KAPITEL 27
Jetzt schwebten sie schon mindestens einen halben Meter über dem Boden und trotzdem kifften sie munter weiter. Der Joint hatte schon mehrere Male die Runde gemacht und die Jungs bemühten sich redlich nicht ihren Verstand hinauszuhusten. Aber Sven sah den größer werdenden Hunger in ihren Gesichtern und er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von ihnen beginnen würde, in der Küche nach etwas Essbarem zu suchen.
Letztendlich war es Pedro, der dem übermächtigen Hungergefühl nachgab. Er durchsuchte die Küchenkästchen, steckte seinen ganzen Kopf hinein, so als ob ihm das helfen würde, in der Dunkelheit irgendwie besser zu sehen. »Ich hab das Knabberzeug, Mann.« Er stieß eine Pfanne von der Anrichte und sie klapperte zu Boden. Das metallische Geräusch machte in der Stille der Nacht ein unglaublich lautes Geräusch.
»Pass auf, Burritofresser«, sagte Sven. »Willst du, dass wir erwischt werden?«
Pedro kramte in einem der Kästchen herum und zog schließlich eine Plastikdose heraus. Er nahm einen von Boogers Keksen heraus. Selbst wenn Sven echt starkes Ganja von Acapulco geraucht hätte, so würde er diese Dinger nicht anrühren. Da hätte er ja genauso gut versteinerte Dinosaurierkacke essen können.
»Mmm. Kekse.« Pedro biss ein großes Stück von einem der Kekse ab und verstreute dabei Krümel auf dem Boden.
»Waah«, ekelte sich Gregory, »das würde ich nicht essen…«
Die vordere Tür zum Speisesaal fiel mit einem lauten Knall zu. Wie auf einen geheimen Befehl hin zerstreuten sich alle. Pedro kroch in den Schrank und Sven verschwand um eine Ecke. Schnell zerdrückte er die Kippe, bis sie ganz ausgelöscht war. Gregory tauchte hinter der Anrichte unter.
Sven wedelte mit seinen Armen durch die Luft, da er wusste, dass die Wolke von blauem Dunst sie verraten würde. Trotzdem konnte er nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken.
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Das Wesen, das einmal Benny gewesen war, konnte nicht länger warten. Es war zu hungrig, es musste sich bewegen. Attackieren. Und es bewegte sich schnell und attackierte mit einem glucksenden Kichern. Es roch, dass einer von ihnen in der Nähe war, gleich in der Küche, und packte ihn, bevor er weglaufen konnte.
»Benny!«, sagte der Junge. Sein Gesicht verzog sich. »Mann. Was hat dich denn so zugerichtet?«
Ohne zu blinzeln starrte das Wesen den Jungen an, so als ob sein Gehirn vergessen hätte, wie es war zu blinzeln. Vielleicht war dies auch tatsächlich der Fall. Es kicherte wieder, aber nicht, weil es Spaß hatte. Es verstand schon lange nicht mehr, was »Spaß« war, weder im herkömmlichen noch im unkonventionellen Sinn, sondern weil es nur mehr wenige Dinge tun konnte, und kichern war eines davon.
»Benny?«
Etwas flog ihnen entgegen, durchbrach die Dunkelheit mit der Zielstrebigkeit eines Pfeiles, aber mit der Wucht von etwas viel Größerem. Es prallte gegen den Jungen und gleichzeitig senkte das Wesen, das einmal Benny gewesen war, seine Zähne in den Nacken des Jungen. Gemeinsam fielen sie gegen die Küchenanrichte und krachten zu Boden.
Benny konnte das andere Wesen riechen, das Wesen, das attackiert hatte. Irgendwie war es wie er. Eine Bestie, vielleicht, oder einfach ein krankes Hirn im Körper eines Kindes.
Vielleicht hatte es deshalb gekichert.
Vielleicht verständigten sie sich aber auch.
- - -
Die Luft roch seltsam, so als ob etwas angebrannt wäre.
Hatte er den Ofen angelassen?
Booger schaltete die Taschenlampe ein und konnte für einen Augenblick nicht glauben, was seine Augen sahen. Zwischen dem Küchenblock und der Abwasch auf dem Boden waren sich windende und krümmende Körper ineinander verkeilt. Er dachte, dass das ein bizarres Paarungsritual von Coyoten oder anderen Kreaturen war, aber dann erkannte er menschliche Gliedmaßen und Köpfe.
»Was macht ihr Jungs denn in meiner Küche für eine Sauerei?« Booger hob das Hackbeil. Die Herdflammen spiegelten sich im Metall. Auf dem Boden waren drei Jungen ineinander verkeilt und dabei in schrecklich viel Blut getaucht. Sie hatten möglicherweise ein Reh oder ein Schwein getötet, so wie in dem Buch »Herr der Fliegen«. Dumme Kinder, die in dumme Raufereien gerieten.
Nur, dass das keine dumme Keilerei war. Oh Gott, biss der eine Junge tatsächlich gerade in den Hals des anderen? Was zum Teufel ging da vor sich?
»Lauf!«, schrie plötzlich jemand und Töpfe und Pfannen fielen klappernd zu Boden. Ein anderer Junge sprang aus einem Küchenkasten und rannte so schnell an Booger vorbei, dass dieser gar nicht reagieren konnte. Das Licht seiner Taschenlampe bleichte das entsetzte Gesicht des Jungen wie ein starker Kamerablitz. Zwei Jungs, vielleicht auch mehr, stürmten aus der Küche und warfen auf ihrer panikartigen Flucht Kochutensilien, Messbecher und Plastiktabletts um.
Booger leuchtete mit seiner Taschenlampe wieder zurück auf die kämpfenden Jungs. Mit den anderen Feiglingen würde er sich später abgeben.
Einer der Jungen kämpfte nicht mehr - mit seinem verschmierten Gesicht voll klebender, roter Flüssigkeit, seinen riesigen, starren Augen und seinem weit geöffneten Mund stand er direkt vor Booger.
»Was um Himmels willen hast du gegessen? Hast du deinen Kopf in Erdbeermarmelade getaucht?«
Der Junge warf sich auf Booger und instinktiv schwang dieser das Hackbeil. Es schnitt durch die Luft und senkte sich mit einem widerlichen, dumpfen Geräusch in die Schulter des Jungen. Der Junge schrie auf, ließ sich durch die Verletzung aber nicht aufhalten: Mit seinen zu Klauen gebogen Händen griff er nach Boogers Hals.
Booger stolperte einige Schritte zurück, blieb aber auf den Beinen und schaffte es, den Griff des Beils zu packen. Er brauchte zwei Versuche, aber mit einem kräftigen Ruck zog er schließlich das Beil aus der Schulter des Jungen. Es machte ein kratzendes Geräusch, als es sich aus dem Schulterknochen löste, und war von Blut besudelt. Dann schlug das Kind seine Zähne in Boogers schlaffe männliche Brust und der Schmerz war so plötzlich und intensiv, dass er aufschrie und das Hackbeil fallen ließ. Es klirrte auf dem hölzernen Boden.
Durch die Küche gellten hohe, schrille und angsterfüllte Schreie, die von »Hilf mir!«, »Mami!« und »Oh, Gott, bitte!« durchsetzt waren.
Einen Moment später grub der Junge tatsächlich seine verzweifelten Zähne in Boogers schwabbeligen Bauch. Das Schreien des anderen Kindes hörte plötzlich auf, und es wurde ruhig. Jesus Christus, was zum Teufel taten diese Kids?
Booger packte den Kopf des einen, drückte ihn fest zusammen und zog ihn aus seinem Magen. Fetzen seiner Haut und seines Gewebes blieb an dessen Mund hängen und der Schmerz ließ Boogers Sehvermögen versagen, so dass er fast nur mehr weißes Licht sah, wie bei einem direkten Blick in die Sonne. Aber er kämpfte sich durch den Schmerz und packte eine gusseiserne Pfanne vom Herd.
Der Junge stand ein paar Fuß entfernt, Boogers Haut hing an seinem Kinn. Hinter ihm stand ein anderer Junge mit dem Hackbeil in der Hand. Die Beine des dritten Jungen waren hinter der anderen Seite des Küchenblocks zu sehen. Er bewegte sich nicht.
In der Grundausbildung des Militärs hatte er sich unter den Fittichen von Sergeant Broussard Nahkampftechniken angeeignet. Vor allem hatte Booger gelernt, wie er sich vor Schlägen schützen konnte. Er hätte sich aber nie ein Szenario träumen lassen, in dem ein nach Blut dürstender Fremder versuchen würde, ihm das Herz aus der Brust zu reißen. Und jetzt passierte das hier, nur dass die Fremden Campkinder waren.
Wenn nicht der Schmerz gewesen wäre, dann hätte er das alles mit einem Lächeln abtun können. Blut strömte über seine Brust hinunter, tränkte sein Shirt und verklebte es mit seinen Fettschwarten.
Entschlossen packte er den dünnen gusseisernen Stiel der Pfanne. Seine Hand war schweißnass. Die zwei Jungs keuchten und gaben schreckliche Geräusche von sich. Scharrende Bullen, die zum Angriff bereit waren.
»Was zur Hölle ist da los?« Delphus stand in der Tür. »Riecht nach verbrannten Eierkuchen.«
Die zwei Jungs drehten sich zu Delphus um. Sie steckten ihre Köpfe zusammen wie Tiere, die sich besinnen mussten, wie sie weiter vorgehen sollten.
»Mit den Jungs stimmt ´was nicht«, sagte Booger. Die Taschenlampe lag einen halben Meter weit entfernt auf dem Boden und strahlte in Richtung Delphus. Booger schnappte sie sich schnell. Die Jungs rannten nicht weg, obwohl sie ihre Köpfe vorsichtig von dem einen zu dem anderen Mann drehten.
»Seit einiger Zeit stimmt hier gar nichts mehr«, konstatierte Delphus. »Wer von euch hat meinen Hund auf dem Gewissen?«
Booger ließ den Lichtstrahl über die Jungs gleiten. Ihre Augen flackerten, zuckten und glühten blutunterlaufen. Er bewegte sich seitwärts, um besser sehen zu können: Auf dem Boden lag der dritte Junge wie ein Schwein auf dem Schlachthausboden. Eine klaffende Wunde hatte sein Gesicht und seinen Nacken gespaltet, so als ob ihn jemand zu Filet und Schinken zerteilen wollte.
Der Junge mit dem Hackbeil gluckste und erhob die Klinge gegen Delphus.
»Hey, jetzt warte ´mal!«, protestierte dieser. »Du hast wohl gerade Gras geraucht. Du hast sie nicht mehr alle.«
Der Junge grinste, trat einen Schritt näher. Sein bloßer Fuß klatschte auf den Boden. Der andere bewegte sich von der anderen Seite auf Delphus zu, als ob sie zusammenarbeiten würden. Wie ein Rudel Hyänen. Auf der Jagd.
Delphus deutete auf den Jungen auf dem Boden und versuchte die anderen zwei zu beruhigen. »Der Typ dort. Ich bin sicher, dass der es verdient hat. Kein Richter im ganzen Land würde das gegen euch verwenden.«
Booger begann sich in Richtung hinterem Ausgang davonzumachen. »Sie hören Sie nicht. Sie sind verrückt geworden.«
Der Junge, der ihn attackiert hatte, drehte sich wieder zu Booger. Blut strömte über seine zerschmetterte Schulter. Booger hob die Pfanne in die Höhe.
»Was wollen Sie denn damit machen?«, fragte Delphus. »Ihnen ein paar Eier mit Schinken herausbraten?«
»Wo ist Ihre Flinte? Ich dachte, hier würden alle Hinterwäldler immer Gewehre mit sich herumtragen.«
»Wir respektieren hier das Gesetz. Überlassen Sie das Schießen dem Sheriff.«
Der Junge mit dem Beil war nur wenige Fuß von Delphus entfernt und nun bückte sich der andere und hob ein Nudelholz auf. Booger trat zurück. Blutiger Schleim tropfte aus dem Mund des Jungen und klatschte auf den Boden. Seine Augen funkelten im schwachen Licht.
Im Ausbildungslager hatte Booger auch gelernt, wie man sich richtig zurückzog, auch wenn es Sergeant Broussard immer als »Umorganisieren aufgrund veränderter Umstände« bezeichnet hatte. »Wir sollten, ehm, besser… «
Booger zog sich weiter zurück und trat mit seinem Fuß direkt in einen Suppentopf. Sein Fuß verfing sich im runden Metall und als er versuchte, sich frei zu strampeln, verkeilte er sich sogar noch mehr. Etwas packte seinen Knöchel.
Er taumelte mit einem dumpfen Laut rückwärts, rutschte aus und fiel. Der Junge war sofort auf ihm und schwang das Nudelholz hoch über seinem Gesicht.
»Heiliger Strohsack, Delphus, helfen Sie … «
Das Nudelholz knallte auf sein Gesicht hinunter. Boogers letzter Gedanke war: Mein Goldzahn, mein verdammter Goldzahn, für längere Zeit wird der kein Steak mehr kauen.
Und später, auch als dieses Wort schon jegliche Bedeutung für ihn verloren hatte: Die Kekse, ich muss die Kekse in Sicherheit bringen.
Danach hatte er keinen klaren Gedanken mehr.