11.

AUF DEM WEG NACH EMMAUS

Jesus von Nazaret war ungefähr dreiunddreißig Jahre alt, als er hingerichtet wurde. Kein anderer Religionsstifter ist so jung gestorben, und kein anderer hat nur so kurze Zeit in der Öffentlichkeit gewirkt. Der Theologe Romano Guardini war der Meinung, dass dieser frühe Tod nicht hätte sein müssen, und er stellte sich einen Jesus vor, »der nicht dreiunddreißig, sondern fünfzig, achtzig, hundert Jahre alt geworden wäre«.104 Was hätte, so stellt Guardini bedauernd fest, ein Jesus als alter Mann oder Greis nicht noch alles sagen und bewirken können!

Jesus selbst hat allerdings keinen Wert darauf gelegt, alt zu werden. Im Gegenteil, er hat davor gewarnt, sich zu viel von der Zukunft zu erhoffen und darüber das Hier und Jetzt zu vergessen. In einem Gleichnis (Lk 12, 16-20) erzählte er von einem reichen Mann, der große Pläne hat. Er will riesige Scheunen bauen, um auf Jahre hinweg Vorräte zu haben und dann sein Leben in vollen Zügen genießen zu können. Aber er ist ein Narr, denn noch in der gleichen Nacht stirbt er und seine Träume von einem glücklichen Leben sind nichtig. Er hat zwar seine Zukunft abgesichert, aber vor Gott, so heißt es, ist sein Leben »nicht reich«.

Wichtiger, als lange zu leben, so will Jesus mit dieser Geschichte auch sagen, ist es, »richtig« zu leben. Er stellt damit eine Forderung auf, die auch der römische Philosoph Seneca, der zur gleichen Zeit wie Jesus lebte, aber viel älter wurde als dieser, erhoben hat. Weiße Haare, Falten und Runzeln sind für Seneca noch lange kein Beweis dafür, dass ein Mensch lange gelebt hat. Man könne höchstens sagen, so Seneca, dass so jemand »lange da gewesen« sei. Leben bedeutet für ihn etwas anderes. Und was Seneca über die verzweifelten Versuche der Menschen schreibt, ihr Leben zu verlängern, das passt auch noch in eine Zeit, in der dank des medizinischen Fortschritts die Menschen immer älter werden: »Nun, so sieh zu, auf wie lange Lebenszeit ihre Wünsche gerichtet sind. Hinfällige Greise betteln mit Gelübden um einen Zusatz von wenigen Jahren; sie stellen sich selbst als jünger hin, schmeicheln sich selbst mit der Lüge und betrügen sich selbst mit so freudigem Eifer, als ob sie damit zugleich auch dem Schicksal ein Schnippchen schlügen. Und wenn irgendwelcher Schwächeanfall sie an ihre Sterblichkeit mahnt, wie zittern sie da vor dem Tode, nicht als träten sie aus dem Leben aus, sondern als würden sie mit Gewalt daraus entfernt. Toren seien sie gewesen, die kein wirkliches Leben geführt hätten – so jammern sie –, und wenn sie diese Krankheit überständen, dann wollten sie in Muße leben; dann werden sie sich klar darüber, dass sie sich blindlings mit Dingen abgegeben haben, die ihnen keinen Nutzen bringen, und dass ihr ganzes Tun und Treiben ein nichtiges war.«105

In dem Wunsch nach einem möglichst langen Leben und danach, möglichst lange jung zu bleiben, steckt die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Aber wenn die Menschen unsterblich wären, dann gäbe es keinen Grund, das Leben besonders ernst zu nehmen, es bliebe ja unbegrenzt viel Zeit, etwas zu ändern. Erst der Tod macht das Leben endlich und damit wertvoll. Erst der Tod erzieht dazu, das Leben ernst zu nehmen. Und schrecklich ist der Tod nur dann, wenn er einem Leben ein Ende setzt, mit dem man unzufrieden ist, das man schlimmstenfalls für misslungen, verpfuscht, vertan hält.

Der Tod setzt das Leben sozusagen unter Druck. Und dieser Druck führt bei vielen Menschen zu der Angst, etwas zu versäumen oder ihre Tage nicht genügend auszufüllen. Und so stürzen sie sich in immer neue Unternehmungen, sie häufen Ämter an, machen unentwegt Reisen, fliehen vor Stille und Stillstand. Für Seneca ist das eine leere Getriebenheit. Richtiges Leben bedeutet für ihn, sorgsam mit der Zeit umzugehen, sich unabhängig zu machen von anderen Menschen und sich mit den wirklich wichtigen Fragen zu beschäftigen.

Auch Jesus hat die Frage nach dem »richtigen« Leben gestellt, besonders wenn er vom »Reich Gottes« geredet hat. Aber anders als der Philosoph Seneca sah er die Lösung nicht darin, sich selbst zu erziehen und souverän und unabhängig zu werden. Für Jesus ist ein gelungenes Leben nur möglich, wenn Menschen auf einen liebenden Gottvater vertrauen, der nicht von dieser Welt ist. Jesus hat dieses Urvertrauen gelebt und ist so der »wahre Mensch« geworden, der »glücklichste Mensch«, wie Dorothee Sölle sagte, oder »der liebevollste Mensch«, der je gelebt habe, wie ihn der dänische Philosoph Sören Kierkegaard genannt hat.106

Aber wieso musste der glücklichste, liebevollste Mensch sterben? Und wieso war dieses Ende notwendig? Jesus’ Tod war schließlich kein Zufall. Er kam auch nicht bei einem Unfall ums Leben und starb auch nicht an einem Schlaganfall. Er hat diesen gewaltsamen Tod vorausgesehen und ihn bewusst in Kauf genommen. Und jeden, der ihn davon abzubringen versuchte, hat er empört zurückgewiesen. Aber warum musste die Erlösung, die Jesus versprochen hat, mit Leid und Tod verbunden sein? Und was hat es zu bedeuten, dass Jesus immer wieder davon sprach, dass er auferstehen werde und dass er »nach Galiläa« vorausgehen und dort seine Jünger wiedersehen werde? (Mk 16, 7)

Die Jünger haben das alles nicht verstanden. Für sie war mit der Kreuzigung ihres Herrn alles aus. Sie versteckten sich ängstlich in Jerusalem oder kehrten zurück nach Galiläa in ihre Dörfer und nahmen ihre alte Arbeit wieder auf. Damit war die Geschichte mit Jesus aber nicht zu Ende. Allmählich begannen sie, die Worte Jesu zu verstehen und was es mit seinem Tod auf sich hatte. Dieses Verstehen war ein langer Weg. Der Evangelist Lukas hat diesen Prozess geschildert wie einen langen Fußweg, den die Freunde Jesu zu gehen hatten.

In dieser Geschichte (Lk 24, 13-35) sind es zwei Jünger, die drei Tage nach dem Tod ihres Meisters von Jerusalem in das Dorf Emmaus gehen, was ungefähr eine Strecke von elf Kilometern ist. Die zwei Männer – einer von ihnen heißt Kleopas, der Name des anderen wird nicht genannt – sind ganz vertieft ins Gespräch über alles, was sich in den letzten Tagen ereignet hat, als ein Fremder zu ihnen stößt und sich ihnen anschließt. Es ist Jesus, aber die beiden Wanderer erkennen ihn nicht. Der Fremde fragt die beiden, worüber sie reden. Kleopas kann es nicht fassen, dass jemand nicht mitbekommen hat, was in Jerusalem passiert ist. Und er erzählt von Jesus von Nazaret, dem »Propheten«, den die Hohepriester und Führer des jüdischen Volkes zum Tode verurteilt haben und der ans Kreuz geschlagen worden ist.

Kleopas und sein Freund sind tieftraurig über diesen Tod, denn sie hatten gehofft, dass dieser Jesus Israel erlösen werde. Der tote Jesus wurde in ein Grab gelegt, aber nach dem Begräbnis haben sich laut Kleopas merkwürdige Dinge zugetragen. Zwei Frauen seien in den frühen Morgenstunden zum Grab gegangen, aber sie hätten den Leichnam nicht vorgefunden. Den Jüngern erzählten sie dann, dass ihnen Engel erschienen seien, die gesagt hätten, dass Jesus lebe. Daraufhin seien einige der Jünger zum Grab gegangen und hätten es ebenfalls leer vorgefunden.

Der Fremde hat aufmerksam zugehört, und seine Unruhe darüber, wie verständnislos die beiden Jünger über die Ereignisse reden, wurde immer größer. »Begreift ihr denn nicht?«, fährt er nun aufgeregt dazwischen. Und er fängt an, ihnen zu erklären, dass das Schicksal des Messias schon in den alten Schriften vorausgesagt war und warum er all das erleiden musste. Die lange Rede des Fremden hat keine große Wirkung. Den beiden Jüngern geht bei den Worten des Fremden das Herz auf, aber sie kapieren immer noch nichts.

Inzwischen sind die drei Wanderer im Dorf Emmaus angekommen. Der Fremde macht Anstalten, alleine weiterzugehen. Aber er lässt sich von den beiden Freunden überreden, bei ihnen zu bleiben, denn es wird schon Abend. Als sie im Gasthof gemeinsam am Tisch sitzen, spricht der Fremde ein Dankgebet, bricht das Brot und gibt es seinen Begleitern. Da plötzlich geht ihnen ein Licht auf. Sie erkennen Jesus. Aber im gleichen Moment sehen sie ihn nicht mehr.

Noch am selben Abend machen sich die beiden auf den Weg zurück nach Jerusalem. Dort treffen sie die anderen Jünger, die ganz aufgeregt sind und erzählen, dass der Herr auferstanden ist und dem Simon Petrus erschienen sei. Kleopas und sein Freund erzählen daraufhin, was sie erlebt haben, dass sie Jesus begegnet seien und ihn erkannt hätten, als er das Brot gebrochen habe.

Diese Geschichte erzählt der Evangelist Lukas, um begreiflich zu machen, welchen Weg die Jünger Jesu zurücklegen mussten und welchen Weg wir heute noch gehen müssen, um Jesus als einem Lebenden und Gegenwärtigen zu begegnen. Ausgangspunkt ist dabei die Situation nach dem Tod Jesu. Eine Situation, wie sie seine Anhänger vor zweitausend Jahren hautnah erlebt haben und wie sie seitdem Menschen immer wieder erleben. Eine Situation, für die der Philosoph Friedrich Nietzsche das Schlagwort geprägt hat: »Gott ist tot.«107 Was das heißt, davon geben die Emmaus-Jünger ein eindrückliches Beispiel.

Sie haben gerade die größte Katastrophe ihres Lebens hinter sich. Der Mann, in den sie all ihre Hoffnungen gelegt hatten, der sie so beeindruckt hat, dass sie ihre Familien verlassen und ihre Berufe aufgegeben haben, um ihm zu folgen, der ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben hat – dieser Mann ist von den politischen und religiösen Machthabern wie ein Verbrecher aus dem Weg geräumt worden. Und das Leben geht einfach weiter, so als ob nichts passiert wäre. In Jerusalem wurde das Passahfest gefeiert, von dem blutigen Geschehen auf Golgota nahm kaum einer Notiz, und bald wird keiner mehr wissen, wer dieser Zimmermann aus Nazaret war. Unendlich fern ist nun wieder eine Welt, wie sie Jesus in seinen Predigten versprochen hat. Eine Welt, die den Sanften und Friedfertigen gehören soll und in der man seine Feinde nicht verfolgt oder tötet, sondern liebt.

Nun hat sich doch wieder gezeigt, dass die Welt anders funktioniert. Menschen machen ihre Feinde mundtot oder bringen sie gleich zur Strecke. Die Regeln, die in der Welt gelten, werden bestimmt von den Interessen der politischen und religiösen Führer. Und wer diese Realitäten nicht wahrhaben will, was ist der anderes als ein blauäugiger Idealist, ein wirklichkeitsfremder Träumer?

Die Emmaus-Jünger sind auf dem besten Wege dazu, hoffnungslose Realisten zu werden oder sogar Zyniker. Und sie haben auch allen Grund zu verzweifeln, wenn sie daran denken, wie sich Jesus’ engste Freunde verhalten haben. Petrus hat Jesus verleumdet und die anderen sind wie Angsthasen davongelaufen. Hat sich in diesen Momenten nicht gezeigt, dass sie im Grunde nicht an das geglaubt haben, was Jesus getan und gesagt hat? Aber noch versinken die Jünger nicht in ihrer Depression. Die Erinnerung an Jesus ist noch stark. Auf dem Weg nach Emmaus reden sie über vieles, was sie mit ihm erlebt haben.

Jesus hat sie nicht fallen gelassen. Er geht mit ihnen. Aber merkwürdigerweise erkennen ihn Kleopas und sein Begleiter nicht, obwohl sie doch monatelang oder sogar jahrelang an seiner Seite waren. Wie kommt das? Der Grund dafür wird in der Lukas-Erzählung genannt: Die Jünger haben nämlich keine Erklärung für das, was in Jerusalem passiert ist. Sie erkennen nicht den Sinn der Ereignisse und schon gar nicht den Sinn seines Todes. Und solange sie diesen Sinn nicht verstehen, erkennen sie Jesus nicht.

Kein Wunder, dass Jesus in dieser Geschichte etwas ungehalten ist. Er hat es nicht leicht mit seinen Jüngern. Schon zu seinen Lebzeiten hat er ihnen immer wieder zu erklären versucht, warum er so handelt und warum er in den Tod gehen muss. Und manchmal war es zum Haareraufen, dass sie ihn einfach nicht verstehen wollten. Auch Kleopas und sein Freund hängen immer noch an falschen Vorstellungen. Für einen »Propheten« halten sie ihn, der Israel erlösen werde. Dabei hat er ihnen tausendmal gesagt, dass er als der »Menschensohn« nicht ein Volk retten will, sondern gekommen ist, um sich der einzelnen Menschen anzunehmen, der Ausgestoßenen, der Kranken und Schwachen.

Was Jesus den Emmaus-Jüngern erzählt, ist nichts Neues. Er hat es schon oft gesagt. Die Jünger brauchen sich nur zu erinnern. Diesen Rat haben auch die Frauen bekommen, die nach dem Lukas-Evangelium als Erste zum leeren Grab kamen. Statt des toten Jesus waren da zwei Engel, die ihnen sagten, dass sie den »Lebenden« nicht bei den »Toten« suchen sollten. »Erinnert euch, was er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war«, forderten die Engel sie auf. (Lk 24, 6)

Auch die Emmaus-Jünger sollen sich daran erinnern, was Jesus gesagt hat, als sie noch gemeinsam in Galiläa von Dorf zu Dorf wanderten und Jesus Kranke heilte und Menschen »ganz« machte. Hat er nicht gesagt, dass das Weizenkorn in die Erde fallen und sterben muss, damit es Frucht bringt? Hat er nicht gesagt, dass nur einer »gut« ist, nämlich Gott? Hat er nicht gesagt, dass derjenige sein Leben verlieren wird, der es ängstlich zu erhalten sucht? Hat er nicht gesagt, dass Menschen wichtiger sind als Gesetze? Hat er nicht gesagt, dass Gott in jedem Menschen wohnt und der ganze Opferkult mit seiner Geschäftemacherei überflüssig ist? Hat er nicht gesagt, dass jeder Mensch für Gott unendlich wertvoll ist und er sich deshalb sein Leben nicht beschweren soll mit unnötigen Sorgen und Pflichten?108

Wer nach solchen Worten lebt, der macht sich unwillkürlich Feinde. Der zieht den Argwohn und den Hass von Menschen auf sich, die sich ängstlich an ihr Leben klammern, die panisch dem Tod entkommen wollen, die sich bedenkenlos Gesetzen und Autoritäten unterwerfen, die um ihre Karriere und ihren Einfluss fürchten und die den Tod von Menschen in Kauf nehmen, wenn es nur ihren Zwecken dient. Denn nichts ist bedrohlicher für diejenigen, die in Sachzwängen und Ängsten befangen sind, als ein Mensch, der wirklich frei ist, weil er aus einem unerschütterlichen Gottvertrauen lebt.

Es ist ein merkwürdiges Paradox, dass sich Menschen einerseits nach nichts so sehr sehnen wie danach, von ihren Ängsten befreit zu werden, und andererseits den Menschen verfolgen und töten, der ihnen zu einem »richtigen« Leben verhelfen will. Es ist, als fürchteten sie nichts so sehr wie ihre Heilung. Aber wenn Jesus recht hat, dann haben sie unrecht. Dann gäbe es keinen Grund, so weiterzuleben wie bisher, dann müssten sie »umkehren«, also ihr Leben radikal ändern. Jesus hält ihnen den Spiegel vor. An seinem Beispiel wird sichtbar, dass ihr Leben falsch ist. Und das ist ihnen unerträglich. Darum müssen sie ihn töten.

Jesus durfte sich nicht dem entziehen, was an Leiden auf ihn zukam. Er durfte nicht nach Galiläa fliehen und sich dort verstecken. Er durfte sich nicht wehren. Hätte er sich gewehrt, wäre er geflohen, dann wäre er in den Teufelskreis von Angst und Gewalt eingetreten, den er gerade überwinden wollte. Er hätte sich seinen Gegnern gleichgemacht. Jesus ist sich aber bis zum Schluss treu geblieben. Er hat sein Gottvertrauen nicht verloren. Darum war sein Tod ein Sieg. Und wenn wir davon sprechen, dass Jesus »für uns« gestorben ist, dann heißt das nicht, dass ein grausamer Gottvater seinen Sohn geopfert hat und wir zeitlebens ein schlechtes Gewissen haben müssten. Diese Formel will ausdrücken, dass Jesus ein für alle Mal gezeigt hat, dass es auch anders geht, dass ein anderes Leben möglich ist. Er traut es uns zu, dass wir es ihm nachmachen, dass wir ihm nachfolgen können – auch nach seinem Tod.

Kleopas und sein Freund haben dem Fremden aufmerksam zugehört. Sie sind immer noch »blind«, aber ihre Aufmerksamkeit ist geweckt. Sie sind Suchende in dem Sinne, wie sie der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal beschrieben hat, als Menschen, die Gott nicht »erkannt« haben, aber ihn »von ganzem Herzen suchen«.109 Und diese Suche kann nur, wie es im Evangelium heißt, mit »brennendem Herzen« geschehen, mit vernünftigen Argumenten oder wissenschaftlichen Belehrungen kommt man hier nicht weiter. Die Jünger sind so ergriffen, dass sie den Fremden nicht ziehen lassen wollen. Sie wollen nicht allein sein und Gefahr laufen, wieder in ihre dumpfe Trauer zurückzufallen.

Gemeinsam kehren sie ein und sitzen an einem Tisch. Und nun, als der Fremde das Brot bricht, gehen den beiden Jüngern die Augen auf. Sie erkennen, dass der Fremde Jesus ist, und im gleichen Augenblick verschwindet er. Seine körperliche Anwesenheit ist auch nicht mehr nötig. Denn die Jünger haben nun verstanden, was ihnen Jesus sagen wollte. Und dieses Verstehen oder dieser Glaube sind so übermächtig, so ergreifend, so mitreißend, so durchdringend, dass die Jünger wie verwandelt sind und das Gefühl haben, als wäre Jesus da und würde mit ihnen reden.

Die beiden Emmaus-Jünger kehren zurück nach Jerusalem und auch diese Stadt hat sich verwandelt. Der Ort, an dem sie ihre Hoffnungen begraben haben, ist zu einem Ort der Zuversicht, der Zukunft geworden, zu einem Ort nicht der Toten, sondern der Lebenden. Auch die anderen Jünger sind nicht wiederzuerkennen. Sie behaupten, dass der Herr auferstanden sei und Simon Petrus erschienen sei. Vielen anderen wird es noch ähnlich ergehen. Und am Schawuot-Fest, dem späteren Pfingsten, verlassen die vorher so verängstigten und kleinmütigen Jünger die Häuser, in denen sie sich versteckt haben. Sie treten ins Freie, auf Straßen und Plätze, und reden wie entflammt zu anderen Menschen, von denen sie wundersamerweise auch verstanden werden, obwohl diese aus fernen Ländern kommen und andere Sprachen sprechen. (Apg 2, 1-13) Wo Jesus lebt, wo sein Geist weht, da scheint es keine Barrieren mehr zu geben, da entsteht Gemeinschaft wie von selbst.

Viele Jahre später haben sich die Evangelisten daran gemacht, die Geschichte des Jesus von Nazaret aufzuschreiben. Sie haben Leute befragt, Dokumente sichergestellt und Erzählungen gesammelt, die noch von Jesus im Umlauf waren. Als sie auch von den Ereignissen nach dem Tod Jesu berichten wollten, standen sie vor einem großen Problem. Wie sollten sie glaubhaft schildern, was es bedeutet, dass Jesus »auferstanden« ist? Wie sollten sie den auferstandenen Jesus beschreiben? Er ist ja kein Geist oder ein Gespenst, das durch die Luft schwebt und durch Wände geht. Auch kein Zombie, der als lebender Toter herumläuft. Andererseits ist der auferstandene Jesus auch nicht nur eine Einbildung der Jünger, keine Halluzination, die entstanden ist aus ihrem übermächtigen Wunsch, Jesus möchte weiter bei ihnen sein.

Was die Verfasser der Evangelien darstellen wollten, ist ein geistiges Erlebnis, das eben nicht nur subjektiv ist, sondern auch so »wirklich« wie ein Baum oder ein Mensch, den man sieht und den man anfassen kann. Um diese Wirklichkeit glaubhaft zu machen, haben Evangelisten wie Lukas und Johannes den auferstandenen Jesus geschildert wie einen Menschen aus Fleisch und Blut, der aber gleichzeitig wie ein Geist auftauchen und wieder verschwinden kann. Seine Körperlichkeit sollte der Beweis sein für seine Wirklichkeit. In einer Szene bei Johannes isst Jesus vor den Augen der Jünger sogar einen Fisch, um seine Realität zu beweisen, und er fordert den ungläubigen Thomas auf, seine Wundmale zu berühren. Zu solchen drastischen Schilderungen hat Johannes gegriffen, um deutlich zu machen, wie lebendig und anwesend Jesus von jenen Menschen erfahren wurde, denen er erschienen ist. Dass man diese Schilderungen nicht wörtlich nehmen darf, davor schützen die Aussagen von Jesus selbst. Immer hat er es abgelehnt, dass Wunder als Beweise für seine Botschaft gelten sollten. Und auch als Auferstandener hat er jene zurechtgewiesen, für die nur das wirklich ist, was sie mit eigenen Augen sehen und mit ihren Händen anfassen können: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.« (Joh 20, 29)

Alle Zeugnisse im Neuen Testament zeigen, dass Auferstehung an Glauben gebunden ist oder richtiger gesagt, an Bereitschaft und Offenheit, die zu Glauben werden können. Was am Passahfest oder, wie man später sagte, an »Ostern« passiert ist, das kann nicht historisch bewiesen werden, es erschließt sich allein jenen, die sich von Jesus’ Worten berühren lassen. Darum erscheint Jesus auch nicht seinen Gegnern, nicht Pontius Pilatus und auch nicht dem Hohepriester Kaiphas oder einem Tempelpriester. Für sie war das, was Jesus gesagt hat, nur Gotteslästerung oder gefährlicher Unsinn. Nur wer ein »brennendes Herz« hat und wer sich die Augen öffnen lässt, der kann Jesus »sehen« und ihn »erkennen« – so wie es bei den Emmaus-Jüngern der Fall war. Ihr Beispiel zeigt auch, dass Auferstehung nicht Glauben voraussetzt, sondern erst Glauben schafft. Indem sie sich erinnern, was Jesus gesagt hat, wird er wieder lebendig – und im gleichen Moment verschwindet er.

Der Erste, der über die Erscheinungen des auferstandenen Jesus berichtet hat, war der Apostel Paulus. In seinem Brief an die Gemeinde von Korinth, den er ungefähr fünfundzwanzig Jahre nach Jesus’ Tod geschrieben hat, gibt er ein Wissen weiter, das anscheinend schon zum festen Bestand der Jerusalemer Gemeinde gehörte: dass nämlich Christus zuerst Simon Petrus erschienen ist, dann seinen anderen Jüngern und dann noch »fünfhundert Brüdern auf einmal«. Zuletzt, so schreibt Paulus, sei er auch ihm erschienen. (1 Kor 15, 3-8)

Was Paulus meint, ist sein Zusammenbruch vor Damaskus, der sich nur wenige Jahre nach der Hinrichtung Jesu ereignet hat. Als überzeugter Pharisäer und hasserfüllter Feind der Jesus-Bewegung war er unterwegs nach Damaskus gewesen, um eine dahin versprengte Gruppe der Jesus-Leute aufzufinden und unschädlich zu machen. Kurz vor seinem Ziel stürzte er zu Boden. Ein Licht blendete ihn und er hörte eine Stimme. Nach dieser Erscheinung war Paulus nicht mehr derselbe. Aus dem fanatischen Verfolger der »Nazarener« war ein glühender Anhänger des neuen Glaubens geworden. Paulus greift in seinen Briefen zu drastischen Worten, um auszudrücken, wie radikal er sich verändert hat. Sein vorheriges Leben kommt ihm nun vor »wie Dreck« (Phil 3, 8), er fühlt sich wie ein neuer Mensch. Die ganze Wirklichkeit erscheint ihm nun als eine »neue Schöpfung« (Gal 6, 15).

Zentral für diese neue Wirklichkeit ist für Paulus, dass die Menschen, die daran teilhaben, mit Gott versöhnt sind. Verbleiben sie in der alten Wirklichkeit, sind sie das nicht. Sie denken, dass sie vor Gottes Augen nicht bestehen können, dass sie nicht gut genug, nicht schön genug, nicht wichtig genug sind. Darum versuchen sie, auf alle möglichen Weisen, Gott zu gefallen und ihn gnädig zu stimmen, durch Opfer, durch Gottesdienste, durch ein vorbildliches moralisches Verhalten oder gute Taten. Aber all diese frommen Werke und aller religiöser Eifer sind vergeblich, weil sie auf einem Irrtum beruhen, dem Irrtum, dass Gott uns feindlich gegenübersteht, dass er versöhnt werden muss. Er ist längst versöhnt, er war es immer schon.

Wer sich von Gott abgelehnt fühlt, der lehnt sich auch selber ab und benimmt sich auch gegen seine Mitmenschen feindselig. Ebenso wie wir versuchen, Gott zu gefallen, so wollen wir auch vor unseren eigenen Augen annehmbar sein. Wenn uns das nicht gelingt, dann verlieren wir die Achtung vor uns selber, und zuletzt hassen wir uns oder empfinden Ekel vor uns. Hermann Hesse hat mit dem Beamten Friedrich Klein eine Figur geschaffen, die aus ihrer Selbstverachtung nicht mehr herauskommt.110 Kaum ist er einmal von einer »schönen Zuversicht« erfüllt, misstraut er ihr auch schon. Ständig kritisiert und schulmeistert er an sich herum und kann sich selbst nicht ausstehen. Dieser Friedrich Klein kann einfach nicht ja zu sich sagen, er schafft es nicht, mit sich einverstanden zu sein. Und je weniger er sich selber leiden kann, desto feindseliger wird sein Verhalten gegen seine Mitmenschen. Er fühlt sich von ihnen abgelehnt, und da alle Anstrengungen, anerkannt und geliebt zu werden, scheitern, steigert er sich immer mehr hinein in seinen Selbsthass und in seinen Argwohn anderen gegenüber. Erst am Ende seines Lebens wird ihm blitzartig bewusst, was ihm gefehlt hat. Friedrich Klein konnte sich nicht »fallen lassen«. Er konnte sich nicht, so würde es der Apostel Paulus sagen, »versöhnen« lassen.

Für den Theologen Paul Tillich gehören die Versöhnung mit Gott, die Versöhnung mit sich selbst und die Versöhnung mit anderen zusammen. Jesus hat diese Versöhnung beispielhaft gelebt. Das war die Wahrheit seines Lebens. Und nur, wer diese Zuversicht, die Jesus lebte und die er seinen Jüngern lehrte, auch in seinem eigenen Leben erfährt, der weiß, was »Auferstehung« bedeutet, und der kann den Glauben an ein Leben nach dem Tode weitergeben.

»Auferstehung« bedeutet für Tillich Versöhnung mit Gott und damit den »Sieg der Neuen Wirklichkeit«. »Auferstehung«, so schreibt Tillich, »ist nicht ein Ereignis, das in einer fernen Zukunft vielleicht geschehen kann, nein, es ist die Macht des Neuen Seins, Leben aus Tod zu schaffen, hier und jetzt, heute und morgen […] Sie ist zugleich verborgen und offenbar, zugleich dort und hier. Nehmt sie an, dringt in sie ein, lasst euch ergreifen!«111

Wer sich ergreifen lässt, der entgeht der Gefahr, wie die Romanfigur Friedrich Klein in einem selbst gemachten Gefängnis aus Ängsten und Misstrauen eingesperrt zu bleiben. Wer in einem solchen Gefängnis sitzt, der verbohrt sich in sein eigenes Unglück und keine Zusage, keine Hilfe von außen kann ihn erreichen. Auch eine eigene Schuld anzuerkennen, wird unmöglich, weil sie durch Angst oder scheinbare Argumente zugedeckt wird. Ebenso unmöglich ist es in diesem Zustand, anderen ihre Schuld zu verzeihen. Die Tore dieses Gefängnisses werden sozusagen von innen zugehalten.112

Diese Tore können nur aufgesprengt werden durch eine Kraft, die von außen kommt, eine Kraft, die Vergebung schenkt. Das eindrücklichste Beispiel hierfür ist Petrus, der im Gefängnishof mit den Soldaten am Feuer sitzt und Jesus nicht kennen will. Als Petrus seinen Herrn das dritte Mal verleumdet, triff ihn Jesus’ Blick. Das ist ein ungeheurer Moment: Jesus schaut Petrus an. Und Petrus weint bitterlich. Er bricht zusammen – nicht weil ihn der Blick anklagt und ihn schuldig spricht, sondern weil er ihm vergibt. Petrus wird von Jesus nicht angeklagt, er muss sich nicht verteidigen, er muss keine Ausreden und Entschuldigungen suchen. Er erfährt eine Vergebung, die so groß ist, dass er sie nicht ertragen kann. Erst jetzt zeigt er Reue und erkennt seine Schuld. Reue geht hier also nicht der Vergebung voraus, sondern es ist umgekehrt: Erst Vergebung macht Reue möglich.

Rembrandt hat diesen Moment im Innenhof des Palasts des Hohepriesters Kaiphas gemalt. Auf dem Bild sieht man im Vordergrund Petrus, der sich gegen die Verdächtigungen von Soldaten und einer Magd wehrt. Er ist eingehüllt in einen Mantel und sein Gesicht wird erhellt von einer Lampe, die ihm die Magd entgegenhält. Im Hintergrund, fast schattenhaft, wird Jesus von Soldaten weggeführt. Sein Blick über die Schulter geht in Petrus’ Richtung, erreicht ihn aber nicht, weil Petrus mit dem Rücken zu Jesus steht. Jesus’ Blick geht an Petrus vorbei auf den Betrachter des Bildes. Es ist ein Blick, der durch die Zeiten geht und jeden trifft, der Jesus nicht den Rücken zukehrt. Und wer diesen Blick annimmt und sich ergreifen lässt, der wird vielleicht auch wie Petrus im Evangelium zusammenbrechen. Nicht die Schuld ist es, die ihn zusammenbrechen lässt, sondern die Vergebung – und eine Tiefe der Liebe, die über alle Vorstellungen hinausgeht.