Kapitel 36
Eine Explosion erhellte den dunklen Himmel und in einer momentartigen Woge schlugen meterhohe Flammen in die Luft. Das Feuer sackte wieder schnell in sich zusammen, aber schwarzer, dunkler Rauch erhob sich in Spiralen in die tiefe Nacht.
Beim Geräusch der Explosion duckten sich Eva Dean, Delphus und Jenny.
»Scheiße, Feuer!«, schrie Delphus.
»Die Küche …«
Jenny drehte sich vom Rauch weg, als ihr Kanu auf dem Seeufer aufsetzte. Draußen im See schwammen immer noch Boston und Benny, etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt. Es sah nicht so aus, als ob sonst noch jemand dort wäre.
»Robert …«
»Ist das dein Freund?«, fragte Delphus.
»Ja, … aber nicht so, wie Sie denken.«
»Dann mach dir keine Sorgen. Da, wo der hergekommen ist, gibt´s noch genug andere. Für dich holen wir erst ´mal einen Arzt.« Er legte seinen Arm um sie und sie hätte ihn schon fast abgeschüttelt, aber es fühlte sich überraschend gut an gehalten zu werden. Mama hatte immer gesagt, dass sie eine Überlebenskünstlerin war. Und Mutanten zu töten bedeutete nicht, dass sie ein Miststück war. Nicht unbedingt.
»Wir müssen zum Nachbarshaus gehen und Hilfe rufen«, sagte Eva Dean.
»Der nächste Nachbar ist zwei Meilen entfernt«, sagte Delphus.
»Ich gehe«, beschloss Jenny. Es tat ihr im Herzen weh, dass sie Robert verloren hatte, aber sie dachte, sie würde besser damit fertig werden, wenn sie etwas zu tun hatte. Das Letzte, was sie wollte, war, starr vor Trauer zu werden. Besonders, wenn sie noch ein paar Leben retten konnte.
»Wurdest du gebissen, Daddy?«, fragte Eva Dean besorgt, wobei sie seinen Nacken untersuchte.
»Gut, dass die Jungs Zombies und nicht Vampire sind«, sagte er. »Wenn ich von den Toten auferstehe, möchte ich nicht so ein Blutsauger sein.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Jenny und klopfte auf einen Pfeil. »Wenn Sie sterben, garantiere ich, dass Sie nicht wieder kommen.«
»Das ist wirklich tröstlich«, sagte Delphus.
»Kannst du uns zuerst helfen, zum Camp zu gelangen?«, fragte Eva Dean Jenny. »Wir könnten uns dort in einer der Hütten verstecken, bis du zurückkommst.«
Langsam gingen sie den Strand hinauf und in Richtung Wald. Blut, das aus ihren verschiedenen Wunden kam, tropfte auf den Boden und markierte so ihren Weg. In der Ferne wurde der Rauch dicker.
- - -
Lewis und Samantha saßen mit laufendem Motor in ihrem Auto und beobachteten die Flammen in der Entfernung. »Da draußen geht es zu wie im Sechsten Weltkrieg«, sagte Lewis.
»Bitte, lieber Gott, lass es Terroristen sein und keine mutierenden Viren.«
»Das ist auch nicht passiert«, sagte Lewis.
»Was ist denn passiert?«
»Nichts.«
Lewis legte einen Gang ein und hielt inne. »Delphus hat einen Schäferhund. So einen wie der, den wir aufgeschnitten haben. Glaubst du, das war Lucy?«
»Sag mir nicht, dass du dir mehr Gedanken über den Hund als über die Menschen hier machst.«
»Ich bin Tierarzt. Abgesehen davon haben Hunde nichts getan, dass sie so eine Grausamkeit verdient hätten.«
»Ich bin genauso Tierarzt und was genau habe ich getan, dass ich Grausamkeit verdient habe?«
Er grinste sie an. »Du hast mich geheiratet.«
»Okay, also wir verständigen die Polizei und das Gesundheitsamt. Wir deklarieren das Ganze als ›Menschenkram‹ und halten uns da in der Folge ´raus.«
Lewis gab Gas. Ein Eichkätzchen landete auf der Windschutzscheibe. Es knurrte mit verrückt-verdrehten Augen und sprang vom Auto herunter.
Er schaute Samantha an. »Keine Sorge. Auch das habe ich nicht gesehen.«
- - -
Auf dem Weg durch den Wald ging Eva Dean voran. Delphus und Jenny stützten sich gegenseitig und humpelten hinterher. Jenny hatte es geschafft, ihr zerschlissenes Shirt um sich herum zu wickeln, sodass sie so wie Raquel Welch in diesem Dinosaurierfilm aussah. Jenny war zwar nicht gebissen worden, wie es schien, aber sie hatte massenhaft Blutergüsse und Kratzwunden und litt wahrscheinlich große Schmerzen. Eva Dean musste unbedingt für sie Hilfe holen.
Aus dieser Entfernung sah es so aus, als ob das ganze Camp Feuer gefangen hätte. Vielleicht hatte es das auch. Verdammt, vielleicht war das sogar das Beste. Das ganze Ding konnte ruhig niederbrennen. Die Bäume leuchteten schwach im orangen Licht des Feuers.
Tut mir leid, Mama, dachte sie. Ich habe versagt.
»Na ja«, sagte Delphus, »ich glaube, jetzt sollten wir besser doch an Cloudland verkaufen. Sonst werden wir noch unseren Arsch wegprozessiert bekommen.«
»Wie kannst du in solchen Zeiten an Geld denken?«, fragte sie. Ehrlich gesagt dachte sie dasselbe. Die Versicherung, die sie für das Camp und die straffälligen Kids abgeschlossen hatte, war weit davon entfernt, apokalyptischen Schaden zu decken. Wenn sie überhaupt noch so lange leben würden, um vor Gericht erscheinen zu können.
Etwas fiel von oben herunter. Sie hörte gerade noch, wie es auf sie niederkrachte. Statt auszuweichen, blickte sie nach oben.
KRAAACH - ein schweres Etwas fiel von den Bäumen, schlug durch die Zweige und prallte auf dem Boden auf. Es war Max Jenkins. Sein Anzug war zerrissen, seine Füße waren bloß und das Meiste von seinem Gesicht so abgenagt, dass der blanke Schädelknochen darunter zum Vorschein kam.
»Heiße Scheiße«, entfuhr es Delphus. »Das macht einen Käufer weniger.«
Von hoch oben kam ein schriller Schrei. Ein Junge sprang von einem Zweig zum anderen, kletterte wie ein Schimpanse einen Baumstamm hinunter und setzte sich just über ihre Köpfe. Es war Wallace, der Sohn von Max. Er grinste. Ein roter Fleischbrocken baumelte aus seinem Mund.
Aus dem Wald stolperten Pedro und Shaun, beide blutverschmiert und offensichtlich von dem Virus infiziert. Sie glucksten so, als ob sie über einen dummen Witz lachen würden.
»Gefährdete Jugendliche, ha?«, sagte Delphus zu Eva Dean. »Glaubst du immer noch, dass frische Luft und Sonnenschein ihr Leben verändern werden?«
»Sie waren so süß …«, murmelte Jenny mehr zu sich selbst.
»Liebes, sie hätten uns fast in Stücke gerissen. Das sind nicht die Schlümpfe.«
Über ihnen schnaubte Wallace.
- - -
Lewis fuhr etwas zu schnell, wenn man an die Schotterstraße in Betracht zog, die vom Fleisch-Camp wegführte. Die Reifen rutschten über die Steine, besonders wenn er die Kurven schnitt, aber er wagte es nicht langsamer zu werden.
Samantha packte seinen Arm, um ihm abwechselnd zu sagen, dass er beschleunigen oder bremsen sollte. Plötzlich sprang Lewis auf die Bremse, sodass sie fast in einen Graben rutschten.
»Was ist?«, regte sich Samantha auf.
Er deutete auf etwas am Straßenrand. »Ein verletzter Hund.«
Im Gras neben dem Straßengraben lag zusammengekauert ein Hund und starrte apathisch in die Scheinwerfer. Samantha fasste Lewis am Arm, bevor er die Autotür öffnen konnte. »Was, wenn es so ist wie beim Schäferhund?«
»Ich habe einen Eid geschworen, erinnerst du dich?«
»Und was ist mit dem ›Bis der Tod uns scheidet‹?«
»Irgendwann müssen wir uns trennen.«
Dafür hätte sie ihn ohrfeigen können. Sollen. Er hatte eine Pflicht, klar, aber war nicht die Ehe die bedeutendere Pflicht?
Lewis ließ den Motor laufen, stieg aus dem Auto und näherte sich dem Hund. Er kauerte vor ihm und winselte. Samantha entspannte sich ein wenig, atmete tief ein und fühlte sich wegen ihres Egoismus schon ein wenig schuldig. Es war wohl nur ein armes, verletztes Tier.
Lewis kniete sich nieder und streichelte den Nacken des Hundes. Sie fühlte, wie eine Woge der Liebe über sie hinweg schwappte. Er war so ein guter Mann. Dann schaute er sie mit seinem »Habe-ich´s-dir-nicht-gesagt?«-Blick an und sie wurde wieder wütend.
Etwas bewegte sich im nahen Unterholz und brach plötzlich durch die Zweige und Blätter. Ein Junge schoss durch die Büsche und riss Lewis zu Boden. Der Hund jaulte auf und rannte weg. Einen Moment lang glaubte Samantha, sie sähe Gespenster. Dann nahm sie die Türschnalle in die Hand und …
Das Gesicht eines Jungen füllte das Beifahrerfenster aus. Blut und Speichel tropften aus seinem Mund und seine Augen flackerten. Samantha schlug den Knopf der Türsperre nach unten und wollte das Gleiche bei der Fahrertür machen, als die Scheibe der Beifahrertür unter einem wuchtigen Schlag zerbarst. Das war ein Felsbrocken gewesen. Das Sicherheitsglas rieselte über Samanthas Körper und schon versuchte das Kind durch das Fenster hineinzukriechen. Samantha trat dem Jungen ins Gesicht, hielt sich am Lenkrad an und hievte sich in den Fahrersitz. Das Ding taumelte nach hinten, beutelte kurz den Kopf und stürzte wieder nach vorn.
Lewis erhob sich etwa zur gleichen Zeit und hatte dabei das andere Kind auf seinem Rücken, so als ob er es huckepack tragen würde. Das Kind verbiss sich in Lewis´ Schulter, bis Blut sein Shirt tränkte.
Samantha drückte die Hupe, schaltete die Automatik auf DRIVE und trat aufs Gas. Das Ding, das dabei war durchs Fenster zu rutschen, glitt ab, schaffte es aber sich festzuhalten. Lewis schnellte herum, sah das Auto, riss die Augen auf, schüttelte den Jungen von seinem Rücken ab und direkt auf die Kühlerhaube des Autos. Genau als dieser gegen das Auto schlug, sprang Samantha auf die Bremse. Der Körper des einen Jungen wurde über die Windschutzscheibe geschleudert, aber das grauenhafte kleine Monster klammerte sich noch immer am Autofenster fest.
»Spring auf!«, rief sie ihrem Mann zu.
Mit einem entgeisterten Gesichtsausdruck kletterte Lewis auf die Motorhaube. Mit seinem Blick fragte er: Ist das wirklich die beste Lösung?
»Denke, das werden wir herausfinden«, sagte Samantha und trat noch einmal aufs Gas.
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Jetzt kamen auch Boston und Benny aus dem Wald, immer noch triefend nass und mit bleichen, eingesunkenen Körpern. Eva Dean hob einen gebrochenen Ast auf. »Vielleicht ist es Zeit für eine etwas rauere Liebesbezeugung.«
»Die einzige Art von Liebe, die ich dir beigebracht habe«, gab Delphus zu.
Die Jungs kamen langsam näher und kreisten sie ein. Eva Dean schwang ihren Ast vor und zurück, aber die herannahenden Jungs zeigten sich davon unbeeindruckt. »Es sind zu viele«, sagte sie.
Eva Dean, Jenny und Delphus drückten sich aneinander, als die Jungs sie wie ein Rudel Wölfe einkreisten. Im Rudel waren Wallace, Shaun, Pedro, Benny und Boston. Jeder der Jungs schaute schlimmer aus als der neben ihm. Was mussten sie tun, um sie zu töten – um sie endgültig zu töten?
In einiger Entfernung war das Knattern eines Motors zu hören. Das konnte ihre Rettung sein, aber Eva Dean wollte sich keinen falschen Illusionen mehr hingeben.
»Kommt die Kavallerie?«, fragte Delphus.
»Ich höre keine Hufschläge«, antwortete Eva Dean nüchtern.
»Christus, erbarme dich.«
Die Jungs kamen immer näher, alle mit sabberndem, verrücktem Grinsen. »Ich bin nicht bereit dafür, das letzte Abendmahl von irgendjemandem zu sein«, sagte Jenny, während sie einen ihrer letzten zwei Pfeile einlegte.
Wallace sprang auf Eva Dean zu und sie schwang ihren Ast wie eine Keule. Er krachte gegen seinen Kopf. Wallace kicherte.
Pedro und Shaun kamen jetzt ebenfalls näher.
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Samantha wusste nicht, was sie tat, aber wenn man bedachte, dass sie möglicherweise sterben oder verrückt werden würde, hatte sie sich ziemlich gut im Griff. Sie hielt das Gaspedal gedrückt, egal, wie viele Zweige am Auto abprallten oder wie holprig die Straße wurde. Sie schlitterte von einer Seite auf die andere. Lewis klammerte sich an den Scheibenwischern fest und starrte sie durch das Glas hindurch an. Bis dass der Tod uns scheidet und so weiter.
Das andere Kind hing noch immer am geborstenen Fenster des Beifahrers. Es grunzte und knurrte, konnte aber nicht weiter ins Auto hinein krabbeln. Nicht, solange Samantha das Pedal bis an den Boden durchgedrückt hielt.
Die Straße wurde weiter und führte auf eine Lichtung, wo Samantha auf die Grasfläche zusteuerte. Vor ihnen stand ein Klohäuschen. Wer zum Teufel benutzte noch ein Plumpsklo? Kein Wunder, dass diese Kids verrückt wurden.
Sie deutete Lewis, dass er sich von der Kühlerhaube abrollen sollte. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten, aber sie meinte es ernst und so rollte er, der gute Ehemann, auf die Seite und fiel mit einem dumpfen Knall vom Auto herunter.
Als sie sechzehn war, hatte Samantha das Auto ihrer Mutter gestohlen, um zur Geburtstagsparty von Bobby Kell zu fahren. Sie hatte es mit mehr als 150 km/h gefahren. Sie war so wild gefahren, wie man nur konnte, wenn man von der heutigen Fahrt einmal absah, aber ihre Eskapade war zu einem unerwarteten Ende gekommen, als sie die Kontrolle über den Wagen verloren hatte und mit dem Auto seitlich in einen Telefonmasten geschlittert war.
Die Stärke des Aufpralls hätte sie fast aus dem Sicherheitsgurt geschleudert. Alles andere in dem Auto flog mit voller Wucht in Richtung Telefonmasten. Das Auto wurde zusammengefaltet wie ein Akkordeon, aber durch den Airbag hatte Samantha nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Ein Wunder, hatte es die Polizei genannt.
Von diesem kleinen Stunt hatte sie Lewis nie erzählt. Ihre Mutter war so glücklich gewesen, dass Samantha nichts passiert war, dass sie wegen des Autos nie etwas gesagt hatte. Diese Art von Glück hat man nur ein Mal im Leben.
Das Plumpsklo ragte vor ihr auf.
Manchmal muss man es darauf ankommen lassen, dachte sie.
Sie sprang auf die Bremse und warf gleichzeitig das Lenkrad herum. Das Auto driftete seitlich ab und von den Reifen spritzten Schlamm und Steine hoch. Der Junge verlor seinen Halt und wirbelte durch die Luft.
»Friss Scheiße und stirb!«, schrie Samantha voll Wut.
Der Junge krachte ins Plumpsklo, das unter seinem Aufprall wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Holzbretter flogen in alle Richtungen und ein Strahl von brauner Gülle schoss in die Luft, als ob er den Geysir »Old Faithful« imitieren wollte.
»Gott sei Dank«, sagte sie. Sie konnte nicht glauben, dass es tatsächlich funktioniert hatte.
Sie suchte im Rückspiegel nach Lewis, aber der stand schon neben ihr und wischte sich den Schmutz von der Kleidung. »Wo hast du das gelernt?«
»Habe mir alle Folgen von ›The Fast and the Furious‹ angeschaut«, erklärte sie.
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Shaun streckte eine blutige, zu einer Klaue gebogene Hand nach Jenny aus. So konnte es nicht enden. Es war nicht fair, sie so weit kommen zu lassen, nur damit sie dann doch in Stücke gerissen wurde. Um Gottes willen, sie war immer noch eine Jungfrau. In Horrorfilmen überlebte die Jungfrau immer, oder?
Das ist kein Film. Das ist die Realität.
Wenngleich sie das Gefühl hatte, dass jemand – irgendwo – eine Reality-Show aus dem Ganzen machen würde. Zwei von ihren Pfeilen hatte sie schon für Boston verwendet, aber sie hatten ihn nicht langsamer gemacht.
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte sie entschlossen.
»Ich versuche mir Flügel wachsen zu lassen, um wegzufliegen«, sagte Delphus. »Weiß aber nicht, ob das ganz so gut funktionieren wird.«
Wenige Zentimeter von Jennys Gesicht entfernt ballte sich Shauns Hand zusammen.
KLONG!
Etwas traf Shaun am Kopf und er fiel zu Boden. Ein rostiges Hufeisen lag in seiner Nähe auf dem Boden.
»Was zur Hölle war …«
Ein weiteres Hufeisen klirrte gegen Pedro. Er taumelte ein paar Schritte nach hinten und fiel dann auf seine Knie. Wallace, Boston und Benny zögerten verwirrt. Was sie vorher aus einem unerklärlichen Instinkt heraus getan hatten, nahm nun mit dieser neuen Bedrohung eine andere Wendung.
Robert trat aus dem Wald heraus. Er hielt ein Hufeisen in der Hand, drei weitere hatte er über seinen linken Unterarm geschlungen. Wieder warf er eines und traf damit Pedros Kinn. Zähne splitterten im heller werdenden Licht.
»Treffer!«, rief Robert.
»Robert!«, schrie Jenny.
»Wie ich es dir gesagt habe«, sagte Delphus zu ihr, »du musst nur an ein Wunder glauben.«
Robert und Jenny umarmten sich, während die drei übrigen mutierten Jungs in der Nähe des Waldes abwarteten, misstrauisch, aber immer noch mit Augen, die voll irrem Hunger flackerten. Robert fragte Jenny, ob es ihr gut ginge. »Sieht so aus, als ob sie dich ordentlich in die Mangel genommen hätten«, sagte er.
»Du hast mir zwei Mal das Leben gerettet«, antwortete sie.
»Ich würde dich eine Million Mal retten, wenn ich müsste«, bekräftigte Robert.
»Ihr Kinder könnt dann knutschen, wenn wir in Sicherheit sind«, sagte Delphus. »Aber im Moment haben wir unangenehme Gesellschaft.«
Die Jungen-Kreaturen kamen wieder näher. Boston zerrte an den Pfeilen in seiner Brust. Eva Dean schwang den gebrochenen Ast drohend über ihrem Kopf. »Wir sind fast schon beim Farmhaus«, sagte sie. »Dort können wir uns verschanzen, wenn wir es schaffen. Dann uns neu organisieren und Hilfe holen.«
Sie bewegten sich so schnell sie konnten, humpelnd, keuchend und fluchend. Robert winkte den Jungs warnend mit seinen Hufeisen zu.
Trotzdem folgten ihnen die Jungen, einer nach dem anderen, in geringem Abstand.
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Samantha fuhr langsamer, nachdem sie am Autowrack des Sheriffs vorbeigefahren waren. Sobald sie sahen, dass es leer war, beschlossen sie weiter zu fahren. Einer der Reifen hatte einen Platten, vielleicht von einem Nagel, der in einem Brett des Plumpsklos gesteckt hatte. Aber sie holperten weiter.
»Der Sheriff dürfte bereits Verstärkung angefordert haben«, sagte Lewis. »Aber ich frage mich, warum es hier nicht schon von Helikoptern und Polizeiwagen mit heulenden Sirenen wimmelt.«
»Das Anwesen der Fraleys liegt vor uns«, sagte Samantha.
»Ich möchte ihm nicht von Lucy erzählen.«
»Ich möchte ihm von nichts hier erzählen.«
»Das, was wir gesehen haben, können wir genau beschreiben. Alles Weitere liegt nicht in unserer Hand.«
Lewis lehnte sich an sie. »Das stimmt so nicht. Nicht, wenn es sich um kranke Tiere handelt.«
»Wir sind Tierärzte«, entgegnete sie. »Wir behandeln kranke Tiere. Nicht die, die von den Toten wieder auferstehen.«
»Wenn ich so darüber nachdenke, dann kann ich mich nicht daran erinnern, dass die Professoren im Studium dahingehend etwas erwähnt hätten.«
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Eva Dean, Delphus, Jenny und Robert stürmten durch den Wald, weit vor den Burschen, die sie im Laufschritt verfolgten, und traten auf eine offene Wiese. Die Sonne war so weit aufgegangen, dass der Tau glitzerte und der Dunst des Morgens aufstieg. Es war eine fast romantische Szene: Die Wiese war von Herbstblumen gesprenkelt, der Stall lag in der Ferne und das Farmhaus idyllisch dahinter. Delphus war froh, sein Heim, in dem er geboren und aufgewachsen war und wo er seine eigene Tochter großgezogen hatte, wiederzusehen.
Dann traten auch die Jungen-Kreaturen aus dem Wald.
»Schaut!«, sagte Delphus ungläubig. »Diese Bastarde sind nicht umzubringen.«
»Jungs im Teenageralter«, sagte Eva Dean. »Die erholen sich schnell.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen«, entgegnete Jenny.
»Hey, bleiben wir ehrlich«, sagte Robert mit einem Grinsen. »Das hält noch bis in die Zwanziger an.«
»Kein Kommentar«, sagte Delphus.
»Wollt ihr jetzt wirklich den Meterstab auspacken und schauen, wer den größten hat, oder sollten wir versuchen, den Vormittag zu überleben?«, mahnte Eva Dean.
Die Jungs waren jetzt näher. Sie grunzten und kicherten und stöhnten.
»Bis zum Stall können wir es schaffen«, überlegte Delphus.
»Und dann?«, fragte Jenny. »Heuballen auf sie werfen?«
»Wem gehört das Auto?«, fragte Delphus und deutete in Richtung Tor.
Die Jungs kamen näher und die Frage war vergessen.
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Ein verstümmelter Ziegenkörper lag auf der Veranda. Lewis und Samantha stiegen über ihn hinweg. Einen Moment lang dachte die Tierärztin, dass der Kadaver gezuckt hätte. Aber das Tier konnte nicht am Leben sein, oder? Das verfluchte Ding schien keine Eingeweide mehr zu haben. Auch einen eleganten Herrenschuh hatte Samantha auf der Veranda bemerkt. Er war wie das Spielzeug eines Hundewelpen zerkaut worden.
»Diese Kerle gehen auf Nummer sicher«, sagte Lewis.
»Vergiss die Ziege! Schauen wir, ob das Telefon funktioniert.«
Die Ziege zuckte wieder. Lewis beugte sich zum Tier, um die lebenswichtigen Funktionen zu überprüfen, aber Samantha riss ihn zur Seite.
Obwohl die Ziege eindeutig tot war und sich schon Fliegen auf ihre Wunden setzten, schnappten ihre gelben Zähne immer noch auf und zu.
Samantha schob Lewis ins Haus und machte die Tür zu. »Nimm dein Superman-Cape ab. Wir brauchen jetzt einen kleinen Clark Kent.«
»Oder eher Underdog und Shoeshine Boy?«
»Entschuldige, wenn ich meine Anspielungen auf die Pop-Kultur nicht richtig hinbekomme. Es war eine lange Nacht.«
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Jenny hatte wieder Kraft gesammelt, aber Robert wollte sie nicht loslassen. Er presste sie an seine Schulter, als sie über die Wiese gingen, einen Arm eng um sie geschlungen. Sie gab nach, auch wenn es nicht lange dauerte, bis sie das ganze Gewicht von beiden trug. Der Unterwasserkampf mit dem Jungen hatte Robert mehr Substanz gekostet, als er sich eingestehen wollte.
Delphus sah so aus, als ob er bald umkippen würde, wenngleich sein Blutverlust weniger geworden war. Vielleicht hatten alte Leute weniger Blut in sich. Die Adern des Farmers sahen ohnehin schon dünn und blau aus und er war so ausgemergelt, dass es ein Wunder war, dass die verrückten Mutanten genug Fleisch und Muskelmasse gefunden hatten, worin sie ihre Zähne vergraben konnten.
»Wir müssen etwas unternehmen«, wiederholte Jenny. »Wir brauchen wirklich Hilfe.«
»Hilfe holen, das ist alles, was wir in diesem Moment tun können«, sagte Eva Dean.
Der Stall lag vor ihnen, das Farmhaus dahinter.
»Nein«, sagte Robert. »Wir müssen mehr machen.«
Eva Dean drehte sich zu ihm um, aber was auch immer sie sagen wollte, ging in einer neuen Welle der Angst unter. Die Jungs waren rasch näher gekommen und erfreuten sich an dem, was als »zweiter Frühling« für die Toten durchgehen konnte. Jenny versuchte ihre Mitstreiter anzutreiben, aber Robert konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Und Delphus wurde zum falschen Zeitpunkt wütend, drehte sich zu den Kids um und hielt ihnen einen lautstarken Vortrag über das Respektieren von Privateigentum.
»Sie können dich nicht hören, Daddy«, sagte Eva Dean und zog ihn an der Hinterseite seines Hemds zurück.
»Das weiß ich, aber ich fühle mich dadurch besser.«
Dann schienen die Kids einen extra Gang einzulegen, so als ob die Mutation sie schneller machen und ihren Körper in einen Rausch versetzen würde. Sie schlossen die Lücke in Sekundenschnelle und bewegten sich rasend schnell auf das Menschengrüppchen zu.
Jenny hatte nicht einmal Zeit, einen Pfeil einzulegen, bevor Shaun schon auf sie zusprang. Sie riss ein Hufeisen von Roberts Arm und schleuderte es auf die Jungen. Ihr Wurf ging weit daneben. Robert stolperte, fand wieder das Gleichgewicht und verzog vor Anstrengung das Gesicht. Er nahm ein Hufeisen in beide Hände und schwang herum, um Shaun ins Gesicht zu schlagen. Knochen krachten und unmenschliche Flüssigkeiten spritzten durch die Luft.
Der Junge kicherte.
»Lauft zum Haus«, schrie Eva Dean.
Delphus und Eva Dean legten einen Sprint ein, auch wenn Delphus´ Schritt kaum mehr als ein verkrüppelter Galopp war. Die anderen drei Jungen-Kreaturen waren ihnen dicht auf den Fersen. Pedro sprang auf Jenny, aber sie wehrte ihn mit einem harten Schlag in sein blutiges Gesicht ab. Er streckte sich noch einmal nach ihr aus, bekam ihr Handgelenk zu packen und riss ihre Haut auf. Mit einem Hufeisen schlug Robert auf Pedros Schädel. Der Junge sackte endlich zusammen.
»Wo sind die anderen hin?«, wunderte sich Jenny. Die drei Jungen waren jetzt zwischen ihnen und dem Haus, was bedeutete, dass ihr Fluchtweg abgeschnitten war. Jenny legte ihren Bogen an und zielte auf die Kinder, die Delphus und Eva Dean verfolgten, aber bei einem Ziel, das sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit bewegte, traute sie ihren Fähigkeiten nicht.
»Der Stall«, sagte Robert. Er hob ein blutiges, verschmiertes Hufeisen vom Boden auf. Sie humpelten und fielen fast hin, aber sie schafften es. Beide packten an, um die Tür aufzuziehen und eilten nach drinnen. Ein Schwein quietschte. Es stank nach Heu und Exkrementen und es war dunkel. Jenny schwang ihren Bogen über ihre Schulter und nahm eine Heugabel von der Wand.
Sie hielt sie vor sich und bevor Robert fragen konnte, was sie da tat, sprang Pedro durch die Tür und spießte sich selbst auf den Zacken auf. Mit all ihrer Kraft, die sie noch übrig hatte, schrie Jenny voll Wut, stieß ihn nach hinten und pflockte ihn in die Wand.
»Wahnsinn«, sagte Robert bewundernd. »Du gehst ja richtig zur Sache.«
»Ramme eine Gabel in ihn ´rein, und er ist erledigt«, antwortete sie.
An der Wand hing eine Axt. Robert holte sie herunter und probierte aus, wie sie in seiner Hand lag. Viel effektiver als ein Hufeisen.
Genug war genug. Das war Krieg und es war an der Zeit, für klare Verhältnisse zu sorgen. Er war sich bewusst, dass das sehr stark danach klang, was Max Jenkins sagen würde, aber das war Robert egal.
Max war möglicherweise selbst bereits Hackfleisch, nicht mehr als eine Fußnote in seinem armseligen, kleinen Selbsthilfe-Ratgeber.
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Im oberen Stockwerk schaute Lewis durch ein Schlafzimmerfenster hinaus und sah, wie Delphus und Eva Dean zum Haus torkelten. Und er sah, was hinter ihnen nachkam.
Lewis schob das Fenster auf. »Hey!«, schrie er. »Passen Sie auf, hinter Ihnen!«
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Keuchend murmelte Delphus: »Verdammte … Besitzstörer … überall.«
Eva Dean schaute zu dem Typen im Fenster hinauf – war das Lewis, der Tierarzt? – und schrie: »Hey, passen Sie auch auf, hinter Ihnen!«
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Das Ding, das einmal ein Junge namens Jose gewesen war, der als reanimierter Körper schon einen Schürhaken ins Gesicht bekommen hatte, trat hinter einen frisch riechenden Körper, der vor einem offenen Fenster stand.
Jose erinnerte sich nicht mehr daran, dass er einen seiner Kumpel getötet hatte und dass er seine Freundin geschlagen hatte, er erinnerte sich auch nicht daran, wie er von einem wild gewordenen Mutanten attackiert worden war. Seine Wut, sein Neid und seine Einsamkeit bedeuteten ihm nun nichts mehr. In gewisser Weise fühlte er sich erst als Ganzes, seitdem er in Stücke gerissen worden war. Seine ziellose Existenz hatte endlich eine Bedeutung bekommen.
Der Kaminschürhaken steckte noch immer in seinem Gesicht und er konnte nur mit einem Auge und deshalb nicht mehr besonders gut sehen. Das Sehvermögen war jedoch nicht mehr so wichtig, wie es früher gewesen war. Er geiferte und sabberte und machte röchelnde Geräusche. Der Körper vor ihm lehnte aus dem Fenster.
Gehen. Attackieren. Fressen.
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Das ganze Haus stank, sodass Samantha sich mit einer Hand die Nasenlöcher zuhalten musste, als sie darin herumging. Lewis war hinauf gegangen und rief nun nach draußen. Samantha rannte die Stufen hinauf, um zu sehen, warum er so schrie.
Sie öffnete die Tür zum letzten Schlafzimmer.
Ein Kid mit einem Schürhaken in seinem Kopf stand hinter Lewis.
»Lewis!«, schrie sie.
Er drehte sich blitzschnell um, stieß seinen Kopf am Fensterflügel an und verlor das Gleichgewicht. Gerade, als sich das tote Kind nach ihm ausstreckte, taumelte Lewis nach hinten und stürzte aus dem Fenster hinaus.
Ich hoffe, er hat sein Superman-Cape doch nicht abgenommen.
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Lewis prallte vom Dach der Veranda ab und rollte dann auf den Boden. Etwas in seinem Bein schnalzte und ein stechender Schmerz blitzte wie ein weißer Stern in seinem Kopf auf. Ein Junge, der Eva Dean und ihren Vater verfolgt hatte, blieb stehen und steuerte stattdessen auf Lewis zu.
Jetzt bin ich leicht erlegbares Fleisch, dachte Lewis. Und Samantha ist nicht einmal hier, um einen Scherz zu machen.