27. KAPITEL

»Überall Blut«, sagte Jacob und versuchte die Flecken am Geländer wegzuwischen.

»Es gibt keinen perfekten Mord«, sagte Renee. Am liebsten hätte sie sich übergeben, aber ihre Eingeweide fühlten sich an wie eine geballte Faust. »Wenn ich auch sonst nichts von dir gelernt habe, aber das auf jeden Fall.«

»Ich kann doch auch nichts dafür, dass du immer die falsche Wahl triffst.«

»Ich glaub, du solltest jetzt Carlita holen. Denkst du, ihr werdet glücklich miteinander?«

»Das kann dir doch egal sein, oder? Du kriegst doch, was du willst.«

»Ich weiß nicht, was ich will.«

Jacob lehnte sich übers Geländer. »Er ist schon ein ganzes Stück flussabwärts. So besoffen, wie der war, wird es niemand in Frage stellen, dass er hier runtergefallen ist.«

Renee sah auf den Hals ihres Mannes. Er glänzte wie Elfenbein im warmen Schein des Mondlichts. Die Zange lag auf dem Autositz. Sie könnte sie holen und auf ihn niederfahren lassen. Es würde nur wenige Sekunden dauern.

Sie liebte ihn.

Und wenn man jemanden liebt, ist man ihm gewisse Dinge schuldig.

»Mattie«, flüsterte sie, und ihre Stimme zitterte dabei. Der Adrenalinstoß des Mordes war verflogen, sie fühlte sich kraftlos und leer. Ihr Herz war wie eine inhaltslose Hülle, die gegen ihre trockenen Rippen schlug.

Vielleicht würde sie irgendwann wieder eine Träne vergießen können.

Jacob kam auf sie zu und nahm ihre Hände. Beinahe hätte er Renee geküsst. Dann schaute er hinauf zum Haus. Es stand da, dunkel und grüblerisch, verloren in düsteren Gedanken. Es schwelgte in Erinnerungen, die in einem alten, staubigen Schrank verborgen lagen. An den Fenstern sah man schon ein erstes Flackern, kleine Rauchschwaden stiegen in die Luft. Schon bald würde Davidson mit ihren Leuten hier auftauchen, zu spät wie immer. Alles, was sie dann noch tun konnte, war, die Asche nach den Familiengeheimnissen der Wells zu durchsieben.

Er holte sich eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus dem Auto und steckte sich eine Kippe in den Mund. Er zündete sie an und griff unter den Sitz, um sich ein Bier herauszuziehen. Es war warm, der Schaum spritzte über seine Hosen. Dann tippte er die beiden Gummiköpfe an, so dass sie hin und her schwangen.

Genau wie Joshua. Er sieht genauso aus wie sein Bruder.

Auf diesen Gedanken folgte ein weiterer, er leuchtete hell und kraftvoll aus der Dunkelheit ihrer Verwirrung.

Was, wenn wir den Falschen getötet haben?

Aber vielleicht gab es gar keinen Richtigen.

Renee schaute über das Geländer. Es war so dunkel, dass sie kaum die Form der Steine im Fluss erkennen konnte.

»Oh mein Gott, Jake! Er bewegt sich! Er lebt noch!«

Jacob rannte zum Geländer. Aus seinem Mund drang ein geflüstertes »Scheiße«, zusammen mit kleinen Rauchwölkchen.

Er lehnte sich über das Geländer und versuchte, trotz der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Ich sehe nichts.«

»Aber ich«, sagte sie. »Ich sehe alles ganz klar.«

Die Zange war schwer. Doch sie schaffte es. Oh ja, sie kriegte es hin!

Es knackte nur leise, wie wenn man Eis zerschlägt, das in ein Handtuch gewickelt ist. Jacob gab einen kurzen, überraschten Schrei von sich und sank über dem Geländer zusammen. Kopf und Arme baumelten auf der anderen Seite hinunter.

Sie fühlte nicht seinen Puls, ob er noch lebte. Sie wollte ihn nicht anfassen. Wenn er lange brauchte, um zu sterben, hatte er es nicht anders verdient.

Sie hielt sich den Bauch.

Sie hatte es Jacob nicht erzählt. Drei Monate lang.

Ob es von Jacob oder Joshua war? Das würde sie wohl nie erfahren.

Aber das war egal. Hauptsache, es war ein Wells.

Und ein Wells versagt nie.

Als sie den Weg hinauflief, um Carlita zu befreien, schaute sie auf das Haus. Die orangefarbenen Flammen fraßen sich jetzt in den Himmel.

Ich liebe dich, Mattie. Ich liebe dich, Christine.

Sie war erleichtert, als sie sah, wie die Flammen vor ihren Augen verschwammen.

Sie hatte also doch noch ein Fünkchen Menschlichkeit in sich.

So lange sie noch weinen konnte, gab es Hoffnung für sie.

Renee stolperte über die Erde, die schon lange kaputt war. Tränen rollten über ihre Wangen. Die Tränen würden die Vergangenheit nicht wegspülen können, doch sie gaben ihr einen klaren Blick auf die Zukunft.

Sie musste sich um ihr Kind kümmern.

Eine letzte Chance.

ENDE