KAPITEL 14
Sheriff Wayne Hightower war sechsunddreißig Jahre alt, hager und sehr gepflegt. Genau wegen seines gepflegten Auftretens war er auch zum Gesetzeshüter gewählt worden. Deswegen und wegen seiner republikanischen Gesinnung. Obwohl North-Carolina bei den Präsidentschaftswahlen auch schon den Kandidaten der Demokraten gewählt hatte, sahen die Ortsansässigen doch lieber einen Republikaner an der Spitze der örtlichen Polizei. Und Hightowers militärisch kurzer Haarschnitt entschädigte zumindest teilweise für seine Herkunft aus den Nordstaaten.
Mit seinem Yankee-Akzent fiel er in diesen Breiten ohnehin so auf wie der Präsident, wenn dieser mit seiner motorisierten Eskorte unterwegs war. Wie den Präsidenten behandelten ihn die Ortsansässigen allerdings nicht. Er konnte von Glück reden, wenn ihm ein bescheidenes Maß an Freundlichkeit entgegengebracht wurde. Und das fing schon beim Grüßen an.
Hightower war ein Nordstaaten-Polizist gewesen. Gearbeitet hatte er in dem Städtchen Rocksburg, das in der Nähe von Pittsburgh war und wie sein kleiner Bruder versuchte, Pittsburgh auf jede Art und Weise zu kopieren. Jeder in Rocksburg glaubte, dass dieser Großstadt-Neid schon begonnen hatte, noch bevor die Stadt ihren Namen bekam. Rocksburg hatte weniger als fünfzigtausend Einwohner, dafür aber nicht nur eine hohe, sondern auch eine steigende Kriminalitätsrate. Polizisten, die sich auf den Straßen von Rocksburg beweisen konnten, wurde eine Versetzung in die besseren Bezirke von Pittsburgh und Philadelphia in Aussicht gestellt.
Und für so manchen endete diese Versetzung mit einer Kugel im Kopf. Sei gut, aber nicht zu gut, war das Motto im Polizeirevier von Rocksburg City. Wenn du zu gut warst, dann konnte es sein, dass du irgendwo als Straßenpolizist mit deinem Gesicht in einer Blutlache endetest.
Da gab es allerdings noch eine andere Möglichkeit für die Polizisten, die eine solche Versetzung vermeiden wollten. Sie flohen. Hightower hatte keine Frau oder Kinder, sodass er bereits ziemlich genau in dem Moment, als er in Rocksburg auf der Straße zu patroulieren begann, nach einer guten Fluchtmöglichkeit suchte. Seine Eltern wohnten dort, aber seine familiären Verpflichtungen reichten auch nicht aus, um dafür Kopf und Kragen zu riskieren. Er hatte viele andere Jobangebote in anderen Städten gefunden, hatte sich sogar bis nach Newburgh, New York, vorgewagt, nur um herauszufinden, dass dieser kleine Orte viel schlimmer war, als es die Straßen von Rocksburg jemals sein konnten.
Einige seiner Kumpel hatten behauptet, dass man mit der Erfahrung, die man als Großstadtpolizist gesammelt hatte, zu jedem kleinen Ort im Süden oder Westen der USA gehen konnte und dort zum Sheriff auf Lebenszeit gewählt würde. Das war ein Scherz, natürlich, aber die Vorstellung reizte ihn. Und ein bisschen in der Lokalpolitik mitzuspielen musste einfacher sein als in seinem Polizeirevier, wo es permanent darum ging, dass die guten Polizisten den Schaden wieder gut machen mussten, den die korrupten Polizisten verursacht hatten.
Für ein Weilchen hatte Hightower versucht, den Gedanken beiseite zu schieben. Dann hatte ein nackter Kerl, der in einem schäbigen Mietshaus lebte, wo die Mauern abbröckelten, als würden sie konstant ausdünsten, versucht, eine Axt in Hightowers Kopf zu versenken. Er hatte zusammen mit einer ganzen Crew von bewaffneten Polizisten an die Tür eines mutmaßlichen Drogendealers geklopft. Hightower war mit gezückter Waffe das Schlusslicht des Einsatzkommandos gewesen. Das war das erste Mal gewesen, dass er im Dienst seine Pistole aus dem Halfter gezogen hatte.
Sein Freund Charles Rickman hatte bemerkt, wie Hightowers Hand zitterte. »Mach dir keine Sorgen, Kumpel, die echten Cops erledigen das schon. Du hältst dich im Hintergrund.« Hightower war nicht einmal dazu fähig gewesen, darauf etwas zu entgegnen.
Die Cops hatten die Tür aufgebrochen und waren losgestürmt, schrien jedem, den sie drinnen antrafen, Befehle zu. Hightower zögerte im Gang. Im Apartment schrie eine Frau und dann auch noch ein Mann. Ihre Stimmen hallten den Flur entlang. Eine Tür auf der anderen Seite des Korridors ging auf und ein massiger Kerl mit Bierbauch stand vor ihm. Er war nackt und hielt eine Axt in beiden Händen.
Seine Augen, die in sein teigiges Gesicht gequetscht waren, waren wild und voll kalter Wut. »Ich brauche Brennholz«, sagte der Mann. »Ich muss es spalten.«
Hightowers Waffe zeigte auf den Boden. Er hob seine andere Hand in einer Geste, mit der er sein Gegenüber beruhigen wollte. Sein Herzschlag sprengte fast den Brustkorb. Seine Schuhe schnürten seine Füße so sehr ein, dass sie vor Schmerzen pochten. Er platzte fast vor Hitze.
»Ich brauche Brennholz«, wiederholte der Mann. Er trat auf den Flur. Sein Bauch schwabbelte. »Muss hacken. Hack-hack.«
»Sir, beruhigen Sie sich und nehmen Sie die …«
»Brennholz spricht nicht. Es wird gespaltet!«
Der fette Mann hob seine Axt und kam auf Hightower zu. Alles, was Hightower hätte tun müssen, war, seine Waffe auf den Mann zur richten und abzudrücken. Stattdessen wich Hightower zurück, stolperte über seine eigenen Füße, die sich wie Ziegelsteine anfühlten, und fiel zu Boden. Die Axt schoss hinunter und er sah, wie die nackten Glühbirnen im Gang die glatte Klinge der Axt reflektierten. Das wird das Letzte sein, was ich jemals sehe, dachte er.
Die Axt sauste in seine Richtung, aber der fette Mann konnte sie nicht kontrollieren, und so schrammte die Klinge an Hightowers Gesicht vorbei und schlug in die Wand ein. Der fette Mann knurrte. Er knurrte tatsächlich so, als wäre er eine wilde Bestie. »Hack-hack-hack!«
Er zog die Axt aus der Wand, wabbelte einen Schritt zurück und hob die Axt hoch über seinen Kopf. Charles Rickman stand in der Tür, wollte wissen, was los sei, legte seine Waffe an, gellte »Hände hoch!« und feuerte. Eine Hälfte des Gesichts des Mannes spritzte auf die Wand, die andere auf Hightower. Die Axt schlug dumpf auf dem Boden auf.
Rickman sah Hightower mit solcher Verachtung an, dass dieser sich fühlte wie ein kleines Kind, das am Spielplatz verprügelt worden war. Noch am gleichen Abend machte jeder seine dummen Kommentare. Wenn du einfach nur so daliegst wie Brennholz, dann kannst du es dem Typen nicht verübeln, dass er dich zerhacken will. Verdammt, Mann, hab´ gehört, was passiert ist, darf ich dich was fragen: Wirst du jemals deine Waffe gebrauchen?
Der Spitzname ließ nicht lange auf sich warten: »Brennholz.« Sogar der Polizeichef benutzte ihn.
Also suchte Hightower nach einem Ausweg und fand diesen hier in den Appalachen, am Arsch der Welt. Keine Morde. Sehr wenig Kriminalität. Ein paar Vandalenakte und freitagnachts Prügeleien unter Betrunkenen. Kinderkram. Egal, was seine Kollegen – seine ehemaligen Kollegen – sagen mochten, aber das war viel besser als beinahe von einem fetten Psychopaten zu Kleinholz verarbeitet zu werden.
Er wusste, worauf er sich einließ, als er sich als Außenseiter der Wahl zum Sheriff stellte, aber glücklicherweise war der andere republikanische Kandidat bei einem Diebstahl erwischt worden und der demokratische Kandidat erzielte nur ein Drittel der Wählerstimmen. Generell brachten die Leute dem Amt wenig Respekt entgegen, zumindest seinem Amt. Sie kümmerten sich lieber selbst um ihre Probleme. Deshalb war er auch nicht sonderlich verwundert, als er zu Delphus Fraleys´ heruntergekommenem Farmhaus einbog und den alten Delphus mit einem doppelläufigen Gewehr auf die Veranda treten sah.
Auf der Veranda wirbelten ein paar Blätter um Delphus´ Füße, der dort mit seiner Büchse an der Hüfte stand wie Chuck Connors, der Held der alten Fernsehserie »Westlich von Santa Fe«. Sein ganzes Leben lang hatte Connors nie wirklich mit seinem Gewehr auf etwas gezielt, er hatte es immer nur neben seinem Bein hervorgeholt und imposant in der Hand gehalten. Ein Schuss aus der Pistole war eine Frage des Glücks. Aber ein Gewehr eliminierte das Element des glücklichen Zufalls, da es auf kurze Distanz kaum sein Ziel verfehlte.
Hightower ließ seinen Streifenwagen in die Auffahrt rollen, stellte den Motor ab und stieg aus. »Guten Abend, Mr. Fraley«, sagte Hightower und berührte zum Gruß seinen Hut.
Eva Dean, die besser aussah als viele Frauen, die nur halb so alt waren wie sie, trat auch auf die Veranda heraus. Sie war zumindest nicht bewaffnet. »Benimm dich möglichst normal, Daddy.«
»Eva Dean.« Hightower nickte ihr zu und sie lächelte leicht zurück.
»Sie waren schnell da, wenn man bedenkt, dass dieses Jahr keine Neuwahl ansteht«, sagte Delphus. Er ließ seine Knarre ein wenig sinken. Wenn er sie jetzt abfeuerte, würde der Schuss Hightower wahrscheinlich in die Füße treffen.
»Würden Sie das Gewehr bitte ganz sinken lassen, Sir? Ich wollte dieses Wochenende tanzen gehen.«
»Wir hatten ein paar Probleme, Sheriff«, sagte Eva Dean.
»Nun ja, ich fürchte, deshalb bin ich hier. Es ist eine Meldung eingegangen, es geht um das Camp.«
Delphus drehte sich zu seiner Tochter um. »Ich hab´s dir gesagt. Nichts als Probleme.«
»Wir haben einen Fall von Vandalismus zu beklagen«, wandte sich Eva Dean an Hightower.
»Im Camp?«
Delphus zeigte mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten. »Sieht so aus, als ob ein paar von denen einmal so richtig Spaß haben wollten.«
»Daddy, du solltest niemanden beschuldigen …«
»Halten Sie deshalb das Gewehr schussbereit?«, fragte Hightower Delphus. Es würde ihm immer noch die Füße wegschießen, aber er wollte sich nicht noch einmal bloßstellen, besonders nicht vor Eva Dean. Und trotz der Wut in den Augen war Delphus noch weit vom Hack-Hack entfernt.
Delphus blickte an sich herunter und schien überrascht zu sein, das Gewehr in seinen Händen zu halten. Er war dankenswerterweise nicht genug überrascht gewesen, um den Abzug zu betätigen.
»Fehlt drinnen etwas?«, fragte der Sherriff.
»Nichts, was uns auf den ersten Blick abgeht«, antwortete Eva Dean. »Sieht so aus, als ob sie hauptsächlich auf Zerstörung aus gewesen wären.«
»Ich hab ihnen gesagt, ich jage ihnen eine Ladung Schrot in den Arsch, wenn sie Ärger machen«, sagte Delphus. »Und ich stehe zu meinem Wort.«
»Wir werden der Sache gründlich nachgehen«, versprach Hightower. »Aber zuerst gibt es da noch eine ernstere Angelegenheit. Eine Mutter hat ein Kind aus Ihrem Camp als vermisst gemeldet. Als er zuletzt gesehen wurde, ging er die Straße zum Fleisch-Camp hinauf. In diese Richtung.«
»Oh Gott«, entfuhr es Eva Dean. »Welches Kind?«
Hightower zog ein Foto aus seiner Brusttasche und hielt es ihr hin. Eva Deans Gesichtsausdruck verriet ihre Überraschung, aber auch sofortige Besorgnis. »Wallace Jenkins«, sagte Hightower.
»Der Sohn des Anwalts«, murmelte Eva Dean.
»Heiße Scheiße«, fluchte Delphus. »Wir werden ihn den ganzen Tag und die ganze Nacht lang suchen müssen und dann zu allem Überfluss auch noch geklagt werden. Ich hab mir schon gedacht, dass sich die Anwälte diesen Ort vorknöpfen werden, so oder so.«
»Wahrscheinlich ist er weggelaufen«, sagte Hightower. »In den ersten vierundzwanzig Stunden können wir ihn offiziell noch nicht als vermisst erklären. Aber wenn Max Jenkins davon erfährt, dann ist die Hölle los.«
Hier draußen funktionierte das Leben so, dass man leicht herausfinden konnte, wer das Sagen hatte. Die nämlich, die in vielerlei Hinsicht über dem Gesetz standen. Max Jenkins hatte Hightower in seinem Wahlkampf unterstützt, so wie er fast immer den richtigen Riecher hatte, wenn es darum ging, irgendwelchen Kandidaten den Rücken zu stärken, die dann vor Gericht, in etwaigen Kommissionen oder lokalen Grund- und Bodenbehörden gewannen. So erstreckte sich sein Einfluss auf fast alle Gremien der Stadtverwaltung. Hightower wusste, was er von Jenkins zu halten hatte. Max schwang Äxte von ganz besonderer Art.
»Glauben Sie, dass er das Camp verlassen hat?«, fragte Eva Dean.
Hightower zuckte mit den Schultern. »Vielleicht versteckt er sich im Wald. Sein Strafregister ist ein einziger lauter Ruf nach Aufmerksamkeit.
»Ja«, unterstrich Delphus. »Wenn du dazugehören willst, dann geh einfach dorthin, wo es viele von deiner Sorte gibt. In diesem Fall zu rotznasigen, drogenschnüffelnden Missgeburten.«
Eva Dean ignorierte ihn und trat einen Schritt nach vorn. »Sollen wir mit Ihnen zum Camp hinüber fahren?«
»Das wird das Beste sein. Könnte helfen, dass alle Ruhe bewahren. Die meisten dieser Kids sind schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten und würden in Panik geraten, wenn ich mit Blaulicht und blitzender Dienstmarke auftauche.«
Sie gingen die Veranda hinunter. Delphus schwang sich sein Gewehr über die Schulter. »Vielleicht können wir uns gleich die vornehmen, die unser Haus verwüstet haben.«
»Lassen Sie Ihr Gewehr da, Mr. Fraley.«
»Was, wenn die verrückt geworden sind?«
»Sie können nicht mal halb so verrückt sein wie du«, überzeugte Eva Dean ihren Vater.
»Heiße Scheiße.« Delphus warf seine Knarre in den verrosteten Pickup in der Auffahrt und schloss die Tür ab.
»Ich hab gehört, dass Max Jenkins versucht hat die Farm aufzukaufen«, sagte Hightower zu Eva Dean.
Sie sah ihn mit ihren jung gebliebenen, blauen Augen an. Die Fältchen rundherum verschwanden, als sie ihn mit ihrem Strahlen blendete. »Er hat ein Angebot gemacht, aber Daddy hat ihn abgeknallt.«
»Ich hoffe, Sie meinen das im übertragenen und nicht im wahren Sinn des Wortes.«
»Sie brauchen nicht zu glauben, dass ich Ihre hochtrabenden Worte nicht verstehe«, sagte Delphus. »Ich bin nicht so dumm wie ich aussehe.«
Dann ist ja alles bestens. Der Sheriff lächelte Eva Dean an. »Vielleicht ist es ja auch nur ein Zufall, aber ich trage gern alle Teile des Puzzles zusammen.«
»Nun, wenn sein Jungchen mein Haus verwüstet hat, dann können Sie ziemlich sicher sein, dass Max und sein kleiner Flegel in vielen kleinen Teilen enden werden«, sagte Delphus, als er auf der Rückbank des Streifenwagens Platz nahm.
Hightower war froh, dass sich Eva Dean vorne hinsetzte. Nicht nur, dass der alte Mann etwas streng roch, Eva Dean gab noch dazu ein hübsches Bild ab, als sie den Sicherheitsgurt anlegte. Hightower startete den Wagen und als er in den Rückspiegel schaute, trafen seine Augen durch das metallene Absperrgitter die von Delphus: »Sir?«
»Was denn?«
»Ihr Sicherheitsgurt.«
»Heiße Scheiße«, fluchte Delphus, als er widerstrebend gehorchte.