KAPITEL 31
Das Wesen, das früher Freddie gewesen war, sah den hängenden Mann nicht als Menschen, sondern erkannte nur, dass er Nahrung war. Essen, das der Falle nicht entkommen konnte. Freddie grinste und gluckste und näherte sich dem hängenden Fleisch.
Freddie war einmal ein ganz anständiges Kind gewesen, das in einer friedlichen Vorstadt gewohnt hatte. Dann hatte er sich mit Typen angefreundet, die seine Lehrer als »unpassend« bezeichneten, und irgendwie hatte das schon genügt, dass die Leute dachten, er wäre ein Versager. Die Nachbarn schüttelten den Kopf und sahen ihn mit diesem Blick an, der ihm sagte: Oh, wie schade. Zum Teufel mit ihnen. Sie dachten ohnedies schon, er käme auf die schiefe Bahn, warum sollte er ihnen dann nicht diesen Gefallen tun? Er war in einem kleinen Supermarkt mit einem 6-er-Pack Bier unter seiner Jacke ertappt worden.
Alle seine lahmen Freunde flohen, aber Freddie verpfiff sie nicht. Dem Polizisten, der ihn festnahm, sagte Freddie, dass sie ihn sogar in den Bau stecken könnten. Selbst dann würde er nichts ausplaudern. Der Polizist grinste: »Du wirst schon noch reden.«
Aber das hatte er nicht getan. Freddie war keine Petze. Er war zum ersten Mal straffällig geworden, was bedeutete, dass sie ihn laufen ließen, allerdings nur in Kombination mit dem Versprechen, dass er »Schritte zur Besserung unternehmen« würde. Und so wurde er hierher geschickt.
Toller Schritt.
Einer von Freddies Armen baumelte beim Gehen nutzlos an seiner Seite. Ein paar Mal stolperte er vor Gier, möglichst schnell an den alten Mann heranzukommen. Gehen. Fressen.
Der Mann roch faulig, aber das störte das Freddie-Ding nicht. Süß oder faul, Fleisch war Fleisch. Der Mann bewegte sich nicht einmal, versuchte nicht seine Füße aus der Strickleiter zu befreien, schrie nicht aus Angst. Aber er war nicht tot. Freddie wusste das, obwohl er sich nicht im Klaren war, wieso er dies wusste.
Er blieb ein paar Zentimeter von dem Mann entfernt stehen und sein Grinsen wurde noch breiter. Schleimiger Rotz rann ihm übers Kinn und triefte zu Boden.
Das Freddie-Ding schnüffelte am hängenden Mann und gluckste. Mit seinem guten Arm packte Freddie die wenigen Haare, die dem Mann noch geblieben waren. Er zog seinen Kopf entschlossen an seinen weit geöffneten Mund heran.
Da schlug der Mann die Augen auf.
Zu spät um zu schreien, dachte das Freddie-Ding in einem außergewöhnlichen Moment geistiger Klarheit.
Etwas stürzte von hinten an ihn heran. Er konnte fühlen, wie es durch die Luft auf ihn zu flog, aber er drehte sich nicht um, bevor das, was immer es auch war, ihn hart in den Rücken traf. Er erinnerte sich in den Tiefen seines Gehirns, wie der Polizist ihn am Kragen seiner Jacke gepackt hatte, wie sich diese um die gestohlenen Bierdosen gespannt hatte, und er herumgewirbelt wurde.
Für einen Moment war Freddie wieder zurück in seinem früheren Ich, zurück in seinem »Moment der schlechten Entscheidung«, wie seine Mutter es genannt hatte. Dann schoss etwas wie Schmerz — aber auch wieder nicht exakt gleich, da Schmerz für ihn aufgehört hatte zu existieren — in seinen Nacken. Das Grinsen wich aus seinem Gesicht, er stolperte weg von dem hängenden Mann und schlug auf den Boden auf.
»Wir haben ihn«, sagte eine Frauenstimme.
»Du bist der beste Schütze, den Blue Ridge je gesehen hat«, kommentierte der hängende Mann.
Das Freddie-Ding versuchte den Fremdkörper, der sich in seinen Rücken gebohrt hatte, in die Hände zu bekommen, konnte ihn aber nicht erreichen. Er krümmte sich verwirrt im Staub. Laufen. Laufen. Laufen. Er grunzte und stöhnte, war aber unfähig, seine Füße zu kontrollieren. Unfähig, die panischen Befehle seines verkommenen Gehirns zu befolgen.
Leute näherten sich. Er hörte Schritte. Dann Stimmen.
»Armer kleiner Kerl«, seufzte die Frau.
»Lass´ ihn leiden«, sagte der Mann schroff. »Und lass mich endlich runter, um Himmels willen.«
- - -
Samantha war am Telefon und Lewis stand wieder am Mikroskop. Er konnte immer noch nicht glauben, was er da zu sehen bekam. Die Zellen sollten eigentlich tot sein und trotzdem waren sie aktiv: Sie lebten nicht nur, sondern teilten, veränderten und vervielfältigten sich rasend schnell.
Samantha drehte sich vom Telefon weg. »Der Sheriff ist nicht in seinem Büro. Sie sagen, dass er zum Fleisch-Camp hinaufgefahren ist.«
»Denkst du, dass da etwas passiert ist?«, murmelte Lewis und wandte sich wieder dem Mikroskop zu.
»Die Notrufzentrale sagte, dass auch noch andere Hunde als vermisst gemeldet wurden. Auch ein Junge ist ihnen als abgängig gemeldet worden.«
»Wir sollten die zuständigen Behörden verständigen.«
Diese verdammten Dinger hörten einfach nicht auf, sich immer weiter zu vervielfältigen.
»Zuerst sollten wir uns ganz sicher sein. Das letzte Mal, als wir angerufen haben, waren sie nicht sonderlich erfreut.«
»Eine tollwütige Ziege ist in jedem Fall eine Bombennachricht, egal, was sie dazu sagen wollen.«
Samantha setzte schon zu einer Antwort an, als ein schabendes und klopfendes Geräusch sie wieder verstummen ließ. Es kam aus dem Nebenraum.
»Hast du die Hunde für die Nacht hereingebracht?«
»Ja«, antwortete sie. »Da hinten ist eigentlich nichts mehr außer …«
Sie wechselten einen ebenso besorgten wie verwirrten Blick.
Da hinten war nichts bis auf einen toten Hund.
Klopf. Klopf.
- - -
Delphus musste noch ein paar Minuten ausharren, dann hatten ihn Eva Dean und Jenny losgebunden. Freddie, einer der Camper, wand sich am Boden, wobei der Schaft eines Pfeils aus seinem Rücken herausragte. In seinem Schmerz konnte Freddie keine Wörter formen, stattdessen brachte er nur ein seltsam ersticktes, feuchtes Röcheln hervor. Er würgte immer wieder eine schwarze, blutige Substanz hervor. Eva Dean musste sich selbst zurückhalten, um ihm nicht zu Hilfe zu kommen. Sie hatte eingesehen, dass es momentan nichts gab, was sie tun konnte.
Ein anderes Kind — es sah aus wie Benny — war oben auf einer der hölzernen Plattformen, und produzierte einen seltsamen Laut, eine Mischung aus Heulen und Glucksen. Er stand aufrecht da, aber irgendwie war er da oben auch gefangen. Es musste ein Virus sein oder so etwas Ähnliches wie ein Virus. Menschen wurden nicht einfach verrückt. Jedenfalls nicht so. Wahnsinn war ja nicht ansteckend.
Sicherlich gab es Phänomene von Massenaggressionen, die in der Geschichte der Menschheit schon zu Genozid geführt hatten. Aber diese Art der sozialen Infektion griff normalerweise langsam und systematisch um sich, und wurde von ein paar wenigen, aber mächtigen Psychopathen genährt. Delphus klopfte den Schmutz von seinem Overall und warf ihr seinen »Was-hast-du-denn-erwartet«-Blick zu. Sie sagte ihm, er solle seine Gedanken ruhig aussprechen. »Was aussprechen?«
»›Ich hab´s dir ja gesagt.‹«
»Ich hab´ gesagt, dass das Camp eine Scheißidee war.«
»Was hast du mit Benny da oben angestellt?«
»Ich? Dieses kleine Spatzenhirn hat versucht, mir mit bloßen Händen die Eingeweide herauszureißen.« Delphus machte ein paar schwankende Schritte und schaute zu dem zappelnden Jungen hinauf. »Ich habe ihn mit meinem Taschenmesser festgenagelt. Der verdammte Idiot kann sich nicht erklären, warum er feststeckt.«
»Wie ein Zombie?«, fragte Jenny.
Delphus zuckte mit den Schultern. »Da laufen noch massenhaft solche Halbstarke herum. Wie viele von diesen Pfeilen hast du noch?«
»Drei.«
»Also verschwende keinen an ihm dort.«
»Sollen wir ihn einfach da oben lassen?«, wollte Eva Dean wissen. Das war nicht ok, egal, was das arme Kind auch angestellt hatte.
»Jetzt halt mal die Luft an«, fuhr Delphus sie an. »Ich sehe es dir an. Du willst ihm helfen. Du glaubst, du kannst sein Leben umkrempeln und ihn auf den richtigen Weg bringen. Gut, aber jetzt hör mal genau zu! Einige von denen sind so tief in den Arsch des Teufels gekrochen, dass es nicht mehr möglich ist, sie wieder ins Licht zu holen.
»Aber ich muss es versuchen —«
»Wenn du versuchst ihm zu helfen, wird er dir zum Dank deine Lippen abbeißen.« Delphus ging zu Freddie, der immer noch stöhnte, aber schon leiser geworden war und packte den Pfeil fest in seiner Faust. Er drehte ihn ein paar Mal herum und Freddie zuckte und ächzte.
»Daddy, hör auf damit!«
»Kleiner Bastard«, fauchte Delphus. »Versuch mal mein Gesicht zu fressen.« Der Pfeil löste sich mit einem widerlichen, nassen Sauggeräusch. Er hielt ihn in die Höhe. Verklumpte Masse klebte auf der Pfeilspitze.
Er gab ihn Jenny. »Jetzt hast du vier Pfeile.«
- - -
Samantha und Lewis standen vor der Tür, die den hinteren Raum vom Labor abtrennte. Von der anderen Seite hörten sie zweifelsfrei etwas schnüffeln und winseln und an der Tür kratzen.
»Du bist dir sicher, dass der infizierte Hund der einzige da drinnen ist?«, fragte er.
»Absolut.«
»Der tote Hund.«
»Ja.«
Das Kratzen wurde beharrlicher. Wie ein Hund, der spielen wollte. Oder attackieren.
»Und er hört sich gar nicht mehr so tot an.«
»Nein.«
Lewis warf einen Blick zurück auf das Mikroskop und nahm dann die Türschnalle in die Hand. »Soll ich?«
»Wie in der Fernsehshow ›Die Dame oder der Tiger.‹«
»Oder ein billiger Remake von Stephen Kings ›Friedhof der Kuscheltiere‹«.
»Kann sein, dass von der Sorte noch mehr da draußen sind.«
Gegen seinen Willen musste er grinsen. »Wie groß ist deine wissenschaftliche Neugier?«
Sie lächelte. »So groß wie meine Liebe zu dir.«
Er seufzte. »Verdammt. Schätze, es ist unsere berufliche Pflicht nachzuschauen, ob im Fleisch-Camp alles in Ordnung ist.«
»Entweder das, oder wir warten hier, um zu sehen, ob das Ding für Menschen ansteckend ist und ob wir schon infiziert sind.«
»Ich hatte immer gehofft, in deinen Armen zu sterben. Ich wollte nur nicht, dass es schon so früh sein würde.«
»Du bist so romantisch.«
»Nein. Ich habe nur Angst.«
Das Kratzen war hoch oben an der Tür. Der Hund winselte mit einem schrecklichen, keuchenden Laut. Lewis tat der Hund leid. Wie konnte er ihm nicht leid tun. Sie sollten ihn wirklich einschläfern.
Aber - war er nicht ohnedies schon tot?
Das Kratzen hörte auf und Lewis begann den Türknopf zu drehen. Samantha berührte seine Hand.
BUUUM. Die Tür erzitterte.
Sie nickten sich zu und entfernten sich von der Tür.
- - -
Sven hatte immer noch sein Gehirn, aber er wusste nicht mehr, wie er es nutzen konnte. Sein Verstand dachte immer wieder an ein und dasselbe: Laufen.
Er rang nach Luft und hatte einen Schweißausbruch. Zweige hatten sein Hemd zerschlissen und ihm ins Fleisch geschnitten. Er sah so aus, als wäre er attackiert worden. Diese Tatsache konnte Sven am eigenen Leib spüren.
Er rannte so lange, bis der stechende Schmerz in seiner Seite zu stark wurde. Er blieb stehen, die Hände auf seine Knie gestützt und versuchte die Ohren zu spitzen, während er Luft einsog. Eine Eule heulte.
»Die Scheiß-Eulen sind zu nichts gut«, brachte er zwischen den Atemzügen hervor.
Etwas ober ihm stand eine schäbige Hütte mit einem geschnitzten, zunehmenden Mond in einem seltsamen Winkel, so als ob das Ding gleich versinken würde. Das Scheißhaus des alten Fraley. Ekelhafter Bastard.
Ein Zweig knackte in seiner Nähe. Sven blieb stehen, blickte sich um. Ein weiterer Schlag von einem Zweig ließ ihn in Richtung Hütte lossprinten. Mehrere Zweige knackten und Blätter raschelten. Er versuchte gleichzeitig überall rund um sich herum zu schauen, aber er sah nichts. Er lief schneller und die schlagenden, raschelnden Geräusche wurden genauso lauter wie schneller aufeinander folgend.
Er rannte. Etwas verfolgte ihn. Es schnitt durch das Dickicht, schlug sich schnell durch Äste und Zweige, über Blätter und unebenen Boden.
Sven pochte das Herz im Hals. Er würde es nicht schaffen, was auch immer hinter ihm her war, es würde ihn erwischen, ihn aufreißen und fressen. Aber so wollte er nicht sterben, nicht wie ein wehrloses Tier. Nicht wie Pedro.
Es tut mir leid, Kumpel. Nimm es mir bitte nicht übel.
Die Schritte, die ihm hinterherjagten, wurden immer schneller, aber er schaffte es bis zu dem Häuschen, riss die Tür auf, stolperte hinein und knallte die Tür wieder zu. Er fummelte am klapprigen Schloss herum, bis es an der richtigen Stelle einrastete.
Er presste sein Gesicht gegen die Tür, um durch ein Astloch hinaus zu spähen. Er sah niemanden da draußen. Wer auch immer ihm nachgestellt hatte, derjenige war irgendwo außerhalb seiner Sichtweite stehen geblieben. Gott, er würde bis in alle Ewigkeit in diesem stinkenden, kleinen Häuschen bleiben müssen.
Etwas bewegte sich hinter ihm. Er fühlte eine Gegenwart, noch bevor er das schleimige Aufklatschen von Scheiße auf dem Boden hören konnte.
Er drehte sich langsam zu Wallace um, der in der Hütte im Loch des hölzernen Plumpsklos stand. Klumpen von brauner und grüner Kacke tropften von seinem Gesicht. Seine Augen flackerten in seinen Augenhöhlen. Der Geruch der Fäkalien war so stark, dass er Sven Tränen in die Auge trieb. Aber vielleicht war das nicht der einzige Grund, warum er weinte.
Wallace griff nach Sven, der nicht einmal mehr schreien konnte.
Nicht einmal, als Wallace ihm die Nase abbiss.