtuch, das Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erstmals erwähnt wurde und das die Vorder- und Rückseite eines Mannes zeigt, der für viele Gläubige niemand anderes ist als der tote Jesus Christus. Entsprechend den Maßen dieses Abdrucks ist Jesus für Seewald »ein kräftiger Mann, knapp 1,90 Meter groß«. Er hat eine »hohe, fast schlaksige Gestalt«, dazu »das wallende Haar« und eine »gleichmäßige Stimme, die Behaglichkeit erzeugte«.40

Der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt. Der amerikanische Künstler Stephen Sawyer überbot Seewald noch und malte Jesus als einen Wrestler, der in der Ecke eines Boxrings steht und den Betrachter selbstbewusst anschaut. Seine langen, gewellten kastanienbraunen Haare fallen ihm über die muskulösen Schultern. Sein männliches Gesicht mit dem markanten Kinn ziert ein gepflegter Vollbart und sein Körper ist der eines Bodybuilders. Sawyer will die modernen Menschen von einem »verstaubten Jesusbild« befreien. Er will einen Jesus für Männer zeigen, keinen blassen Schwächling, sondern einen echten Kerl.41

Es sind auch Jesus-Bilder wie die von Stephen Sawyer, die die Kritik einer feministisch ausgerichteten Theologie hervorgerufen haben. Ihr geht es darum, Gott von männlichen Denkmustern zu befreien und seine weiblichen Eigenschaften zu entdecken. Einige Künstler gehen sogar so weit und stellen Jesus als »Christa« in Gestalt einer nackten oder halb nackten Frau am Kreuz dar42, was bei vielen Gläubigen zu einem Sturm der Entrüstung führte und zu dem Vorwurf, dass solche Bilder nichts anderes sind als Blasphemie.

Sind, wenn es um das Aussehen Jesu geht, der Fantasie wirklich keine Grenzen gesetzt? Kann sich jeder nach seinem Geschmack einen Jesus ausmalen? Oder gibt es handfeste Anhaltspunkte dafür, wie Jesus wirklich ausgesehen hat? Im Jahr 2002 überraschte das US-Wissenschaftsmagazin Popular Mechanics mit einem Beitrag über das »wahre Gesicht Jesu«.43 Auf der Grundlage neuester medizinischer und archäologischer Erkenntnisse und mit Methoden, wie man sie zur Aufklärung von Verbrechen verwende, habe man, so wurde behauptet, ein genaues Bild vom »berühmtesten Gesicht der Geschichte« erstellt. Was der mit allen Daten gefütterte Computer dann preisgab, war ein Jesus, wie man ihn von den Bildern in den Kirchen nicht kannte: ein grobschlächtiges Gesicht mit kurzen Haaren, niedriger Stirn, struppigem Bart, dicker Nase und wulstigen Lippen. Müssen wir uns also Jesus so vorstellen, wenn wir die Bibel lesen?

Wie sehr das Bild von Jesus von unseren Erwartungen, unserer Erziehung und dem Einfluss von Medien geprägt ist, hat der Künstler Christian Jankowski mit einer Videoinstallation zeigen wollen. Er inszenierte ein Casting, bei dem sich dreizehn Kandidaten um die Rolle des perfekten Jesus-Darstellers bewarben.44 Juroren waren zwei Theologen und ein Journalist.

In der ersten Runde mussten die Kandidaten ihre Hände zeigen und eine kurze Stelle aus der Bibel vorlesen. Jesus Nummer zwölf war einem der Juroren zu dick, ein anderer hatte eine zu große Nase, ein dritter konnte nicht überzeugend genug vermitteln, dass er das Leid der Welt trage. Die übrig gebliebenen sechs Bewerber mussten in der zweiten Runde dann Brot brechen und die Heilung eines Kranken mimen. Jene drei, die vor den strengen Augen der Jury ihre Aufgaben am besten lösten, kamen ins Finale, wo sie dann ein Kreuz tragen und auf ein Zeichen hin sterben mussten. Sieger war schließlich ein junger Mann aus Florenz mit langen blonden Haaren und blauen Augen. Jankowski ließ von diesem Muster-Jesus Gebetskärtchen drucken. Der Vatikan soll Tausende davon bestellt haben.

Solche Gebetskärtchen habe ich als Kind von einer Lehrerin bekommen, wenn ich eine gute Note in Religion geschrieben hatte. Auf meinen Kärtchen war ein Jesus zu sehen, der ein sichtbares, von einem Dornenkranz umwundenes Herz auf der Brust hatte. Dieser schöne Jesus hatte langes gewelltes, in der Mitte gescheiteltes Haar und unsagbar milde, traurige Augen, die gen Himmel gerichtet waren. Dieses Bild hat ein für alle Mal meine Vorstellung von Jesus festgelegt, auch wenn ich heute weiß, dass dieser Jesus nur die Kitsch-Figur eines Kunstgewerbes ist, das die Wünsche seiner Kunden erfüllt.

Bestärkt hat mich in meiner Überzeugung auch die Aussage eines Pfarrers, der meinte, dass Jesus den Schlechten hässlich erscheine und den Guten schön. Der Umkehrschluss lag für mich auf der Hand. Mein Jesus war schön, also musste ich gut sein. Und das wollte ich. So tief war der schöne Jesus in mir verankert, dass bis heute sich alles in mir dagegen wehrt, wenn ich von einem Jesus höre, der klein, bucklig und glatzköpfig gewesen sein soll. Und mein Bild vom schönen, sanften und leidenden Jesus wird nicht ins Wanken gebracht, auch wenn man mir tausend Mal sagt, dass kein Mensch wissen kann, wie Jesus ausgesehen hat.

Die Frage nach dem Aussehen des Jesus von Nazaret ist ganz ähnlich der Frage, wer Jesus eigentlich war, was er wirklich getan und gesagt, wie er gelebt hat. Ebenso wie man gerne ein Foto von Jesus hätte, so würde man auch gerne ganz genau wissen, was sich vor zweitausend Jahren in Israel ereignet hat. Denn immerhin ist aus dem, was dieser Zimmermannssohn aus Nazaret gesagt und getan hat, eine Weltreligion entstanden.

Da Jesus selber keine Schriften hinterlassen hat, sind wir angewiesen auf die Berichte jener Autoren, die nach seinem Tod Erinnerungen an ihn gesammelt und aufgeschrieben haben. Viele dieser Schriften wurden als so unglaubwürdig empfunden, dass sie nicht in den Kanon der maßgeblichen Texte, also in die Sammlung des Neuen Testaments, aufgenommen wurden. Dort stehen bis heute die Zeugnisse der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Lange Zeit galten die Evangelien als von Gott inspirierte Schriften, deren Glaubwürdigkeit niemand anzutasten wagte. Erst als man begann, die Evangelien zu lesen wie historische Berichte, kamen Zweifel auf. Wurde die Geschichte des Jesus von Nazaret von den Evangelisten wahrheitsgemäß überliefert oder vielleicht verfälscht? Hatten die Evangelisten, die ein bis zwei Generationen nach Jesus lebten, nicht schon ihre eigene Sicht von Jesus entwickelt, die sie nun rückwirkend auf ihn projizierten, womit sie seine Botschaft verzerrten?

Wie Restauratoren, die ein altes, immer wieder übermaltes Gemälde freilegen wollen, gingen Generationen von Forschern daran, eine Schicht nach der anderen abzutragen, um den darunterliegenden »echten« Jesus freizulegen. Was am Ende übrig blieb, waren ein paar dürftige, mehr oder weniger »harte«, also beweisbare Fakten. Auf der Suche nach dem »wahren« Jesus war unmerklich die faszinierende Gestalt des Mannes aus Nazaret, ihr Anspruch und ihre Wirkung, verloren gegangen. Der Mediziner und Theologe Albert Schweitzer zog nach kritischer Durchsicht der Leben-Jesu-Forschung den Schluss, dass die Autoren nicht den »wirklichen« Jesus freigelegt haben, sondern mehr ihren eigenen Vorurteilen und Interessen gefolgt sind.45

Ebenso wenig, wie es ein Foto von Jesus gibt, kann man ein historisch genaues Bild von ihm erstellen. Alle Dokumente, die von Jesus berichten, sind eine untrennbare Einheit von Wissen und Glauben. Und so braucht man, wenn man von Jesus erzählen will, einen zweifachen Blick – einen für die historischen Umstände und einen für die religiösen Erfahrungen.