KAPITEL 7
Amanda fand die Lichtung, wo sich die Bäume öffneten und sich das Tal vor ihnen ausbreitete. Sie hatte die Schneise gefunden, ohne sich auch nur einmal zu verlaufen oder auch nur falsch abzubiegen, so als ob sie schon einmal dort gewesen wäre.
Selbst wenn Kyle es bemerkt hatte, so ließ er sich nichts anmerken.
Idiot.
»Schön ist es hier draußen«, säuselte Amanda.
»Ja«, nickte Kyle, ohne dass es ihn interessierte. »Also, wo ist der Typ jetzt?«
Er blieb hinter ihr stehen und legte dabei seine Hände auf ihre Hüften. Er drückte sie so fest, dass seine Fingerspitzen weiß wurden. Sie drehte sich um und küsste ihn heftig, aber nicht ohne vorher Jose einen Blick über Kyle´ Schultern zugeworfen zu haben.
Jose ging bis zum Rand der Lichtung. Das Camp für die jugendlichen Straftäter war hier irgendwo in der Nähe, aber vielleicht auch noch ein paar hundert Meter weit entfernt. Von Sven wusste er, dass Gras im Camp schwer zu bekommen war, deshalb würde man mit diesen Rotznasen schon mit ein paar wenigen Joints gutes Geld machen können. Sven wollte eine permanente Versorgungskette einrichten, mit Jose in der Funktion des Packesels. Bei dieser nunmehr dritten Überquerung der Berge fand Jose, dass dies sogar eine passende Bezeichnung war.
Sven hatte schon einen Eintrag in seinem Strafregister, auch wenn seine Strafe hier zur Bewährung ausgesetzt war. Wenn Jose beim Dealen erwischt wurde, würde er nicht hier enden. Dafür war er zu alt. Er würde direkt ins Gefängnis wandern und hier, am Arsch der Welt, würde das wahrscheinlich ein Gefängnis voller Männer bedeuten, die versuchen würden, ihn wie ein Schwein zum Quietschen zu bringen.
Besser in ein Gefängnis in der Stadt gehen. Dort konnte er wenigstens eine Gang haben, sich irgendeiner Bande anschließen.
Aber er durfte jetzt nicht an die Stadt denken. Hier draußen war es wirklich schön. Die Bäume standen hier so dicht und die Berge türmten sich ringsum auf wie in diesem Film mit den Hobbits und diesen scheiß-hässlichen Monstern oder was auch immer sie waren.
Ganz oben auf einem dieser Berggipfel standen zwei Typen, die über den Abgrund blickten. Aus dieser Entfernung war es schwer zu erkennen, aber sie trugen entweder Anzüge oder schwarze Mäntel. Das war gar nicht so außergewöhnlich. Sicher, hier draußen mitten in den Wäldern der Appalachen brauchte man keine Angst zu haben, dass man aus einem vorbeifahrenden Auto angeschossen wurde, aber die Leute, die das hier als ihre Heimat bezeichneten, waren auf eine andere Art oft nicht so ganz richtig im Kopf.
Jose hatte Geschichten von Satansanbetern gehört. Sie entführten Jungfrauen und zelebrierten in den Wäldern Blutopfer, wobei sich die Teufelsanbeter, die alle in schwarze Roben mit Kapuze gekleidet waren, rund um das gefesselte, geknebelte und nackte Mädchen versammelten. Sie sangen und wurden von giftigen Pilzen oder anderen verrückten Kräutern high. Dann riefen sie Satan herbei und schlitzten dem Mädchen den Hals auf.
Vielleicht war das alles Schwachsinn, aber Jose wollte die Aktion in jedem Fall vor dem Einbruch der Dunkelheit hinter sich bringen. In der Nacht würde er nie hier heraufkommen, um keinen Preis.
Und er hatte vor, heute einen Haufen Geld zu verdienen.
Sonnenlicht blitze auf, als es von dem Fernglas, durch das einer der Typen blickte, reflektiert wurde. Er schaute in Richtung Lichtung. In Richtung Camp. Ein Ort, der Fleisch-Camp hieß. Vielleicht war das früher mal ein Schlachtplatz gewesen. Oder es gab hier in der Gegend tatsächlich Satanisten.
Egal, die zwei Männer schienen weder ihn noch seine Begleiter entdeckt zu haben. Im Herbstlicht erschien der Laubwald dicht und golden. Insekten surrten und eine frische Brise machte die Schwüle erträglich.
»Ich weiß nicht, ob ich schon kann«, sagte Kyle in seinem Rücken. »Vielleicht nachdem wir etwas geraucht haben.«
»Aber ich will dich jetzt, Baby«, bettelte Amanda. »Du willst mich doch nicht enttäuschen, oder?«
Joses Herz begann schneller zu schlagen und plötzlich wurde ihm heiß. Seine Hände fühlten sich trotzdem kalt an, seine Knöchel steif, als ob sie in Eis getaucht worden wären.
Er hörte wie Kyles Reißverschluss aufging.
»Siehst du?«, hauchte sie. »Das wird doch schon.«
»Aber Jose ist hier.«
»Na los, Mann, nimm sie dir!«, sagte Jose so ruhig und unbeteiligt wie er nur konnte. »Sie will es.«
»Au«, winselte Kyle.
»´Tschuldige«, hauchte Amanda.
Kyle war so ein Trottel. Er musste sich im Reißverschluss verfangen haben.
Jose ging in die Hocke und legte seine Hände wieder auf den Boden. Es dauerte nicht lang, bis er etwas gefunden hatte, das ihm helfen konnte. In der Stadt dachte man meistens an Schusswaffen, aber hier draußen im Wald gab es alles Mögliche, was sich als Waffe eignete.
Sie küssten sich unter nass-saugenden Geräuschen und Amanda stöhnte freizügig, was Kyle besonders gefiel. Auch wenn Kyle es nicht zu bemerken schien, war das Gestöhne natürlich nur gespielt.
Sie übertrieb ihr Stöhnen, auch um Jose damit zu ärgern.
»Ja, Baby, so hab ich´s gern!«, flüsterte Kyle. »Du bist die Beste!«
Was für ein Charmeur.
Joses Hand umklammerte den Stein und obwohl er genau spürte, dass sein Arm Teil seines Körpers war, hatte ihn doch etwas anderes unter Kontrolle. Der Brocken war viel schwerer als er aussah und drückte seinen Arm nach unten, seine schroffen Ränder gruben sich in seine Finger, als wollten sie die Haut aufreißen.
»Oh ja«, murmelte Kyle, versunken in seiner Lust und vollkommen abwesend für die Welt um ihn herum. Er hatte nicht nur vergessen, dass Jose da war, sondern möglicherweise auch Amanda.
Jose handelte rasch und ließ seinen Arm wie von selbst agieren.
Der erste Schlag wäre wohl schon genug gewesen, aber Joses Arm schwang vor und zurück, immer wieder, bis das Blut über sein Gesicht spritzte und rote Lachen den Boden aufweichten.
»Ich glaub´, du hast es etwas übertrieben«, sagte Amanda.
»Du aber auch!«
Dann küsste sie ihn, lang und innig, direkt neben dem Körper von jemandem, der Jose für seinen Freund gehalten hatte.
Der heruntergekommene Camaro war tatsächlich Teil der Verkleidung gewesen. Kyle war die Sorte von Arschloch, der sich absichtlich unter die Unterschicht mischte, weil es ihm einen besonderen Kick gab. Anfangs hatte Jose das nicht kapiert. Erst Amanda hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Jose hatte gedacht, dass Kyle einfach Pech gehabt hatte und auch dazu verdammt war, in einem stinkenden Loch zu leben. Dass er sich eleganter anzog als die meiste Leute, weil er früher ein besseres Leben gehabt hatte und dass dann, so wie in Joses Leben, sich plötzlich alles zum Schlechten gewandelt hatte.
Alles, was Kyle über sein früheres Leben gesagt hatte, war, dass sein Vater irgend so ein Geschäftsmann gewesen war, der aus seinem Job hinausgeschmissen worden war und seine Aktien verloren hatte und der dann mit seinem Mercedes über eine Brücke geprescht war und in einem Fluss geendet hatte.
»Du weißt, dass er uns verarscht, oder?«, hatte Amanda eines Nachts Jose gefragt, kurz nachdem sie begonnen hatte, mit Kyle auszugehen.
»Wie meinst du das?«
»Glaubst du, dass ich ihn bumse, nur um dich scharf zu machen?«
Er wurde rot, konnte aber seine Geilheit nicht abstreiten. Es machte ihm Spaß ihr zuzusehen, wie sie mit anderen Jungs ´rummachte, obwohl es ihn gleichzeitig auch anpisste. Alles, was er wirklich wollte, war, sie zu packen und ihr zu zeigen, dass er ein richtiger Mann war, nicht so wie die Bürschchen, mit denen sie herumfummelte. Vielleicht bedeutete das, dass er ein Psychopath war, aber was machte das schon? Sie mochte es, er mochte es und es tat niemandem weh.
Bis eben jetzt zumindest.
»Er hat den Arsch voll Geld«, sagte sie in dieser Nacht. »Der Camaro ist so etwas wie seine Verkleidung. Die ganze Sache mit seinem Vater, dem unglücklichen Geschäftsmann, der sein ganzes Geld verliert und sich ertränkt, die ist erfunden. Ok, nicht alles davon. Sein Alter ist tatsächlich reich, aber er hat sein Vermögen nie verloren und er hatte auch nie einen Autounfall.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat es mir erzählt.«
»Was? Dass er reich ist?«
»Er hat mir sein Haus gezeigt, eine verfluchte Villa hinter einem schmiedeeisernen Tor mit Wächtern und Landschaftsgärtnern und einem kleinen schwarzen Zwerg mit einer Laterne in der Hand. Ein Butler öffnete uns die Tür. In Wahrheit fährt er einen BMW, das heißt, wenn er nicht auf arm tut.«
»Is´ nicht wahr!«
»Hab´ seinen Vater getroffen. Der Kotzbrocken fährt einen Bentley.«
»Warum hängt er dann mit uns ´rum?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Billiger Nervenkitzel. Warum gibt jeder von uns vor etwas zu sein, was er nicht ist?«
»Und er ist also dein Märchenprinz?«
»Ich bin entweder seine Prinzessin oder seine Hure. Das ist mir egal. Letztendlich ist es ein- und dasselbe. Aber vielleicht springt da noch mehr ´raus.«
Diesen Ausdruck hatte er zuvor noch nie in ihren Augen gesehen. Er war kalt und dunkel und besaß eine geheime Bösartigkeit, wie eine glatte Höhle um Mitternacht, bevor alle Fledermäuse hinaus schwirren.
»Wovon sprichst du?«
Sie überlegte einen Moment lang, so als ob sie sich entscheiden müsste, ob sie ihm tatsächlich vertraute oder nicht. Oder als ob sie sich entscheiden musste, ob er wirklich ein Psycho war oder doch nicht. Vielleicht hatte all das Geplänkel zuvor zu ihrer großen Chance geführt. »Er ist in jedem Fall fein ´raus. Aber Leute wie du und ich, wir müssen unser Glück selbst in die Hand nehmen.«
»Du meinst du und ich? Also ›wir‹?«
Sie küsste ihn und leckte dann mit ihrer Zunge leicht über seine Wange, bis ihre Lippen an seinem Ohr waren. »Außer du bist zu feige, um es ernst zu meinen«, flüsterte sie.
Er dachte an seine Mutter mit ihrer Arbeitsunfähigkeit, an seine eigene Zukunft als Schulabbrecher und an all die Jobs, die Scheißkerle wie Kyles Vater nach China geschifft hatten. Kyle hatte alles. Was war falsch daran, ein kleines Stück davon abschneiden zu wollen?
Sie drückte sich an ihn und schon gab es da nichts mehr zu diskutieren.
In dieser Nacht hatten sie begonnen, alles zu planen, aber das letzte Steinchen des Mosaiks wurde erst dann gelegt, als Sven mit seiner Gang von getreuen Anhängern ins Fleisch-Camp geschickt wurde und Jose ihm gesagt hatte, dass er ungefähr wusste, wo der Ort war und dass er ihn vielleicht mit irgendeinem Zeug high machen konnte, während sie dort draußen waren. Jose wollte eigentlich gar nicht dort hinauf gehen, aber dann sah ihn Amanda bedeutungsvoll an und er wusste, dass sie sich etwas ausgedacht hatte.
Es stellte sich heraus, dass sie in den Felsen eine kleine Höhle entdeckt hatte, als sie einmal mit einem Freund hier oben war. Eine Felsspalte, die so tief wie eine Grabkammer war, von allem unberührt bis auf Bären und Waschbären und die alle heiligen Zeiten von Schwarzbrennern aufgesucht wurde. Es war fast schon lächerlich einfach gewesen, Kyle hierher zu locken. Die Aussicht auf Gras und Sex hatten ihm schon gereicht.
»Fühlst du dich besser?«, fragte sie, als sie ihre Zunge aus seinem Mund zog.
Er nickte und blickte über die Waldlichtung. »Es war ausgemacht, dass du wartest, bis wir da drüben sind.« Er deutete auf einen kleinen Steinhaufen, den er auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung neben einem Baum aufgetürmt hatte. Nicht, dass es etwas ausgemacht hätte - Steine gab es überall.
»Ich wollte nicht länger warten«, gab sie zur Antwort. »Ich hatte schon sowas von genug von ihm.«
Schließlich schaute Jose auf den leblosen Körper seines »Freundes«.
Süßes, süßes Gift, nicht wahr.
»Komm jetzt, schaffen wir ihn dort hinüber, bevor die Geier über uns zu kreisen beginnen.«