Das Welt-Schicksalsjahr 1933

Am 30. Januar 1933 legte sich ein dunkler Schatten über die Welt. Es wurde kalt in Europa und das Zentrum, von dem die Kälte ausging, gehörte zu Deutschland und hieß Berlin. Dort wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.

In jenen Tagen lebte in Dresden ein Literaturwissenschaftler, Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule, der damit begann, seine alltäglichen Erlebnisse und Gedanken aus dieser Zeit in ein Tagebuch zu schreiben – Victor Klemperer. Den zum Protestantismus konvertierten Juden plagen zunächst ganz normale Alltagssorgen, wie sie viele andere auch hatten: Geldnöte, Schulden, berufliche Probleme, Kälte und Frost im schlecht geheizten Haus, ein Prozess gegen einen Betrüger. Aber je länger Hitlers Herrschaft dauert, desto stärker treten die politischen Probleme in den Vordergrund, werden Klemperers private Alltagssorgen zunehmend von der Judenfeindlichkeit der Regierung dominiert, die sich auch gegen konvertierte Juden richtet.

Kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schreibt Klemperer: »Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse.«

Wenige Wochen später, im März, heißt es: »Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden.« Bang fragt er: »Wie lange werde ich noch im Amt sein?« Wenig später fügt er hinzu: »Noch zittert man nicht um sein Leben – aber um Brot und Freiheit.« Und immer wieder das Gefühl: »Niemand atmet mehr frei, kein freies Wort, weder gedruckt noch gesprochen. (…) Und niemand rührt sich, alles zittert, verkriecht sich.«

Er hat recht. Wenn auch nicht ganz.

Rund 200 Kilometer nördlich von Klemperers Wohnung spricht schon zwei Tage nach Hitlers Ernennung zum Kanzler ein junger Theologe Klartext. Dietrich Bonhoeffer markiert in Berlin in einem Rundfunkbeitrag die Grenzen, die dem Amt des »Führers« gesetzt sind. Zweieinhalb Monate später, Hitler hatte sich soeben mithilfe des »Arierparagrafen« die Möglichkeit verschafft, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst zu entlassen, schreibt Bonhoeffer in einem Aufsatz, wo jetzt der Platz der Kirche zu sein habe: an der Seite der Juden. Und diesem Standpunkt bleibt Bonhoeffer treu, mit allen Konsequenzen, bis zu seiner Ermordung kurz vor Kriegsende.

Dort, in Berlin, kreuzt sich Bonhoeffers Weg mit dem eines anderen Theologen mit einer ganz anderen Herkunft, mit Martin Niemöller. Er gehört zu jenen, die als Nationalsozialisten begonnen, den Führerstaat begrüßt, Juden zur Zurückhaltung ermahnt haben – und dann doch Widerstandskämpfer geworden sind. Niemöller war ein deutsch-nationaler U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, danach Kommandeur eines Freikorps, das die Weimarer Demokratie bekämpfte, wurde schließlich Landwirt, später Pfarrer und geriet als solcher zunächst nur deshalb in Widerspruch zu den Nazis, weil er die Vermischung von politischen Aussagen mit dem christlichen Glaubensbekenntnis ablehnte.

Einmal zum Widerspruch und eigenem Nachdenken herausgefordert, entwickelte sich der Nationalkonservative zum Kirchenkämpfer, Oppositionellen und Widerstandskämpfer, den die Nazis ins Konzentrationslager steckten. Er überlebte die Haft und den Krieg und wurde danach zu einem streitbaren, politisch weit links stehenden Kirchenmann, der sich bis zu seinem Lebensende immer wieder in die Tagespolitik einmischte und konservative Kreise gegen sich aufbrachte.

Auch Arvid Harnack war Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und hatte in Berlin einen bedeutenden Posten im Reichswirtschaftsministerium – den er und seine amerikanische Frau Mildred nutzten, um mit den Russen gegen das Hitler-Regime zu arbeiten. Schon 1933 hatte Mildred einen Diskussionszirkel aufgebaut, aus dem 1939 das Widerstandsnetz Rote Kapelle entstand. Mildred und Arvid Harnack überlebten ihren Kampf gegen Hitler nicht.

Einer, der damals regelmäßig Kontakt hatte zu Mildred Harnack und der Roten Kapelle, war Robert Havemann, der selbst eine Widerstandsgruppe namens Europäische Union gegründet hatte. Auch er flog auf, wurde verhaftet, hat aber überlebt, nach dem Krieg am Aufbau der DDR mitgearbeitet in der Hoffnung, hier das bessere, freiere und friedlichere Deutschland entstehen zu lassen – und wurde, ähnlich wie Victor Klemperer, bitter enttäuscht. Auch er versprach sich viel vom ersten deutschen »Arbeiter- und Bauernstaat«.

Ungefähr zur selben Zeit, als Bonhoeffer seinen ersten öffentlichen Protest gegen Hitler artikuliert und Klemperer in Dresden verzweifelt auf Signale des Widerstands wartet, verlässt 310 Kilometer nordwestlich ein junger Sozialist seine Heimatstadt Lübeck, um nach Norwegen zu fliehen und von dort aus den Kampf gegen Hitler aufzunehmen, Willy Brandt heißt er. Er wird überleben und Kanzler eines anderen Deutschlands werden.

450 Kilometer südwestlich von Klemperer kämpft ein einfacher Handwerksgeselle, der Schreiner Georg Elser, mit den Widrigkeiten des Alltags. Sein Vater ist Alkoholiker, die Familie verschuldet. Georg Elser arbeitet still und unauffällig, so viel er kann, um die familiäre Not zu lindern. Den Hitlergruß verweigert er. Sonst fällt er nicht weiter auf, aber sechs Jahre später wird er ganz allein ein Bombenattentat auf Hitler verüben. Das misslingt.

Ebenfalls still und unauffällig bewältigt 2350 Kilometer südwestlich an der deutschen Botschaft in Madrid Fritz Kolbe, ein tüchtiger Konsulatssekretär, seinen Alltag. Er wird zum Oberinspektor befördert, nach Kapstadt versetzt und während des Krieges zum Oberkommando der Wehrmacht beordert. Dort erhält er Einblick in wichtige politische und militärische Geheimnisse. Die verrät er an die Amerikaner. Nicht für Geld, sondern weil er will, dass Hitler nicht das letzte Wort behält in Europa.

Im 470 Kilometer entfernten München wächst ein Mädchen heran, das erst zwölf Jahre alt ist, als Hitler an die Macht kommt. Es hat nur noch zehn Jahre zu leben, denn ab ungefähr 1942 schließt es sich der Widerstandsgruppe Weiße Rose an, verteilt Flugblätter gegen Hitler, ruft zum Sturz des NS-Regimes auf, wird verhaftet und 1943 ermordet, gemeinsam mit dem Bruder Hans und anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe.

Auch außerhalb Deutschlands gab es den Aufstand des Gewissens und der Menschlichkeit gegen Hitler. Dafür werden in diesem Buch zwei Beispiele erzählt, das von Janusz Korczak und Irena Sendler, beide aus Polen. Als deutsche Truppen Polen überfielen und besetzten, wurde systematisch Jagd auf Juden gemacht. In Warschau wurden sie aus ihren Wohnungen vertrieben und ins Getto gepfercht. Auch ein Waisenhaus mit jüdischen Kindern musste ins Getto. Als dort 200 Kinder von der SS zum Abtransport in das Vernichtungslager Treblinka abgeholt wurden, konnte der Leiter des Waisenhauses, der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, seine Kinder nicht im Stich lassen und bestand darauf, mitzufahren. Gemeinsam mit seinen Kindern starb er in der Gaskammer. Eine andere Polin, die Krankenschwester Irena Sendler, verschaffte sich unter dem Vorwand der Epidemiekontrolle Zugang zum Warschauer Getto und schmuggelte zusammen mit Helfern 2500 jüdische Kinder heraus, brachte sie in polnischen Familien, Klöstern und Waisenhäusern unter, verschaffte ihnen falsche Papiere und rettete ihnen dadurch das Leben.

Die größte, am weitesten verzweigte und für das Hitler-Regime gefährlichste Widerstandsgruppe aber hatte ihr Zentrum rund 200 Kilometer östlich von Berlin in einem kleinen Nest, das heute aber weltberühmt ist eben wegen des Widerstandes. Der Ort heißt Kreisau, liegt in Schlesien, heißt heute Krzyzowa und gehört zu Polen. Dort wohnte die Familie von Moltke. Dort traf sich von 1933 an fast alles, was Rang und Namen hatte und gegen Hitler war. Dieser Kreisauer Kreis wurde mit den Jahren immer größer und soziologisch immer bunter. Konservative Adlige, Sozialisten, Protestanten, Katholiken fanden sich auf dem Schloss von Helmuth James Graf von Moltke zusammen und berieten, wie man Hitler stürzen könne und wie es danach weitergehen sollte. Diese Menschen hätten sich zur Keimzelle eines neuen Deutschland entwickeln können, wenn nicht auch sie vorzeitig entdeckt und Hitlers Schlächtern ausgeliefert worden wären. Einige Mitglieder dieses Kreises hatten auch das Attentat des Grafen Claus Schenk von Stauffenberg mit geplant. Auch dieser Anschlag auf Hitler scheiterte, aber er wurde zum Symbol des Widerstandes und zum Beweis, dass sich nicht alle verkrochen hatten damals, wie es Victor Klemperer in seiner Einsamkeit erschien.

Klemperer konnte das natürlich nicht wissen, denn jede Opposition gegen Hitler war lebensgefährlich. Wer sich daran beteiligte, musste es heimlich tun, im Untergrund, vom Ausland aus, verdeckt, konspirativ. Zu Klemperer konnte daher von den geheimen Plänen und Aktionen nichts durchdringen.

Auch deshalb nicht, weil der ganze Widerstand letztlich erfolglos blieb. Viele derer, die es gewagt hatten, gegen die Barbarei zu kämpfen, haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Erreicht haben sie so wenig wie jene, die davongekommen sind. Es brauchte die geballte Kraft der Armeen Russlands, Amerikas, Englands und Frankreichs, um Hitler niederzuringen.

Daher kann man die Widerständler als Gescheiterte betrachten. Einzeln, immer nur für sich betrachtet, waren sie das auch, denn keiner hat sein Ziel – Hitlers Herrschaft zu beenden – erreicht. In ihrer Summe aber beweisen sie und all jene, die Juden versteckt, zur Flucht verholfen oder Oppositionelle beschützt, abgeschirmt oder vor der Gestapo bewahrt haben: Es hat auch ein anderes Deutschland gegeben. Das zu beweisen war ebenfalls ein Ziel vieler Widerständler und dieses Ziel haben sie erreicht.

Dank ihrer weiß die Welt: Nicht alle Deutschen waren Mörder. Nicht alle waren Mitläufer. Nicht alle haben geschwiegen. Gewiss, es waren wenige. Das lag aber nicht nur an einem allgemeinen Mangel an Mut, das lag auch daran, dass Hitler vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an seine Gegner systematisch verhaften, verschleppen und ermorden ließ, in die Flucht trieb oder im Krieg verheizte. Sie waren gar nicht mehr in der Lage, wirksam Widerstand zu leisten. So blieben nur noch wenige, die trotz aller Widrigkeiten und unter Lebensgefahr von der Existenz eines anderen Deutschlands künden konnten, aber es waren doch so viele, dass sie als Ganzes sichtbar hervortreten und man heute über sie sagen kann: Ihr Einsatz hat sich gelohnt. Ihre Handlungen waren nicht sinnlos. Sie haben uns Deutschen nach dem Krieg die Rückkehr in die Welt ermöglicht. Ihr Opfer war nicht umsonst.