5.

KINDER DES LICHTS
UND DIE
FALLEN DES TEUFELS

Die stillen Jahre in Nazaret waren eines Tages vorbei. Jesus hatte im Kreise seiner Familie gelebt und sein Handwerk ausgeübt. Vermutlich ist sein Vater Josef früh verstorben und Jesus musste sich als der Erstgeborene um seine Mutter und die Geschwister kümmern. Die Jahre in Nazaret waren auch eine Zeit der Sammlung, in denen sich Jesus seiner Sendung immer mehr bewusst geworden ist. In den Evangelien deuten einige Stellen darauf hin, dass sich Jesus von seiner Mutter und seinen Geschwistern entfremdet hat. Sein Verhalten und seine Gedanken wurden von den Familienmitgliedern als sonderbar, wenn nicht gar als verrückt empfunden.

Mit wenig Verständnis oder sogar mit großer Aufregung dürften seine Angehörigen und Verwandten auf seinen Entschluss reagiert haben, aus Nazaret wegzugehen. Ein Auslöser sind Gerüchte von einem heiligen Mann namens Johannes, die bis nach Nazaret gedrungen sind. Jesus verlässt sein Heimatdorf und macht sich auf den Weg an den Unterlauf des Jordans. Er ist etwa dreißig Jahre alt.

Viele Theologen gehen davon aus, dass Jesus lange Zeit ein Schüler des Johannes war. Ob sie sich schon seit Längerem kannten oder sich bei der Taufe Jesus’ das erste Mal sahen, ist eine Frage, die sich nicht mehr mit letzter Sicherheit klären lässt. Fest steht jedenfalls, dass sich Jesus irgendwann von Johannes trennte und eigene Wege ging. Inwieweit aber war Johannes ein Vorläufer und Jesus sein Nachfolger? Führte Jesus weiter, was Johannes angefangen hat? Kam mit Jesus das große Gericht, mit dem Johannes immer gedroht hatte, näher? Erfüllten sich die Hoffnungen strenggläubiger Kreise nach einem Messias, der die Guten und Gerechten in einen letzten Kampf gegen die Feinde Israels und die Ungläubigen führt und ein Gottesreich errichtet? Oder fing mit Jesus etwas ganz Neues an?

An einem Sommertag im Jahr 1947 suchte der junge Beduine Mohammed ad Dib im Wüstengebirge Juda südlich von Jericho nach einer Ziege, die sich verirrt hatte. An den Steilhängen am Nordufer des Toten Meeres stieß er auf eine Höhle, die er bisher noch nie bemerkt hatte. Zusammen mit einem Freund durchsuchte er die Höhle und sie fanden Tonkrüge, die mit Deckeln verschlossen waren. Die beiden Jugendlichen glaubten schon, einen Goldschatz entdeckt zu haben. Zu ihrer Enttäuschung waren fast alle Krüge leer, nur einer enthielt mehrere Lederrollen. Die Beduinen verkauften ihren Fund an einen syrischen Antiquitätenhändler. Erst auf abenteuerlichen Umwegen gelangten die Schriftrollen in die Hände von Wissenschaftlern, die sofort erkannten, dass es sich hier um eine sensationelle Entdeckung handelte.

Was die beiden Ziegenhirten gefunden hatten, waren über zweitausend Jahre alte Handschriften des Alten Testaments sowie die Lebensregeln einer jüdischen Glaubensgemeinschaft, darunter auch eine Schriftrolle, die vom »Krieg der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis« handelt.46 Wer die Rollen hier versteckt hatte und wer die »Söhne des Lichtes« waren, das ergaben Ausgrabungen nur wenige Jahre später. Nicht einmal einen Kilometer entfernt vom Fundort der Schriftrollen entdeckten Forscher die Reste einer Ansiedlung, die als Ruinen von Qumran bekannt waren. In dieser klosterähnlichen Anlage gab es alles, was man zu einem unabhängigen Leben brauchte: Küchen, Werkstätten, Zisternen, Vorratsräume und Schreibstuben, in denen Krüge wie die in den Höhlen gefunden wurden. Vieles spricht dafür, dass dieses Qumran das Zentrum der Glaubensgemeinschaft der Essener war, das zu Lebzeiten Jesu eine Blütezeit erlebte.

Diese Essener waren eine Sekte, die sich ganz bewusst vom normalen Volk und auch vom Tempelkult in Jerusalem absetzen wollte. Ihrer Überzeugung nach hatten sich die Juden von einem gottgewollten Leben entfernt. In der Einsamkeit der Wüste wollten die Essener, die sich auch »Erwählte Gottes« oder »Söhne des Lichtes« nannten, frommer, gerechter und heiliger leben als die Masse der Menschen.47 Wer in diese auserwählte Gemeinde aufgenommen werden wollte, musste seine Familie und sein früheres Leben hinter sich lassen und eine jahrelange Probezeit bestehen. Erst dann wurde er ein vollwertiges Mitglied der heiligen Bruderschaft. Er war verpflichtet, sein Vermögen an die Gemeinschaft abzutreten, sich den strikten Ordensregeln zu unterwerfen und zu schwören, nichts über die Gemeinde an Außenstehende zu verraten. Wer gegen die Regeln verstieß, der musste mit drastischen Strafen rechnen. Schlimmstenfalls wurde er aus dem Orden ausgestoßen. Da er aber auch dann noch an seinen Eid gebunden war, durfte er von Fremden keine Nahrung annehmen, was meistens einem Todesurteil gleichkam.

Mit dem Eid, den jedes neue Mitglied der Bewegung ablegen musste, verpflichtete es sich auch, wie es in den Ordensregeln heißt, »alle Söhne des Lichtes zu lieben […] und alle Söhne der Finsternis zu hassen«. Damit verbunden war der Glaube, dass das Ende der Zeit nahe bevorstehe und es bald zu einem heiligen Krieg kommen werde, bei dem die Kinder des Lichtes mithilfe von Engeln die Kinder der Finsternis, auf deren Seite der Teufel kämpft, besiegen.48

Keine zwanzig Kilometer entfernt von Qumran lag die Stelle am Jordan, wo Johannes der Täufer wirkte. Johannes hat vermutlich die Leute von Qumran gekannt oder zumindest von ihnen gehört. Man hat sogar gemutmaßt, ob nicht Johannes als Kind in der Gemeinschaft von Qumran erzogen worden ist. Als Beleg für diese Vermutung führte man an, dass auch die Ansichten des Johannes so radikal waren wie die der Essener. Wie sie drohte er mit einem baldigen Gericht und er verlangte von den Menschen eine Umkehr ohne Wenn und Aber. »Ihr Schlangenbrut«, so fährt er im Matthäusevangelium die Schriftgelehrten und Priester an, »wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt?« (Mt 3,7)

Anders als die Leute von Qumran aber war Johannes ein Einzelgänger und seine Botschaft richtete sich auch an jeden Einzelnen. Zornig reagierte er, wenn Menschen zu ihm kamen und meinten, sie führten ein gottgefälliges Leben, nur weil sie einer Gruppe angehörten oder sich zu einer Tradition bekannten. Und schon gar nicht konnte er es ertragen, wenn Leute religiöse Floskeln von sich gaben und sich darum für fromm hielten. Das alles waren für Johannes Ausflüchte, um sich moralisch selbst zu beruhigen und sich hinter einem Kollektiv zu verstecken. Vor Gott aber zählte für Johannes immer nur der Einzelne. Seine Entscheidungen, sein persönliches Leben musste er vor Gott verantworten, und die Frage, welchem Volk er angehörte oder welcher sozialen oder religiösen Gruppe, das war hier völlig belanglos. Schlimmer als von Menschen abgelehnt zu werden, war für Johannes, von Gott entfremdet zu sein und vor ihm seine Schuld bekennen zu müssen. Vor Gott muss man sich fürchten, nicht vor den Menschen.

Es ist jedoch diese Furcht, die Johannes den Täufer wiederum mit den Aussteigern aus Qumran verbindet. Wie diese malt Johannes das Schreckgespenst eines baldigen Endes und eines Letzten Gerichts an die Wand. Wer sein Leben nicht sofort von Grund auf ändert, wer nicht rückhaltlos seine Sünden bekennt und Buße tut, der wird von Gott gnadenlos gerichtet werden. Der Gott, den Johannes mit seinen drastischen Worten heraufbeschwört, ist ein strenger und unerbittlicher Richter. Und die Notwendigkeit, sich zu ändern und umzukehren, soll unter dem Druck der Angst geschehen. Kann man aber mit Angst Menschen ändern?

Johannes scheint es geglaubt zu haben. Und unausgesprochen war damit auch der Glaube verbunden, dass Menschen sich zum Besseren ändern können, wenn sie nur wollen. Dass dieser Glaube an der menschlichen Wirklichkeit vorbeigeht, das hätte Johannes schon zu seiner Zeit beobachten können, und auch in den Jahrhunderten nach ihm hat es sich immer wieder bewahrheitet. Der Dichter Fjodor Dostojewski hat in seinen Romanen Personen geschildert, von denen man sich gut vorstellen kann, dass auch sie schuldbeladen an den Jordan zu Johannes gekommen wären. Es sind Menschen vom Rand der Gesellschaft: Verbrecher, Huren, Versager, Gescheiterte. Bei den Figuren Dostojewskis allerdings hätte Johannes auch mit noch so donnernden Bußpredigten nichts ausrichten können. Alle Vorwürfe und gut gemeinten Ratschläge wären umsonst gewesen. Sie sind in ihrem Unglück nämlich resistent gegen jede moralische Hilfe.

Der Titularrat Marmeladow in Schuld und Sühne beispielsweise ist ein heilloser Trinker.49 Er lässt es zu, dass seine Familie im Elend lebt, und zwingt sogar seine Tochter, als Prostituierte zu arbeiten. Marmeladow weiß, wie schäbig er sich benimmt und dass er allein schuld ist an seinem verpfuschten Leben. Aber er ändert sich nicht. Kaum hat er ein wenig Geld in der Hand, versäuft er es wieder. Alle Appelle an seine Ehre und Selbstachtung nützen nichts. Als er wieder einmal betrunken ist, träumt er von einem Reich Gottes, in das nicht nur die »Guten und Gerechten« aufgenommen werden, sondern auch die »Huren, die Trinker, die Sünder«. Und sie werden von Gott angenommen, weil auch sie »würdig« sind. Was sich Marmeladow erhofft, ist Vertrauen. Vorwürfe, Anklagen und Moralpredigten helfen ihm nicht nur nicht, sie sind sinnlos und bewirken nur das Gegenteil.

Dostojewski zeigt in seinen Büchern die Kluft zwischen dem, was Menschen sein sollen und sein wollen, und dem, was sie wirklich sind und tun, die Kluft mithin zwischen ethischen Forderungen und der Realität. Diese Kluft wird besonders deutlich in Zeiten, in denen die hochgehaltenen Werte einer Gesellschaft nichts mehr wert sind und die Menschen mit Waffen übereinander herfallen. Es war während der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, als der Dichter Hermann Hesse seinen Glauben an die Moral und an die Vernunft endgültig verloren hat. Die Aufrufe der Politiker und die gut gemeinten Appelle der Pazifisten waren für Hesse völlig realitätsfremd. Für ihn entspringen die Handlungen eines Menschen nur zu einem kleinen Teil vernünftigen Überlegungen.50 Jemand könne völlig von der Unsinnigkeit seines Handelns überzeugt sein und es doch aus vollem Herzen tun. Verbote und Belehrungen helfen da wenig. Nach Hermann Hesse kommt es darauf an, tiefere Schichten in einem Menschen zu erreichen. Und das vermag nur eine Haltung, die über Vernunft und Moral hinausgeht.

Jesus folgt Johannes nach auch in dem Sinne, dass er ihn hinter sich lässt. Mit ihm kommt etwas Neues. Was dieses Neue ist, das zeigt sich bei Jesus’ Taufe im Jordan, wie es in den Evangelien von Matthäus und Lukas erzählt wird.

Nachdem Johannes Jesus getauft hat, öffnet sich der Himmel und eine Stimme ist zu hören, die sagt: »Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe.« (Mt 3,17) Diese Worte stehen wie ein Motto über dem zukünftigen Lebensweg von Jesus. Sie bekräftigen nochmals die Erfahrung, die der zwölfjährige Junge im Tempel gemacht hat: dass er von einer Kraft getragen wird, die ihm eine Sicherheit gibt, wie sie ihm keine weltliche Bindung geben kann. Und diese Kraft ist keine anonyme, unpersönliche Macht, sie ist wie ein Vater, der sich liebevoll seinem Sohn zuwendet. Jesus nennt Gott ganz unbefangen seinen Vater, er redet ihn sogar liebevoll mit »Abba« an. Niemand im Tempel zu Jerusalem oder in einer Synagoge würde es wagen, Gott so anzusprechen. »Abba« ist wie ein Kosename und bedeutet so viel wie »lieber Vater« oder »Papa«.

Dieser Vater ist für Jesus kein zorniger, strafender Gott, vor dem man Angst haben muss. Der väterliche Gott meint es gut mit den Menschen, er ist ein zutiefst menschenfreundlicher Gott. Zuallererst muss ein Mensch von diesem Vertrauen erfüllt sein, erst dann ist er zu guten Taten fähig. Nicht aus Angst vor einem Gericht oder einer Strafe wird Jesus leben, sondern aus einem unzerstörbaren Vertrauen. Und nur weil er dieses Vertrauen empfangen hat, kann er es auch an andere weitergeben.

Bevor er es aber an andere weitergeben kann, begibt sich Jesus in die Wüste. Warum geht er nicht gleich zu den Menschen? Warum muss er erst diesen Umweg machen? Auch Mose und der Prophet Elia gingen in die Wüste, nachdem sie eine Begegnung mit Gott hatten. Ebenso zog sich der Apostel Paulus nach seinem Damaskus-Erlebnis, als Gott ihm in einem grellen Licht erschien und zu ihm redete, in die Wüste zurück. Für ihn, der sich für ein »zerbrechliches Gefäß« hielt, war diese Begegnung fast zu viel, und er musste dieses überwältigende Erlebnis zunächst für sich verkraften.

Ähnlich ist es mit Jesus. In den stillen Tagen in Nazaret hat sich etwas in ihm vorbereitet, das bei der Taufe am Jordan nun gewaltsam zum Durchbruch gekommen ist. Für Joseph Ratzinger, der als Benedikt XVI. ein Jesus-Buch geschrieben hat, ist die Taufe Jesu »so etwas wie eine formelle Einsetzung in sein Amt«.51 Und so, wie man in ein übertragenes Amt erst hineinwachsen muss, so muss sich auch Jesus seinen Auftrag erst aneignen. Dem Empfangen folgt die Verarbeitung. Der großen Zusage »von oben« folgt die persönliche Klärung, der Weg ins Innere. Das ist fast wie ein notwendiger Vorgang. Und so sprechen die Evangelisten auch nicht davon, dass Jesus aus eigenem Bedürfnis in die Wüste ging, sondern es war der »Geist Gottes« (Mk 1,12), der ihn in die Wüste trieb.

Heute werden Touristen und Pilger mithilfe der Technik zu jenem Ort gebracht, wo Jesus vierzig Tage lang gefastet haben soll. Eine Seilbahn bringt sie hinauf zu dem griechisch-orthodoxen Kloster, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts in den steilen Felshang der judäischen Wüste gebaut worden ist. Ehrfurchtsvoll zeigen die Mönche den Besuchern den Stein, auf dem Jesus gesessen haben soll.

Jesus würde heute wohl diesen Stein meiden, denn er suchte ja die Einsamkeit, die menschenleere Wüste. Und selbst die karge Steinlandschaft der Wüste Judäas war ihm nicht einsam genug. Denn was er suchte, war ein Ort, wo keine fremden Stimmen und Urteile zu ihm drangen, wo er mit sich allein war, wo er sich selbst begegnen konnte. In dieser Versenkung begegnete er noch jemand anderem, einer Gestalt, die man nur in dieser anderen »Wüste« antrifft – dem Teufel. Es ist der Teufel, der Jesus in Versuchung führt. Aber was heißt das?

Die Leute von Qumran haben sich abgeschottet von einer Welt, in der für sie der Fürst der Finsternis herrschte. In ihrem kleinen, heiligen Kreis glaubten sie sich frei von Unreinheit und Sünde. Und der Gefahr, von den Verfehlungen der Ungläubigen angesteckt zu werden, begegneten sie mit dem Schutzschild ihrer strengen Rituale und Vorschriften. Ihre Gemeinschaft hielten sie für rein, die Welt draußen lehnten sie ab, weil sie sie für »verteufelt« hielten.

Jesus hält alles Böse und Teuflische nicht von sich fern. Das »Kampffeld«, auf dem Gott und der Teufel miteinander ringen, so heißt es in einem Roman von Dostojewski, »sind die Herzen der Menschen«.52 Jesus lässt das Böse an sich heran, um zu erproben, ob er diesen Verführungen standhält oder nicht. Nur wenn er diese Probe besteht, kann er sicher sein, dass das Vertrauen, das er empfangen hat, auch trägt. Und nur wenn er diesen Verführungen widerstehen kann, kann er das auch von anderen verlangen. Ansonsten wäre Jesus ein Blender, der Verständnis nur heuchelt und von Menschen etwas erwartet, was er selbst nicht zu leisten imstande ist. Hier zeigt sich Jesus wieder als »wahrer Mensch«, seine tiefe Verbundenheit mit den Menschen, wie sie auch im Hebräer-Brief beschrieben wird: »Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat.« (Hebr 4,15)

Diese Versuchungen, das sind auch die inneren Stimmen des Zweifels und der Unsicherheit. Der Teufel in den Erzählungen der Bibel will Jesus zu etwas verlocken, was dieser nicht ist. Und er stellt sich dabei sehr geschickt an. Er ist ein Realist, dazu noch ein gebildeter, der aus der Bibel zitieren kann. Was er sagt, hat Hand und Fuß. Und denkt man sich an die Stelle von Jesus, so ist man leicht versucht zu sagen: Warum eigentlich nicht? Indem Jesus diese Angebote abwehrt, macht er deutlich, wer er ist und was er will. Aber wer ist er eigentlich? Was hat er gebracht? Hat er die Welt verändert? Und wenn ja, wie?

Der erste Vorschlag, den der Teufel Jesus macht, ist es, Steine in Brot zu verwandeln. (Mt 4,1-11, Lk 4,1-13) Jesus hat vierzig Tage und Nächte gefastet, da ist es nur natürlich, dass er Hunger hat. Und aus einem Stein einen Laib Brot zu machen, das wäre für den Gottessohn ein Leichtes. Aber der Plan des Teufels geht über Jesus’ privates Bedürfnis hinaus. Was er beabsichtigt, ist, dass Jesus sich als Wohltäter zeigt. Er soll alle Menschen mit Brot versorgen, dann würde ihm das Volk zujubeln. Mehr noch: Wenn erst der Hunger in der Welt abgeschafft ist, dann wäre das soziale Problem gelöst und alle Welt würde Jesus als Retter feiern. Die Menschen wollen erst satt werden, dann kannst du ihnen mit Tugend und Freiheit kommen – das ist das Rezept, das der Teufel empfiehlt.

Jesus weigert sich. Und er tut das mit der Begründung, dass der Mensch nicht allein von Brot lebe. In der Tat haben wir heute die technischen Möglichkeiten, die ganze Weltbevölkerung zu ernähren. Trotzdem gibt es in einigen Teilen der Welt eine Überproduktion, während in Ländern vor allem auf der Südhalbkugel Millionen von Menschen verhungern. Obwohl »Brot«, also Nahrungsmittel in Hülle und Fülle vorhanden wäre, bleiben Ungerechtigkeit und Hunger bestehen. Es muss also noch andere Gründe haben, warum Menschen weiter hungern und warum das soziale Problem nicht endgültig gelöst werden kann. Diese tieferen Gründe haben damit zu tun, dass sich Menschen immer wieder als unfähig erweisen, Güter gerecht zu teilen und Mitmenschlichkeit über wirtschaftlichen Nutzen und eigene Vorteile zu stellen. Diese Unfähigkeit hat Jesus im Blick. Um sie geht es ihm. Jesus wird Hungernden Brot geben. Aber er wird durch sein eigenes Handeln darauf aufmerksam machen, dass es nicht reicht, Menschen materiell zu versorgen. Was er erreichen will, ist Menschen zu heilen, und das ist mehr, als ihnen Brot zu geben. Er will kein Wohltäter sein, kein sozialer Reformer, kein politischer Messias, kein Brotmessias.53 Was dann?

Die zweite Versuchung des Teufels klingt noch vernünftiger und damit verlockender. Um einen sichtbaren Beweis dafür zu geben, dass er Gottes Sohn ist, soll Jesus von der Zinne des Tempels in Jerusalem herabspringen. Passieren könne ihm nichts, denn schon in der Bibel stehe, dass Engel im Notfall herbeieilen und ihn vor jedem Schaden bewahren würden.54 Ein Risiko gehe er also nicht ein und der Erfolg sei garantiert. Alle Zweifel und Fragen wären dann hinfällig: Sowohl den einfachen Leuten wie auch den Schriftgelehrten bliebe gar nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass nur der Messias ein solches Wunder vollbringen kann.

Jesus sagt wieder Nein. An dieser Art von Wunder liegt ihm nichts. Ein Messias, wie er einer sein will, kann sich nicht mit spektakulären Zirkusnummern beweisen. Ein Messias, wie er einer sein will, drängt sich nicht auf, sondern bietet sich an. Er will die Menschen im Zweifel über sich lassen. Sie müssen die Wahl haben, an ihn zu glauben oder nicht. Sie sollen ihm freiwillig folgen, nicht erzwungen durch eindeutige Beweise oder Wunder. Jesus will kein Zauberer sein, er will kein Magier-Messias sein.

Der Teufel versucht es ein letztes Mal. Und er fährt schweres Geschütz auf. Er führt Jesus auf einen Berg und zeigt ihm alle Reiche dieser Welt, und die Vision, die er Jesus vor Augen führt, ist wirklich überwältigend. Jesus soll der Herrscher über all diese Länder werden. Der Teufel kennt die Menschen, und er weiß, dass sie von dem Bedürfnis beherrscht werden, andere Menschen zu unterwerfen, bis die Welt eine einzige Gemeinschaft ist, ein großes und einheitliches Reich.

Jesus könnte diese Utopie Wirklichkeit werden lassen. Er könnte das geistige Oberhaupt und der politische Führer sein. Er gäbe den Menschen Brot und er würde bestimmen, was gut und böse ist und an was die Menschen glauben sollen. Alle Länder und Völker wären vereint zu einem Weltreich, das nach einem Willen regiert wird. Vorher müsste freilich ein Krieg gegen die Widerspenstigen und Ungläubigen geführt werden. Jesus stünde dann an der Spitze eines Heeres, einer Armee der »Kinder des Lichtes«, wie es sich die Qumran-Leute vorstellen. Wäre diese Schlacht erst gewonnen, dann würde eine Welt erstehen voll Glück und Frieden.

Jesus weist auch dieses Angebot zurück. Darauf einzugehen, würde bedeuten, seine Seele an den Teufel zu verkaufen. Denn nichts ist ihm wichtiger als die Freiheit der Menschen und ihr Recht, über sich selbst zu bestimmen. Ein großes Weltreich wäre nichts anderes als eine religiöse und politische Diktatur. Und Jesus will kein Diktator sein. Er will, dass die Veränderung der Welt durch die Veränderung des Einzelnen geschieht.

Fjodor Dostojewski hat diese Geschichte von Jesus und dem Teufel weitergesponnen, in der Erzählung vom Großinquisitor.55 Darin kommt Jesus noch einmal auf die Welt, im sechzehnten Jahrhundert in der südspanischen Stadt Sevilla, zu einer Zeit, als die heilige Inquisition Tausende von Ketzern verbrennen ließ. Jesus wird von den Menschen sofort erkannt. Er heilt einen blinden Mann und erweckt ein totes Mädchen zum Leben. Als der greise Kardinal und Großinquisitor das sieht, lässt er Jesus sofort ergreifen und in den Kerker werfen.

In der Nacht besucht der Kirchenmann den Gefangenen und will ihm klarmachen, warum Jesus stört und wieder verschwinden muss. Jesus habe nämlich immer nur die Freiheit der Menschen gewollt, auch die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Damit aber habe er die Menschen, die von Natur aus schwach und ängstlich sind, maßlos überfordert. Als damals Jesus in der Wüste vom Teufel versucht worden ist, habe der Teufel die Menschen besser gekannt, und seine Vorschläge seien das einzige Rezept, die Menschen glücklich zu machen.

Für die Menschen, so erklärt es der Großinquisitor, ist es nämlich eine Qual, frei zu sein. Sie werden immer bereit sein, lieber Brot als die Freiheit zu wählen. Und sie werden sich immer jenen unterwerfen, die ihnen ihre Freiheit abnehmen und ihnen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben und was gut und böse ist. Darum haben Menschen wie der Großinquisitor, die das Erbe Jesu verwalten, den Menschen im Namen Jesu diese unerträgliche Verantwortung, die Jesus verlangte, abgenommen und ihnen zu einem zwar unfreien, aber glücklichen und zufriedenen Leben verholfen. Nach Überzeugung des Großinquisitors hat der Teufel die Menschen besser verstanden und mehr geliebt als Jesus. Denn er wusste, dass Jesus die Menschen überfordert, und sie nichts mehr wünschen, als von der Freiheit, die Jesus ihnen geben will, befreit zu werden, um ein gesichertes Leben in materieller Sicherheit und ohne dauernde Gewissensqualen zu führen.

In Dostojewskis Geschichte schweigt Jesus die ganze Zeit über. Als der Großinquisitor mit seiner langen Rede zu Ende ist, will er, dass Jesus etwas erwidert. Aber der tritt nur auf den alten Mann zu und küsst ihn, wie es heißt, auf die »blutleeren neunzigjährigen Lippen«. Der Greis fährt zusammen und seine Mundwinkel zucken. Dann öffnet er Jesus die Tür des Kerkers und fordert ihn auf, zu gehen und niemals wiederzukommen.

Auch in der biblischen Geschichte ist der Teufel in der Wüste mit seinem Latein am Ende. Er lässt Jesus in Ruhe – vorläufig jedenfalls. Nach der Begegnung mit dem Teufel hat Jesus Johannes hinter sich gelassen und mit ihm auch den Geist der Sekte von Qumran. Im Unterschied zu Johannes bleibt er nicht in der Wüste und wartet, dass die Menschen zu ihm kommen. Vielmehr geht er zu den Menschen und durchwandert dabei die Dörfer und Landstriche. Aber als was tritt er auf? Er ist kein sozialer Reformer, kein Wunderrabbi, kein politischer Messias. Was aber dann? Und was ist seine Botschaft?