KAPITEL 9

 

 

Auf halbem Weg über die Lichtung – Jose zog Kyle an den Füßen, das Blut hinterließ Flecken auf dem mit Blättern bedeckten Boden, Amanda ging ein paar Schritte weiter rechts – glaubte Jose etwas gehört zu haben.

Er hielt inne, immer noch mit Kyles Füßen in den Händen, und blickte sich vorsichtig um. »Hast du das gehört?«

»Was gehört?«

Der Wald schwieg, auf den Bergspitzen war niemand mehr zu sehen und sogar die Insekten waren durch die Missetat irritiert verstummt. Keine Zeugen. Mit Sicherheit keine schwarz-bemäntelten Satansanbeter mit Ferngläsern.

»Dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Das sind nur die Bäume«, beruhigte sie ihn. »Da gibt´s eben so seltsame Geräusche. Jetzt beeil dich! Wir müssen dich noch sauber kriegen und wir müssen uns beeilen.«

Jose blickte sich noch einmal um. Er hätte schwören können gehört zu haben, wie sich etwas bewegte, wie etwas die Blätter zusammentrat und hechelte. Vielleicht war er ja auch nur paranoid, immerhin war er in der Wildnis und hatte einen toten Körper in seinen Händen, aber es fühlte sich so an, als ob ihn etwas beobachtete.

Wahrscheinlich ein Reh. Ja, sicher.

»Hast du Kleider mitgebracht?«

»Die sind im Kofferraum. Mach schon, beeil dich!«

Er schleifte Kyles Körper durch das Gras über die Lichtung und ließ ihn in der Nähe des Steinhaufens auf den Boden fallen.

»Das Loch im Felsen ist dort drüben«, protestierte Amanda.

»Ich raste mich doch nur aus.«

»Wenn du willst, dass alles klappt, dann gibt es keine Zeit zum Ausrasten.«

»Und was, wenn etwas schief läuft?«

»Wir verduften und das war´s dann. Hier draußen finden sie ihn nie. Kyle wird als vermisst gemeldet werden und nie wird etwas davon ´rauskommen. Im Handschuhfach hat Kyle etwas Bargeld versteckt.«  Sie schlenderte mit wiegenden Hüften zu ihm. Amanda hatte alles wieder unter Kontrolle. »Es wird schon klappen. Sein Vater wird uns eine Million in bar geben, dann hauen wir ab und im ersten Motel, das wir finden, kippen wir das Geld auf das Bett und wälzen uns nackt darin.«

Trotz der nagenden Angst, dass ihr Coup nicht so einfach werden würde, wurde er zunehmend aufgeregt. »Wird er uns das Geld so ohne Weiteres übergeben? Einfach so?«

»Wenn er es nicht tut, dann sieht er sein Goldkerlchen nie wieder.«

»Aber das wird er ohnedies nicht.«

Sie war jetzt nur mehr fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Sie roch ein bisschen nach Schweiß und Sperma, aber irgendwie mochte er das. Das machte sie so wild und ursprünglich wie der Wald, natürlich und primitiv. »Ach wirklich, mein Einstein?«, flötete sie. »Aber das weiß er doch nicht.«

Sie würde sagen, dass, wenn das Geld nicht innerhalb von einer Stunde übergeben werden würde, ihr Partner seinen wertvollen Sohn töten würde. Der Vater würde sie beschimpfen und fluchen, mit der Polizei drohen, aber Kyle hatte Amanda erzählt, dass Daddy ein paar Milliarden schwer war, und was war dann schon eine Million? Außerdem hatte Kyle ihr versichert, dass sein Vater in verschiedenen Tresoren im Haus mindestens eine Million in bar versteckt hielt.

Der Typ war stinkreich und konnte ruhig davon etwas abgeben.

»Glaubst du wirklich, dass wir damit davonkommen?«

Sie winkte ihn weiter. »Wir werden damit durchkommen und wir werden jeden Blödsinn machen können, den du willst, aber erst, wenn wir unseren Job hier erledigt haben.«

Der Granitfelsen ragte zwischen den Bäumen wie ein antiker Tempel hervor. Aus der Öffnung der Felsspalte entwich kühle Luft, die nach Lehm und Fäulnis stank. Jose verdrängte die verrückte Vorstellung von schwarz gekleideten Figuren, die aus den Tiefen der Höhle aufstiegen.

Wir haben euch die Mühe eines Menschenopfers erspart.

Er ließ Kyles Körper in die Felsspalte fallen.

Der Stein hatte Kyles Gesicht so entstellt, dass Jose nicht mehr sagen konnte, ob die Leiche mit dem Gesicht nach oben oder nach unten zu liegen kam. Er schubste ein paar lose Felsbrocken in das Loch, um die Spuren zu verwischen.

»Gib mir eine Schaufel!«

Amanda sagte nichts und half auch nicht mit.

Als er halb fertig war, hörte Jose wieder etwas im Wald. Er hörte unmissverständlich, dass sich etwas zwischen den Bäumen bewegte: Das Rascheln von Schritten am Boden war eindeutig zu hören. Und da war auch noch ein anderes Geräusch, so ähnlich wie ein Atmen, aber trotzdem irgendwie anders. Ein erkältetes Schnauben vielleicht.

Ein Bär?

Er hörte auf, die Steine in Kyles Grab zu werfen und drehte sich um.

Nicht erkältet, aber so ähnlich. Das Geräusch war ein seltsam schlürfender, schnüffelnder Laut. Vielleicht litt das Tier an irgendeiner Krankheit. Jose hatte sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ob auch wilde Tiere krank werden und zum Beispiel die Grippe aufschnappen konnten, aber er dachte, dass das durchaus passieren konnte.

Oder schnaubte das Tier vor Wut? Auf Discovery Channel zeigten sie Tiere, die einen ziemlichen Anfall bekamen, wenn man in die Nähe ihrer Höhle kam, wenn sie gerade Junge hatten.

Was immer es auch war, es hörte sich sehr nahe an.

»Was machst du?«, raunte Amanda. Sie saß auf einem Stein, kratzte sich den Schmutz unter den Fingernägeln aus und war bereits gelangweilt.

»Diesmal weiß ich, dass ich etwas gehört habe. Ein krankes Tier oder so etwas.«

»Na und?«, fragte sie. »Wahrscheinlich nur ein blödes Eichhörnchen.«

»Vielleicht ist es gefährlich«, gab er zu bedenken. »Vielleicht hat es Blut gerochen.«

»Du bist ja schon fast fertig, gehen wir. Es wird bald finster.«

Er drehte sich noch einmal zum Eingang der Höhle um, erleichtert, dass vom Leichnam fast nichts mehr zu sehen war. Er bekam an den Händen schon Blasen von der Schaufel. Auf ihrer ersten Erkundungstour hatten sie zwei Schaufeln mitgebracht und bereits alles geplant. Dann hatten sie sich von ihrer Aufregung so mitreißen lassen, dass sie es gleich hier miteinander getrieben hatten. Aber Jose hatte nicht bedacht, dass der Boden so steinig war, sodass er mehr Steine auszuschaufeln hatte, als ihm lieb war.

Er hob einen flachen, mit Moos bedeckten Stein auf und hielt ihn über die Grube. Wieder hörte er den Laut. Wahrscheinlich doch irgend so ein krankes oder verletztes Vieh, das sich ihnen auf schweren Beinen entgegen schleppte. Oder vielleicht auch nur ein hungriges Tier. Gott allein wusste, was es mit ihnen anstellen konnte, wenn es erst in ihrer Nähe war.

»Amanda, Ich glaube wirklich wir … «

Er fühlte einen kühlen Luftstoß, der ihm wie ein Warnschrei entgegen wehte, und er duckte sich instinktiv. Trotzdem traf ihn etwas Hartes am Scheitel, vibrierte und machte dabei ein dumpfes, metallisches PLONG.

Er fiel auf seine Knie. Sein Kopf tat ihm noch nicht weh, aber der Schmerz sammelte sich bereits wie ein roter Strom hinter einem infernalischen Damm.

»Scheiße«, raunte Amanda so unbeteiligt, als ob ihr ein Trinkglas zerbrochen wäre.

Er versuchte am Rand der halbgefüllten Grube auf die Beine zu kommen, taumelte und fiel wieder auf seine Knie zurück. Er blickte über seine Schulter zu Amanda.

Sie hielt die zweite Schaufel wie einen übermäßig langen Baseballschläger über ihrem Kopf.

»Was zum Teufel machst du da?«

»Halt einfach still!«, befahl sie. »Das Loch ist groß genug für zwei!«

Sie holte aus.

Wenn sie genauer hätte treffen wollen, hätte sie die Schaufel kürzer greifen sollen.

Die Schlampe hat keine Ahnung vom Töten.

Jose duckte sich wieder, aber das wäre gar nicht notwendig gewesen, da die Wucht ihres Schlages die Schaufelklinge hoch über seinem Kopf vorbeischwingen ließ und sie selbst umwarf. Die Schaufel bohrte sich in den Boden und sie stürzte zur Seite.

Er starrte sie ungläubig an. Er liebte sie, Herrgott noch mal! »Warum?«

Das blonde Haar hing ihr in schweißnassen Strähnen übers Gesicht. »Ich meine es ernst!«, knurrte sie.

Er wollte gerade fragen, was ihr verdammtes Problem war, als sie schon auf ihn sprang, besser gesagt, sich wie eine tollwütige Katze auf ihn stürzte und dabei kreischte. Er packte seine Schaufel und schwang sie schnell herum.

Die Hinterseite des Schaufelblatts schlug glatt und mit einem dumpfen Knall auf die Seite ihres Kopfes. Die Stärke des Hiebs ließ seine Hände vibrieren.

Sie erstarrte, ihre Augen trübten sich und sie fiel wie ein Sack nassen Sandes vorne über. Es war fast schon komisch.

Einen Moment lang bewegte sie sich nicht und er dachte, er hätte sie getötet, aber dann schnappte sie nach Luft und hustete sich selbst wieder ins Bewusstsein zurück. Sie setzte sich auf und machte vor Anstrengung schreckliche Geräusche. Sie klang wie ein verletztes wildes Tier, das besser eingeschläfert werden sollte.

Auf allen Vieren kroch sie zu ihm. Ein grauenhaft angestrengtes, pfeifendes Röcheln drang aus ihrem Mund. Blut rann ihr über die Seite des Gesichts und ihre braunen Augen schielten plötzlich. Das Auge auf der verletzten Seite ihres Kopfes war himmelwärts gedreht.

»Du hast den Plan vermasselt«, stöhnte er und hielt die Schaufel für den nächsten Schlag bereit.

Wenige Meter von ihm entfernt hielt sie inne und blickte ihn wie blöde an.

»Jetzt wird niemand das Geld bekommen.«

Der seltsam schnüffelnde Laut kam wieder aus der Richtung des Waldes, nur diesmal war er schon nicht mehr so weit entfernt.

Jose sah an Amanda vorbei und bemerkte etwas hinter ihr, das nur ein paar Meter entfernt umherschlich. Nicht etwas ˗ jemand.

»Hallo?«

Amanda machte ein schauerlich quietschendes Geräusch, wobei sie ihren Kopf nach vor streckte und sich ihre Adern am Hals blau verfärbten. Es klang so, als ob ein Schwein bei vollem Bewusstsein geschlachtet werden würde.

Die Person trat aus den Bäumen hervor. Sie schaute wie ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind aus, trug Shorts und ein schlabbriges Shirt, auf dem irgendein undefinierbarer Schmutz klebte. Die Figur kam auf unsicheren Beinen schlurfend näher.

»Bist du vom Camp?«, wollte Jose wissen. »Schau mal, es ist nicht das, was du denkst…«

Er stand ganz ruhig und festigte wieder seinen Griff um den Stil. Direkt hinter seinen Absätzen fiel der Rand der Grube steil ab.

Ein Windstoß riss ein Loch in die Wolkendecke und ein plötzlich aufflackernder Sonnenstrahl erhellte das Gesicht des Jungen. Jose erstarrte. Der ist schwerkrank, dachte er.

Die Haut des Jungen warf Blasen und ging in Fetzen ab. Grünlich-lila Schleim tropfte aus einer triefenden Beule unter seinem rechten Auge und vermischte sich mit dem Blut, das aus seinem Mund sickerte. Die aufgeschwollene Oberlippe hing wie eine Missbildung schlapp nach unten. Wie eines von diesen Ebola-Babys in Dritte-Welt-Ländern mit gespaltenem Gaumen und eitrigen Geschwüren.

Amanda quietschte wieder auf und es klang schon etwas besser, so als ob sie nun etwas Luft in ihre Lunge bekäme. Sie blickte hinter sich, und begann erneut zu kreischen, diesmal allerdings vor Schrecken. Ihr schriller Schrei hallte durch den Wald.

Vögel flatterten mit raschen Flügelbewegungen davon.

Der Kerl brachte einen Laut hervor, der so etwas wie »Hallo« hätte sein sollen, der aber eher wie ein Grunzen aus ihm kam.

Ein Zombie, dachte Jose. Das ist tatsächlich so ein verdammter Zombie.

Er stolperte ihnen entgegen und Jose hielt die Schaufel abwehrend über Amanda und zielte auf ihn, sodass der Junge zögerte. Blutiger Speichel rann ihm das Gesicht hinunter und triefte von seinem Kinn. Sein Shirt hing in blutigen Fetzen hinunter. Seine Haut hatte tiefe Kratzwunden, aus denen Blut und abscheulich verfärbter Eiter tropfte.

Das musste ein Tier getan haben. Irgendein tollwütiges Tier hatte den Kerl attackiert und nun war er verrückt geworden, streifte durch den Wald, vollkommen verloren und dazu verdammt, hier draußen allein zu sterben.

Aber möglicherweise konnte er davor noch ein paar andere Leute anstecken. Und diese Seuche verbreiten.

Amanda schrie wieder auf, immer noch erbärmlich, aber irgendwie klang sie etwas natürlicher. Die Augen des Jugendlichen, mit denen auch etwas nicht stimmte – waren sie rot? – wanderten zu Amanda, so als ob er sie erst jetzt bemerkt hätte.

Der Junge grinste, langsam und grausig. Die Tollwut mochte ihm den Verstand geraubt haben, aber eines wusste er ganz genau: Vor sich hatte er leichte Beute.

Viel leichter als an Amanda würde er kaum an Fleisch kommen.

Der Junge steuerte auf Amanda zu. Sie kreischte und versuchte auszuweichen, stieß dabei aber gegen Joses Beine, sodass dieser rückwärts in die Grube taumelte. Dann war der Kerl über Amanda und ihr nächster Schrei war markerschütternd, als sich die Hände des Angreifers in ihren Hals bohrten und er ihr in die Wange biss.

Jose fiel nicht tief und glücklicherweise war der Sturz genau das, was Jose brauchte. Der harte Aufprall brachte ihn wieder zur Besinnung. Dass er davor wie benebelt gewesen war, hatte er gar nicht bemerkt. Er hatte den Jungen schockiert angestarrt, hatte gedacht, er hätte Tollwut, hatte gedacht, er wäre ein Zombie, während er schon längst hätte davonlaufen sollen.

In Filmen vergeudeten die Personen auch immer zu viel Zeit damit zu überlegen. Die cleversten Leute starben am schnellsten, da sie in einer gesunden Welt lebten, in der Ordnung herrschte. Jose, dem es nichts ausmachte ein Psychopath zu sein, stellte hingegen keine unnötigen Fragen.

Er kletterte aus dem Loch.

Amanda stemmte sich dem Jungen entgegen, versuchte ihn abzuwerfen wie ein Stier seinen Rodeoreiter, und brüllte dabei vor Schmerzen. Das Blut strömte ihr über den Nacken, aber der Junge hielt sich auf ihr, verbiss sich in ihre Wange und riss mit seinen Fängen so heftig daran, bis sich ihre Haut nicht mehr dehnen ließ und riss. Das Fleisch schnellte auf ihren Schädelknochen zurück.

Der Junge funkelte Jose an, während Amandas zerfetzte Wange aus seinem Mund baumelte wie einem Hund ein Stück Mortadella.

Wieder schrie Amanda auf. Er sollte sie töten, ihr noch einen Schlag versetzen und ihr so dem Ganzen ein barmherziges Ende machen, aber er wollte nicht näher kommen. Er konnte dem Jungen eins versetzen, aber was wäre, wenn dieser es schaffte der Schaufel auszuweichen? Was, wenn er es schaffte, ihn zwischen seine blutigen Finger zu bekommen?

Der Junge saugte den Wangenlappen ein. Seine schleimige Zunge leckte über seine furchtbaren Lippen und er grinste Jose an. So als ob er wüsste, dass dieser rein gar nichts unternehmen würde. So als ob er wusste, dass ein Teil von Jose die Szene sogar genoss.

Sie bekam, was sie verdiente.

Aber so ganz wollte er das auch nicht wahr haben, oder?

Er hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, wie er sich gegen das Scheusal stellen konnte, als sich der Junge erneut auf Amanda warf, diesmal seinen Mund auf ihren Rachen presste, widerstandlos in ihn eindrang wie in ein matschiges, mit Blut getränktes Mus, wie in einen geplatzten Luftballon, der mit roter Farbe gefüllt war.

Bevor der liebestolle Junge jedoch seinen Kiefer in ihr Gesicht schlagen konnte, schaffte Amanda es noch einen Schrei zu formen, ein Wort, das Jose eindeutig verstehen konnte.

»BIIIIITTTEEE!«

Jose rannte.

Irgendwo ließ er die Schaufel fallen, stolperte ein paar Mal, und als er auf allen Vieren auf die Anhöhe des Hügels geklettert war, ließ er sich über den Grat auf die andere Seite fallen und rollte bis zu Kyles Auto hinunter.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, während er immer wieder zurückschaute. Der Junge war nicht mehr zu sehen. Weil er gerade Amanda verspeist, dachte er. Ihre Haut kaut und ihre Organe verschlingt.