6. KAPITEL

Renee balancierte das Telefon an ihrem Ohr. Beim Öffnen einer Dose Cola Light war ihr der Nagellack abgesplittert. Und wie sie so in dieser Wohnung saß, für die sie nichts bezahlen musste, und über Geld redete, wurde sie ganz beschwingt. Auch wenn Jacob schon früh in ihrer Ehe einen beachtlichen Reichtum angehäuft hatte, so schien ihr diese Summe doch ziemlich unrealistisch, fast schon schwindelerregend. »Zwei Millionen Dollar, Kim.«

»Heilige Scheiße«, hörte sie ihre beste Freundin sagen. Kim war Laborantin im Krankenhaus, untersuchte Blutproben. Manchmal hörte man die typischen Krankenhausgeräusche im Hintergrund, das Piepen der Arzttelefone, das Rattern der Krankenhauswagen, das Läuten der Schwesternklingeln.

»Aber auch das kann es in keinster Weise wiedergutmachen.«

»Ich weiß, Süße. Das hatten wir ja schon mal. Du hast keine Tränen mehr.«

»Das Geld von der Versicherung geht an mich. Jacob hat es so veranlasst. Nach Christines Tod hat er uns alle drei für jeweils eine Million versichert. So hatte es sein Vater auch immer gemacht.«

»Und du hast ihn gelassen?«

»Na ja, das sind so Sachen, über die man nicht groß nachdenkt. Man erwartet ja nicht, dass das Unglück gleich noch mal zuschlägt. Ich hatte gedacht, dass wir durch Christine mehr als genug von unserem Anteil daran hatten.«

»Ich weiß, dass ihr echte Reißer seid, aber eine Million ist eine Million, selbst bei der Inflation. Was wollt ihr denn mit dem ganzen Geld machen?«

»Das ist es ja. Er versteckt sich vor allem.«

»Denk doch mal jetzt nicht an ihn. Was würdest du gerne machen?«

Renee schaute auf die Urne, die auf dem Kaminsims stand. Eigentlich wollte sie nicht, dass die Asche sie ständig an die Tragödie erinnerte. Sie trug auch so schon genügend Erinnerungen daran mit sich herum.

Sie hatte gehofft, dass Jacob sich zusammenreißen und mit seiner Trauer klarkommen würde. Dann hätten sie zusammen entscheiden können, was mit der Asche passieren sollte. Es war nun schon mehr als zwei Monate her und er verweigerte nach wie vor jeden Kontakt zu ihr. »Ich möchte, dass Jake glücklich ist. Das ist alles, was ich noch tun kann, Kim.«

»Sind deine Eltern wieder weg?«

»Ja, letzte Woche. Vater geht’s nicht so gut. Jetzt wo er keine Enkel mehr hat, die er verwöhnen kann. Mutter war eine große Hilfe, aber über die schlimmen Sachen kann ich mit ihr auch nicht reden.«

»Ich bin immer da, wenn du mich brauchst.«

Renee hatte plötzlich einen Kloß im Hals und die Tränen schossen ihr ohne Vorwarnung in die Augen. Sie steckte einen Finger hinter ihre Brillengläser und wischte sich die Wimpern. »Ich halt das nicht mehr länger aus. Ich will Jake zurück.«

»Ist er nicht auch nach Christine völlig ausgeflippt?«

Renee schnürte es das Herz zu. »Ja. Er ist völlig durchgedreht, aber weil ich mich so um Mattie gekümmert habe, hab ich es kaum bemerkt.«

»Er braucht einfach seine Zeit. Er wird schon merken, wie sehr er dich braucht. Du weißt doch, was ich immer über Männer gesagt habe.«

Renee musste durch ihr Schluchzen hindurch lachen. »Ja. ›Sie können das Licht nicht sehen, weil sie ihren Kopf im Arsch stecken haben.‹«

»Bis dahin musst du das Geld aber irgendwie anlegen. Was passiert ist, ist passiert, aber das Leben geht weiter.«

»Da hast du wohl Recht.«

»Mattie würde das auch wollen.«

»Bestimmt.«

»Und wenn es ganz hart auf hart kommt, kannst du Jacob immer noch zum Teufel jagen und zu mir ziehen.«

»Du bist nicht mein Typ. Du bist mir seelisch zu stabil und deine Wohnung ist mir zu unordentlich«, lachte Renee.

»Ja, das ist schon immer mein Problem.«

Ein Schatten durchbrach die Sonnenstrahlen, die durch die Gardinen fielen. Jemand war vor ihrer Tür. Ihre Wohnung hatte, wie alle anderen in Ivy Terrace auch, einen eigenen Eingang. Zu den oberen Etagen führte ein gemeinsames Treppenhaus auf eine umlaufende Terrasse. Sie wartete, dass jemand klopfte, aber nichts passierte. Wahrscheinlich war es ein Kurier, der sich in der Adresse geirrt hatte.

»Ich muss weitermachen«, sagte Kim, und Renee konzentrierte sich wieder auf das Telefon.

»Wieder mal Stress im Labor?«

»Du weißt doch, wie das ist mit dem Blut. Die Menschen können einfach nicht ohne leben.«

»Danke, dass ich mich bei dir ausheulen durfte.«

»Renee?«

»Ja?«

»Ich sag’s nicht gerne, aber du hast dir die Million wirklich auf die harte Art verdient.«

»Ich würde das Hundertfache geben, um Mattie zurückzubekommen.«

»Ich weiß. Es ist nur alles irgendwie komisch. Wie ein Silberstreif an einer pechschwarzen Wolke.«

»Ja.« Sie wollte nicht schon wieder anfangen zu weinen. »Ach so, da war noch was, was ich dich fragen wollte. Du wohnst ja schon länger hier. Weißt du irgendwas über Joshua Wells?«

»Jacobs Bruder? Ich wohne auch nur ein paar Jahre länger hier als du. Ich hab da so ein paar Geschichten gehört, aber er ist wohl vor zehn Jahren weggezogen.«

»Was für Geschichten?«

»Na so das Übliche, was man so über verwöhnte Kinder reicher Leute hört. Vandalismus, Ladendiebstahl, Drogen, Nutten. Hat Jacob dir etwa nie davon erzählt?«

»Es war ihm bestimmt peinlich. Er redet immer wieder davon, wie schwer es ist, dem Namen Wells gerecht zu werden.«

»Der Mann braucht Hilfe. Und du auch. Du, ich muss jetzt wirklich los. Ich hab hier ‘ne Blutgruppe Null, die mir gerade sagt, dass sie HIV-negativ ist.«

»Mach’s gut Kim.« Sie legte auf und blickte wieder zum Fenster.

Da war der Schatten wieder. Die Bretter auf der Terrasse knarrten. Vielleicht schlich Davidson draußen rum. Sie wollte gerade zur Tür gehen, als das Telefon klingelte.

Sie blickte von der Tür zum Telefon. Ivy Terrace war eine gute Wohnanlage, hier war man sicher. Und sie hatte die Tür abgeschlossen. Das machte sie immer. Jake war immer nachlässig mit solchen Sachen, er war es zum Beispiel auch gewesen, der in der Brandnacht die Glasschiebetür aufgelassen hatte …

Sie ging ans Telefon. »Hallo?«

Die Leitung knisterte mit elektronischer Leere. Vier Sekunden vergingen.

»Kim?«, fragte sie.

»Ich bin’s.«

»Jake! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo bist du?«

»Dort, wo ich immer gesagt hatte, dass ich niemals sein würde.«

»Was? Du klingst fürchterlich. Bist du erkältet?«

»Ich hab noch ein Geschenk für dich.«

»Ich will kein Geschenk. Ich will, dass du mit mir redest.«

Jacobs Stimme wurde schwächer. »Sonderzustellung.«

Er sagte noch etwas, was sie nicht verstand, weil auf dem Parkplatz draußen ein Auto mit kaputtem Auspuff dröhnte.

»Jake, wir brauchen professionelle Hilfe. Wir müssen alles irgendwie wieder auf die Reihe kriegen. Wegen dem Geld und wegen uns.«

»Mattie«, sagte er.

»Ja, das auch. Wir müssen sie der Erde zurückgeben. Das sollten wir gemeinsam tun, ganz egal, was du über mich denkst.«

»Meine Tochter.«

»Meine auch.«

»Ich hab es nicht gewusst.«

»Jake, alles in Ordnung bei dir? Bitte erzähl mir jetzt nicht, dass du wieder trinkst. Du weißt genau, was das mit dir anrichtet.«

»Die Tür«, sagte er, und dann war die Verbindung weg.

War er das vorhin an der Tür gewesen? Die Verbindung war deutlich und ohne Unterbrechungen, nicht so schlecht wie die meisten Handyverbindungen in den Bergen. Im Wäschekeller des Apartmenthauses gab es ein Münztelefon, aber wer immer das an der Tür auch gewesen sein mag, er hätte es niemals bis dorthin geschafft in der kurzen Zeit von dem Moment, als sie den Schatten gesehen hatte, bis das Telefon klingelte.

Renee kämmte sich die Haare und nahm ihre Handtasche. Nach dem, was Kim ihr über Joshua Wells erzählt hatte, wollte sie zur Polizei gehen und sich sein Strafregister ansehen. Sie hatte schon manchmal gehört, wie Leute, die schon lange in Kingsboro wohnten, über ihn sprachen. Ansonsten wusste sie nur wenig über ihn, außer, dass er kurz nach dem Tod seiner Mutter die Stadt verlassen hatte. Nicht einmal zur Testamentseröffnung von Warren Wells war Joshua erschienen. Allerdings war das Geld schon vorher Jacob zugesprochen worden, so dass man es ihm nicht übelnehmen konnte.

Sie machte die Tür auf und wollte gerade ihre Sonnenbrille aufsetzen, als ihr das Paket vor die Füße fiel. Es musste wohl an der Tür gelehnt haben. Es war ein einfacher Karton, ungefähr so groß wie eine Kekspackung. Sie ging bis zum Rand der Terrasse und schaute sich um, ob sie vielleicht ein Lieferauto von UPS oder FedEx sehen würde. Doch der Parkplatz war so gut wie leer, alle Mieter waren zur Arbeit ausgeflogen oder machten Besorgungen.

Sie nahm das Päckchen. Es hatte keinen Adressaufkleber. Es war leicht, vielleicht war es sogar leer. Sie nahm es mit rein auf den kleinen Tisch in der Küchenecke und zerschnitt mit einem Fleischmesser das Paketklebeband, das die beiden oberen Klappen des Kartons zusammenhielt.

Als sie den Karton aufklappte, stieg ihr der Geruch alter Holzkohle in die Nase. In dem Päckchen war ein dreckiges weißes Stoffbündel. Als sie es in die Hand nahm, erkannte sie den brokatbesetzten, kleinen Spitzenkragen. Es war das Kleid, das Mattie zu ihrer Erstkommunion getragen hatte.

Sie nahm das Kleid aus dem Karton, der dabei auf den Boden fiel. Das Kleid war aus Seide, der untere Teil war weggebrannt. Ein Ärmel war abgerissen, und an der Rückseite war ein schwarzer Schlitz. Trotz der Beschädigungen rief das Kleid in Renee Erinnerungen an eine glückliche Mattie hervor, die sich vor Pfarrer Rose vornüber beugte, von ihm die Oblate entgegennahm und sie zwischen ihre Lippen steckte.

»Matilda Suzanne«, flüsterte Renee und drückte das Kleid an ihre Wange. »Ach, mein Baby.«

Sie hatten das Kleid gemeinsam ausgesucht. Mattie wollte unbedingt ein »Erwachsenenkleid«, nicht so ein einfaches mit einer Schleife zum Zubinden am Rücken. Sie trug dazu weiße Strümpfe und schwarze Schuhe mit Riemchen und einem kleinen Absatz. Glänzende, weiße Taubenhaarspangen hielten ihre Frisur in Form. Und obwohl es eigentlich der Tag ihrer großen Schwester war, hatte auch Christine ein kleines weißes Kleidchen getragen, mit ein paar Milchflecken auf der Brust.

Die Erinnerung übermannte Renee derartig, dass sie nicht mehr wusste, wie lange sie schon so da gestanden hatte. Sie schwankte hin und her, den widerwärtigen Gestank des versengten Stoffes in der Nase. Nach einer Weile wurde ihr das Kleid schwer in den Händen. Es war ein Relikt, das sie gleichzeitig liebte und hasste. Es hätte besser in den Flammen verbrennen sollen. Sie hatte darum gebetet, alles zu verstehen, sie hatte den Verlust als einen unerklärlichen Akt Gottes hingenommen, und sie hatte ihre Seele von der Schuld reingewaschen.

Und nun kam dieses Erinnerungsstück an eine schlimme Vergangenheit zurück in ihr Leben.

Nein, es war nicht Gott, der ihr das gebracht hatte. Es war Jacob gewesen.

Der Anruf, die zusammenhanglosen Wortfetzen, die spottende Stimme, fast so, als ob er ihr die Schuld gäbe. Als ob er sie verhöhnte, quälte, folterte.

Er war nicht mehr er selbst. Diese Gewissheit zerriss ihr erneut das Herz. Sie hatte geschworen, für ihn stark zu sein, in zurückzuholen von dem Abgrund, an den ihn das Versagen gestoßen hatte. Doch wie konnte sie ihn vor dem Fall bewahren, wenn sie gar nicht wusste, wer er war? Wie konnte sie ihn retten, wenn sie all ihre Kraft brauchte, um sich selbst zu retten?

Jacob musste bei den verkohlten Überresten des Hauses gewesen sein. Vielleicht war Matties Kleid von einem seltsamen Luftzug erfasst und von den Flammen weggetragen worden, bis zu dem kleinen Waldstück hinter dem Haus. Bei dem ganzen Gedränge und all der Aufregung hätte das niemand bemerkt, geschweige denn diesem Vorfall Bedeutung beigemessen. Doch Jacob wusste um die Bedeutung dieses Kleides. Er war bei der Kommunion dabei gewesen, auch wenn er sonst nicht oft in der St.-Mary-Kirche anzutreffen war.

Ein paar verkohlte Stofffetzen hatten sich vom Kleid gelöst und waren auf den Boden gefallen. Renee breitete es auf dem Tisch aus, kniete sich hin und sammelte die Stoffstückchen auf. Als sie die schwarzen Fetzen anfasste, fielen sie noch weiter auseinander. Sie lösten sich auf, während sie sie aufsammeln wollte, und je verzweifelter sie versuchte, die verbrannten Stückchen zu retten, umso schneller zerfielen sie in ihren Händen.

Sie gab es auf und wusch sich die Hände in der Küchenspüle. Die schwarzen Fetzen wirbelten durch den Abfluss, für immer verloren, auf ihrem Weg an einen lichtlosen Ort der Zersetzung und des Zerfalls.

Vielleicht erging es Jacob ja genauso. Das durfte sie nicht zulassen. Sie trocknete ihre Hände, nahm ihre Handtasche und ging hinaus in den helllichten Tag. Der Wind, der von den Weymouthskiefern herüberwehte, trug den verkohlten Geruch fort, und als sie beim Auto war, hatte sie wieder einen klaren Kopf.

Die Polizeiwache lag hinter dem Landratsamt von Fuller County im alten Stadtzentrum von Kingsboro, dort, wo sich das Leben abspielte, bevor Restaurantketten und große Einzelhändler den Großteil der Kunden in die Durchfahrtsstraßen abgezogen hatten. Die Chefin der Kriminaldienststelle, wo die Verbrecherkartei geführt wurde, war eine strenge Frau mit einer Brille, deren Gläser genauso dick waren wie bei der von Renee. Ihre stahlgrauen Haare ließen vermuten, dass sie schon lange vor dem Siegeszug des Computers hier beschäftigt gewesen war. Renee klopfte an die kugelsichere Scheibe, bis die Frau von ihrem Schreibtisch aufschaute. Sie verzog die Lippen, als ob sie gerade die Zitronenscheibe aus ihrem Eistee gegessen hätte. Die Frau stieß ihren Stuhl zurück, die Federn quietschten und sie kam langsam herüber zum Schalter.

Renee drückte auf einen Knopf und sprach in ein Mikrofon, das vor dem Schalterfenster angebracht war. »Ich brauche sämtliche Aufzeichnungen, die Sie über Joshua Wells haben.«

»Joshua Wells?« Die Frau legte ihren Kopf zurück und schaute Renee an, als ob sie ein Insekt beobachtete. Durch den Lautsprecher klang sie wie bei der Bestellannahme eines Fastfood-Restaurants.

»Ja.«

Renee dachte, dass die Frau sie jetzt fragen würde, wozu sie diese Informationen brauchte, doch stattdessen fragte sie: »Haben Sie vielleicht noch einen zweiten Vornamen?«

Für einen Augenblick dachte Renee, dass die Frau sie selbst meinte, doch dann wurde ihr klar, dass es selbst in einer so kleinen Stadt wie Kingsboro mehrere Personen geben konnte, die Joshua Wells hießen. »Nein, leider nicht. Können Sie mir nicht einfach alles raussuchen?«

Die Frau machte komische Kaubewegungen, dann sagte sie: »Die Informationen sind alle öffentlich. Sie müssen nur die Gebühren bezahlen.«

Sie zeigte auf ein Schild an der Wand, das da verloren zwischen Vermisstenanzeigen, Meetingzetteln und Abkürzungsverzeichnissen hing. Suchanfragen kosteten fünf Dollar, Kopien fünfzig Cent.

»Das geht in Ordnung«, sagte Renee.

»Es dauert ein bisschen. Wells, sagten Sie, W-E-L-L-S, richtig?«

»Ja. Wie Warren Wells.«

»Alles klar. Joshua hieß sein Sohn, stimmt’s? Zumindest einer von ihnen.«

Renee nickte. Die Frau ging an einen Computer und tippte den Namen ein, ohne sich hinzusetzen. Sie schaute mit finsterem Blick auf den Bildschirm und kam nach kurzer Zeit wieder zurück ans Fenster. »Da ist nichts.«

»Das kann nicht sein. Ich weiß, dass er mehrere Straftaten begangen haben soll.«

»Na ja, das könnte verschiedene Gründe haben, dass wir ihn nicht finden«, sagte die Frau. »Vielleicht hat ein Richter die Löschung der Daten angewiesen, oder sie wurden versiegelt, wenn er zum Zeitpunkt der Straftaten noch Jugendlicher war.«

»Ab welchem Alter gilt man vor Gericht als Erwachsener?«

»Kommt drauf an. Bei den meisten Vergehen ab sechzehn.«

»OK dann, es tut mir leid.«

Also hatte Kim entweder Unrecht gehabt oder Joshua hatte die Straftaten als Jugendlicher begangen. Renee bezahlte mit einem Zwanzig-Dollar-Schein und verzichtete auf die Quittung. Während die Frau das Geld wechselte, drückte Renee noch mal auf den Knopf und fragte: »Kannten Sie Joshua Wells persönlich?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie hatte offensichtlich Erfahrung damit, alle Anfragen abzuweisen, die über ihren Kompetenzbereich hinausgingen. »Nein. Er war manchmal in der Zeitung, wegen dem Sport und so. Er war Werfer in der Auswahlmannschaft, bevor er von der Schule flog. Danach ist er wohl weggezogen, hab ich gehört.«

Zeitungen. Gute Idee. Als nächstes würde sie in die Bibliothek gehen und dort durch die Mikrofichedateien des Kingsboro Times-Herald blättern. Zumindest wüsste sie dann, wie er aussah. Dann könnte sie beginnen, weitere Puzzleteile zu sammeln. Sie hatte sein Bild zwar im Haus der Wells gesehen, als sie dort vor ihrer Hochzeit immer mit Jacob zum Essen war. Allerdings waren beide Jungs damals noch in der Entwicklung gewesen. Später sehen auch eineiige Zwillinge vom Gesicht her oftmals etwas anders aus.

Sie war schon fast an der Tür, als ihr noch ein anderer Gedanke kam. Sie wusste nicht viel von Jacobs Vergangenheit. Ihre Versuche, Licht ins Dunkel zu bringen, endeten stets vor einer dunklen Mauer ohne eine einzige Ritze. Sie wusste, dass Warren Wells Millionen mit Immobiliengeschäften verdient hatte, dass Jacobs Mutter bei einem tragischen Sturz ums Leben gekommen war und dass Jacob seine Eltern nicht besonders gemocht hatte. Aber er hatte nie jemanden in seine Vergangenheit hineinblicken lassen, und er besaß auch keinerlei Unterlagen von früher. Nicht mal ein Highschool-Jahrbuch hatte er.

Sie ging zurück zum Bedienfenster. Die Beamtin wollte sich gerade wieder an ihren Schreibtisch setzen. Renee wartete gar nicht erst, bis die Dame wieder am Fenster war, sondern drückte gleich auf den Knopf und bat sie, nach Jacob Wells zu suchen.

Die Augen der Frau wurden schmal. »Sind Sie von der Zeitung?«

»Nein, ich bin eine ganz normale Bürgerin.«

»Er hat eine Menge für diese Stadt getan, vergessen Sie das nicht.«

Wie könnte Renee das vergessen?

Die Frau nahm einen Schluck von ihrem Tee, während sie sich an der Tastatur zu schaffen machte. Sie blinzelte auf den Bildschirm, und der Drucker auf dem Aktenschrank begann Papier auszuspucken. Sie brachte den Stapel Blätter ans Fenster und schob sie durch den Schlitz. »Das macht noch mal acht Dollar.«

Renee bezahlte und blätterte durch das Papier. Ihr Herz klopfte wild. Bei allen Polizeiberichten gab es eine Zeile »Tatverdächtiger«, und überall stand dort der Name »Jacob Warren Wells.« Ihr Jacob.

Vandalismus auf dem Schulparkplatz. Der Verdächtige hat den Lack mehrerer Fahrzeuge mit dem Schlüssel zerkratzt. Brandstiftung. Der Verdächtige steckte während einer Konferenz von Baumschulen, die sich auf Weihnachtsbäume spezialisiert hatten, Kartons in Brand. Ladendiebstahl und unerlaubter Besitz von Alkohol. Der Verdächtige stahl zwei Flaschen Wein aus einem Supermarkt. Unerlaubter Besitz verbotener Substanzen. Der Verdächtige wurde im Schulstadion beim Marihuana-Rauchen erwischt. Behinderung und Täuschung eines Polizeibeamten. Der Verdächtige zeigte bei einer Verkehrskontrolle den Führerschein seines Bruders.

Und dann wieder Brandstiftung, diesmal auf einer Baustelle von Warren Wells. Die Anklage wurde später fallengelassen, da die Brandursache als Unfall eingestuft wurde.

Der letzte Bericht war der unglaublichste und unvorstellbarste von allen. Tierquälerei lautete die Anlage, der Verdächtige hatte eine Katze erstickt, indem er sie in einer Plastiktüte eingesperrt hatte.

»Ist das der Mann, nach dem Sie gesucht haben?«, fragte die Frau und ließ sie nicht aus den Augen.

Renee schüttelte den Kopf. Das hier musste ein anderer Jacob Warren Wells sein. Aber die Adresse in den Polizeiberichten lautete White River Road 121, dieselbe Anschrift, an die Jacob zu College-Zeiten seine wenigen Postkarten nach Hause adressiert hatte.

»Das ist der andere der Wells-Zwillinge, stimmt’s?«, fragte die Beamtin. »Der sein Kind bei dem Brand verloren hat?«

»Das muss ein Irrtum sein.« Renee drückte nicht auf den Knopf, doch die Frau war nahe genug, um sie auch so zu hören.

Die Beamtin verließ das Fenster, als ob sie beleidigt wäre. »Wir sind auch nicht perfekt hier. Aber so oft können wir uns nicht täuschen.«

»Jacob und Joshua«, murmelte Renee, und das Papier lag wie Gift in ihren Händen.

»Sie wissen, was man über Zwillinge sagt«, bemerkte die Frau, zum ersten Mal jenseits des Protokolls. Die Augen hinter ihrer Brille funkelten wie feuchte Käfer. »Einer davon ist immer der Böse.«

Renee nahm ihr Wechselgeld und ging hinaus, in eine Welt voller Sonne, die so hell strahlte, dass die dunklen Seiten nicht länger verborgen bleiben konnten.