22. KAPITEL
Davidson, die Feuerwehrschefin, saß im Büro von M&W und wartete. Renee kam zwanzig Minuten zu spät. Die Tür zu Donald Meekins Büro war geschlossen. Entweder er war in einem Meeting, oder er hatte die äußere Bürotür einfach abgeschlossen.
Davidson stand stramm wie ein Soldat. »Wo ist Ihr Mann?«
»Das würde ich auch gerne wissen.« Renees Augen waren feucht und geschwollen. So sahen betrogene Ehefrauen wohl immer aus. Doch sie wusste nur zu gut, dass er Geheimnisse für sich behalten konnte. Ihre gegenseitige Unehrlichkeit war ihr stärkstes Band.
»Es tut mir leid, aber ich muss mit Ihnen beiden reden. Und zwar zusammen.«
»Es gibt kein ›zusammen‹ mehr.«
»Das tut mir leid, Mrs. Wells. Ich will hier nicht in persönlichen Sachen herumstochern. Aber nach dem Feuer auf der Baustelle Ihres Mannes musste ich mir alle Beweise vom Brand Ihres Wohnhauses noch einmal vornehmen.«
»Sie haben doch gesagt, dass die Untersuchungsbehörde das Feuer als Unfall erklärt hat!«
»Das stimmt so nicht ganz. Es hieß, die Brandursache sei ›unbestimmt‹.«
Renee holte ein zerknülltes Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und putzte sich die Nase. Sie fand es scheußlich, wenn Leute sie so sahen. Ihre Haare waren unordentlich und verschwitzt, ihre Wangen leuchteten vor Kummer und Schock. Eigentlich wollte sie nach ihrer Begegnung mit Carlita nicht ins Büro kommen, aber sie hatte gehofft, dass sie Jacob hier treffen würde.
Und sie wollte einen Blick aufs Kleingedruckte im Lebensversicherungsvertrag der Firma werfen.
»In letzter Zeit gab es eine Reihe von Brandstiftungen. Deshalb war ich gezwungen, alle verdächtigen Brände dieses Jahres noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Es brannte auf dem Friedhof, und der Friedhofswärter sagte, dass er eine Frau in der Nähe des Wäldchens gesehen hat, wo das Feuer ausgebrochen war. Vor sechs Wochen brannte eine Anwaltskanzlei. Das Feuer vernichtete das gesamte Hinterhaus, bevor wir es unter Kontrolle bringen konnten. Der Brandherd lag im Büro, es sah nach einem Kurzschluss am Computerstecker aus. Die Kanzlei gehörte Herbert Isaacs. Sagt Ihnen dieser Name irgendetwas?«
»Nein, es sei denn, er ist Mieter bei M&W. Dann habe ich diesen Namen vielleicht schon mal auf einem Bankauszug oder so gesehen.« Renee konnte nicht mehr klar denken. Sie musste Davidson loswerden und erstmal alles mit Jacob besprechen. Sie konnte nichts sagen, bevor nicht klar war, auf welche Variante sie sich einigen.
»Herbert Isaacs war der Anwalt von Jacobs Vater, dessen Firma das Bürogebäude gebaut hatte. Es könnte also sein, dass noch ein Schlüssel irgendwo herumgeistert und jemand in das Gebäude hinein konnte, ohne einzubrechen.«
»Eine ziemlich gewagte Annahme.«
»Brandstifter gehen normalerweise nach einem bestimmten Muster vor. Ihr Vorgehen ist so typisch wie Fingerabdrücke. Das verrät sie am Ende meistens. Diesmal jedoch gab es vier Brände mit vier verschiedenen Ursachen.«
»Für mich klingt das wie vier Zufälle. Das würde auch die unterschiedlichen Ursachen erklären.«
»Bei drei der Fälle ist jedoch der Name Wells mit im Spiel. Und wenn man in Betracht zieht, dass auf dem Friedhof auch eine Wells begraben liegt, dann sind es vier.«
Renee warf das durchgeweichte Papiertaschentuch in den Mülleimer und zwang sich ein Lächeln ab. In ihrem Inneren war etwas zerbrochen. Ihr Magen schmerzte von dem Schlag, den Carlita ihr versetzt hatte. Sie rieb sich den Bauch. »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Mrs. Wells, ich glaube fast, dass Sie die Frau waren, die der Friedhofswärter gesehen hat.«
»Ist es etwa verboten, als Mutter das Grab der Tochter zu besuchen?« Renee richtete jetzt ihre ganze Wut, die sie für Carlita und Jacob empfand, auf Davidson. »Ich stehe also unter Verdacht. Vielleicht sollte ich lieber erst mit meinem Anwalt reden, bevor ich hier weitere Fragen beantworte. Aber da Sie keine Polizei dabei haben, ist das wahrscheinlich alles nur heiße Luft, was Sie hier erzählen.«
Davidson schürzte ihre Strichlippen, ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze. Sie zog eine kleine Plastiktüte aus ihrer Hosentasche. Darin steckte ein winziger Zettel. »Das habe ich bei Ihrem abgebrannten Haus gefunden, als ich noch einmal dort war. Der Zettel lag im Keller, zwischen all den verkohlten Brocken. Irgendjemand muss ihn dort liegen lassen haben, damit ihn jemand findet. Ansonsten wäre er mit verbrannt. Und es muss erst vor Kurzem gewesen sein, denn sonst wäre die Tinte mittlerweile verblasst.«
Renee griff nach der Tüte, doch Davidson zog sie weg. »Ich lese Ihnen vor, was draufsteht«, sagte die Feuerwehrchefin. »›Ich hoffe, das Geschenk zur Housewarming-Party hat dir gefallen. J.‹«
Davidson beobachtete Renee, als wäre sie ein Krankheitserreger unter dem Mikroskop, doch Renees Gesicht war wie versteinert.
»Schon komisch, oder? Die Fingerabdrücke passen zu Jacob. Als er zehn war, gab es einen Vorfall, wo seine Fingerabdrücke erfasst wurden. Nichts Schlimmes, Vandalismus in der Schule. Dann steckte er eine Brücke in Brand, doch es wurde keine Anzeige erstattet. Außerdem wurde er wegen Körperverletzung festgenommen, doch das Opfer war Mexikanerin und wollte keine Anklage erheben. Ihre Fingerabdrücke haben wir zwar nicht, aber ich bin mir sicher, dass Sie diesen Zettel hier auch schon in den Händen hatten, oder?«
Renee rang ihrem Mund ein zynisches Lächeln ab. »Wenn Jacob sein eigenes Haus in Brand gesteckt hätte, dann wäre er sicher nicht so blöd gewesen und hätte diesen Zettel dort liegen lassen.«
»Ich würde nie behaupten, dass Ihr Mann blöd ist. Doch mir fallen zwei Millionen Gründe ein, warum er versuchen könnte, etwas zu vertuschen.«
»Das Haus war nur mit einer Million versichert.«
Davidson Augen verfinsterten sich. Mit ihrem kurzgeschorenen Haar sah sie aus wie ein verbitterter Mönch, der voller Schadenfreude auf andere herabblickt. »Ihre Tochter war auch mit einer Million versichert.«
»Das war ein Unfall«, sagte Renee. Ihre Augen wanderten zu dem gerahmten Rembrandt an der Wand, ein flämisches Dorf, eingefroren in der Vergangenheit. Ein Ort, an dem keine Kinder verbrannten. Sie konnte es immer noch nicht an sich heranlassen. Es war tief in ihr drin, begraben in der Gruft ihres Herzens. Nichts als Asche. »Das sollte nicht passieren.«
»Sie haben nichts davon gewusst, oder? Von der Versicherung Ihrer Tochter, meine ich?«
»Selbstverständlich wusste ich davon«, sagte sie. Eine Million pro Kind. Sie hatte es akzeptiert, weil sie sich selbst neu erfunden hatte. Sie hatte ihre Vergangenheit so manipuliert, bis sie mit den Konsequenzen leben konnte. Eigentlich hatte sie alles verändert, woran sie glaubte. Das war doch aber nicht schlimm, oder? Nicht, wenn ihre Seele und ihr Verstand auf dem Spiel standen.
»Ich erzähle Ihnen mal meine Version«, sagte Davidson. »Ihr Mann hatte finanzielle Probleme. Wir wissen nicht, wie tief er im Schlamassel steckte, aber das findet die Kripo schon raus, wenn wir das hier erstmal als Brandstiftung identifiziert haben. Er brauchte Geld, und zwar schnell, und da kam er zufällig auf dieses schöne neue Haus, das vielleicht 300.000 Dollar wert war, aber inklusive Hausrat für eine Million versichert. Nur ein kleiner Kurzschluss, und schon hat Ihr Mann sozusagen über Nacht einen Wahnsinnsgewinn gemacht. Wäre nicht dieser unschöne kleine Fehler passiert, wäre er damit wahrscheinlich sogar davongekommen.«
Ein kleiner Fehler.
Auf diese drei Worte hatte die Feuerwehrchefin Matties Leben gerade reduziert. Davidson würde niemals nachempfinden können, wie Mattie mit ihren winzigen Füßchen gegen Renees Bauch getreten hatte, als sie mit ihr schwanger war. So kräftig hatte sie getreten, dass sie und Jacob schon gewitzelt hatten, dass sie bestimmt mal ein Fußballstar wird. Davidson hatte Mattie nicht auf dem Schoß gehabt und ihr »Die drei kleinen Schweinchen« vorgelesen. Sie hatten nie zusammen Emily-Erdbeer-Videos angeschaut und Reiskekse gebacken. Sie hatte nie gesehen, wie Mattie im Ballettkleidchen übers Parkett schwebte. Sie hatte nie Matties herrliches, glänzendes Haar gebürstet, ihren lila Nagellack und lustige Halsketten mit ihr geteilt. Davidson wusste nichts von den sechzehn Millionen Herzschlägen ihrer Tochter, jeder davon ein unschätzbarer Segen. Und sie wusste auch nichts von den vielen Millionen Herzschlägen, die noch hätten folgen sollen und um die Gott sie betrogen hatte.
»Jacob war es nicht«, stieß Renee hervor, als ob sie sich selbst davon überzeugen wollte. »Ich glaube, dass Joshua den Brand gelegt hat.«
»Joshua?«
»Jacobs Zwillingsbruder. Er war schon immer neidisch auf Jacobs Erfolg. Er will Jacob kaputtmachen, ihn auf sein Niveau runterziehen, ihn in die Hölle zerren.«
Davidson klopfte mit der Plastiktüte gegen ihren dicken Oberschenkel. »Aha. Joshua Wells also. Der war seit Jahren nicht mehr hier.«
»Sie kennen ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Ich bin zwar woanders zur Schule gegangen, aber die Wells-Zwillinge waren überall bekannt, wegen ihrem reichen Vater und so. Komisch. Jacob war doch immer derjenige, der Ärger gemacht hat. Sein Name stand immer in der Zeitung, nicht der andere.«
»Das täuscht.« Renee dachte daran, was Carlita ihr über Jacobs geheimnisvollen Zwillingsbruder erzählt hatte. Verzweiflung krallte sich in ihre Eingeweide. »Joshua war es, der all die schlimmen Sachen gemacht hat. Dann hat er Jacob die Schuld in die Schuhe geschoben. Ich kenne Jacob. Er ist ein ehrlicher, freundlicher Mensch.«
»Es war also der böse Zwillingsbruder, was?« Es sah nicht so aus, als ob sich Davidson an ihrem sarkastischen Witz erfreuen konnte. »Wollen Sie die Geschichte vielleicht an die Klatschpresse verkaufen?«
»Jacob hat das Feuer in unserem Haus nicht gelegt. Ich war doch selbst mit dort!«
»Nehmen Sie’s nicht persönlich, Mrs. Wells, aber ich glaube Ihnen nicht. Keinem von Ihnen. Und wenn ich mir die vier Brandfälle noch mal genau anschaue, werde ich schon etwas finden. Und dann steht die Polizei bei Ihnen vor der Tür, nicht ich.«
In Renee stieg bittere Wut auf. »Schön! Dann muss ich wenigstens Ihren Schweiß nicht mehr riechen!«
Am anderen Ende des Flurs ging Donald Meekins Bürotür auf. Eine rothaarige Frau mit Sommersprossen kam heraus und strich ihre Baumwollbluse glatt. Sie war Mieterin bei M&W und hatte eine Massagepraxis in der Innenstadt. Hinter ihr kam Donald. Sein Lachen verstummte, als er Renee mit einer Frau in Uniform sah.
Die Rothaarige zog die Augenbrauen hoch. Donald sagte: »Kommen Sie nächste Woche wieder, Miss Adamson, dann kriegen wir das schon hin mit der Verlängerung des Mietvertrags. Rufen Sie einfach Renee an und machen Sie einen Termin.«
»Danke, Mr. Meekins«, zwitscherte Miss Adamson. Sie konnte froh sein, dass sie ihr Geld mit Massagen verdiente und nicht als Schauspielerin. »Ich freue mich, dass ich mit Ihnen ins Geschäft kommen konnte.«
Donald wollte sich die Krawatte zurechtrücken, merkte jedoch dann, wie das auf die anderen wirken musste. »Ja. Danke Ihnen. Bis nächste Woche.«
Miss Adamson lächelte, als sie an Renee vorüber zum Ausgang schwebte. Sie stakte wie ein Fohlen auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen. Als sie um die Ecke war, wandte sich Donald an Davidson. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich musste nur ein paar Formulare ausfüllen, um die Brandsicherung in einigen Ihrer Eigentumswohnungen vorzunehmen. Mrs. Wells hat mir schon geholfen.«
Meekins schielte auf ihr Namensschild und nickte. Er wollte sich schnell wieder in seinem Büro verkriechen. »Schön. Nach all den Bränden, die wir hier hatten, ist das sicher eine gute Sache.«
»Es kann nicht schaden, wenn man auf alles vorbereitet ist«, sagte Davidson. «Ich geh mal lieber wieder zu meinem Auto. Sonst klaut mir noch jemand den Feuerlöscher.«
»Okay, danke!«, sagte er, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Heute war er wohl für alles dankbar. Miss Adamson schien ein seltenes Talent für Seelenheilung zu haben. Donald ging wieder in sein Büro und machte die Tür zu.
»Er denkt, dass Jacob eine Pechsträhne hatte«, sagte Renee.
»Manche Leute schmieden sich ihr Glück eben selbst«, sagte Davidson und ließ das Tütchen mit dem Zettel in ihrer Hosentasche verschwinden.
»Schauen Sie mal, ob Sie darauf vielleicht Joshuas Fingerabdrücke finden«, sagte Renee. »Oder haben eineiige Zwillinge auch dieselben Fingerabdrücke?«
»Nein. Die Fingerabdrücke sind unterschiedlich. Die DNA ist gleich.«
»Jacob war es nicht.«
»Sie scheinen eine ganz nette Frau zu sein. Sie haben einfach nur den falschen Mann geheiratet. Ich habe auch keine Lust, Sie ans Messer zu liefern.«
Davidson ging, ohne noch einmal zurückzuschauen. Renee saß an ihrem Schreibtisch. Sie nahm das Telefon und versuchte Jacob auf dem Handy zu erreichen. Aber er hatte keinen Empfang.
Sie wusste, dass sie Jacob diesen Zettel gezeigt hatte, als er im Krankenhaus lag. Sie hatte gedacht, dass der Zettel noch in ihrer Handtasche steckte. Vielleicht war er ihr aus der Tasche gefallen, als sie beim verbrannten Haus war. An dem Abend, als sie den Spiegel gefunden hatte. Als sie dem Fremden in den Wald gefolgt war. Hätte sie den Zettel bloß verbrannt.
Wenigstens wusste sie jetzt, wer der Fremde gewesen war. Der Brandstifter.
Joshua.
Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Dennoch schien er genauso viel Hass für sie zu empfinden wie für seinen Zwillingsbruder. Sein Hass war stark genug, sie beide zu töten. Doch bisher hatte nur Mattie daran glauben müssen.
Aber warum? Wenn er Rache suchte, warum hatte er dann so lange gewartet? Was hatte er gegen Jacob? War es wie bei einem Doppelgänger, einem Doppel im Geiste? Wenn Jacobs Identitätsstörung erblich bedingt war, dann litt vielleicht auch Joshua unter Wahnvorstellungen.
Vielleicht hatte aber Carlita auch Recht und Jacob liebte sie wirklich. Dann wäre Joshua natürlich eifersüchtig. Die Brüder hatten schon immer im Wettbewerb miteinander gestanden, und Joshua hatte immer den Kürzeren gezogen.
Doch letztendlich machte das alles keinen Sinn. Sie kannte Jacob. Sie standen sich näher als Zwillinge. Sie hatten so viele schlimme Dinge zusammen durchgestanden, und sie hatten sich immer wieder gegenseitig aus dem Sumpf der Verzweiflung gezogen. Sie entwickelten sich gegenseitig weiter und bauten eine neue, strahlende Zukunft auf der Asche der Vergangenheit. Zwei Wells waren besser als einer.
Renee saß an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Vor sich hatte sie eine Tabelle mit Wasserabrechnungen. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen vor ihren Augen. Der Uhrzeiger bewegte sich langsam vorwärts, doch Jacob kam noch immer nicht. Sie versuchte ihn noch mal anzurufen.
Beim zweiten Klingeln ging er ran. »Hallo?«
»Jake? Wo bist du?«
»Bei der Tür, die sich nach beiden Seiten öffnen lässt.«
«Nein, Jake. Keine Spielchen mehr. Wir müssen …«
»Schluss damit. Mach’s gut.«
Sie stand auf und verließ das Büro. Sie erzählte Donald nicht, wo sie hinging. Sie würde Jacob finden und ihn wegen Carlita zur Rede stellen. Jacob war vielleicht ein Brandstifter und Versicherungsbetrüger, aber sie betrog er nicht. Wenn er jedoch wieder in das alte Haus gegangen war – den Ort, den er so hasste – dann musste Joshuas Erpressungsversuch noch einen Zahn zugelegt haben.
Sie kannte sich an diesem Ende der Stadt zwar nicht so gut aus, doch die zweispurige Straße westlich des Flusses war ihr vertraut. Hinter dem Tal von Kingsboro war die Straße kurvenreich. An den Hängen standen nur vereinzelte Häuser. In den Wäldern wuchsen Kiefern und Eichen. Unten am Fluss gediehen Tabak und Mais, die Blätter wurden langsam gelb. Rinder standen auf der Weide und warteten in idyllischen, von Stacheldraht umzäunten Todeslagern auf ihr letztes Urteil.
Sie sah die Brücke und erkannte das hölzerne Geländer, von dem die graue Farbe abblätterte. Unter dieser Brücke hatte Jacob, wenn man Carlita Glauben schenken konnte, seinem Bruder beim Liebemachen zugeguckt. Nur dass Carlita Joshuas Gefühle nicht als Liebe empfand. Für sie war es eine gegenseitige Sucht, ein Bedürfnis, das sie beide auffraß, ein Bund der Verzweiflung. Offensichtlich war nur Jacob in der Lage, Carlita zu lieben, was auch immer diese Frau sich darunter vorstellte. Durch ihren Kopf schoss ein Bild, wie Jacob auf Carlita liegt, seine blasse, verschwitzte Haut auf ihrem dunklen, muskulösen Körper, ihre Schenkel pressen sich an seine Hüften, ihre Glieder sind in obszöner Leidenschaft miteinander verschlungen.
Das Wells’sche Anwesen stand oben auf dem Hügel, so einsam, wie sie es in Erinnerung hatte. Durch die Bäume sah sie Jacobs neuen Pickup. Der rostige grüne Chevrolet war nicht da. Jacob war allein im Haus.
Langsam fuhr sie über die Brücke. Sie umklammerte das Lenkrad so sehr, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie schaute über das Geländer und sah, wie das Wasser unter der Brücke hindurch rauschte. Es kräuselte sich an den Steinen und bildete kleine Wasserfälle, gespeist von hundert Quellen in den Bergen. Jacob hatte ihr mal von einem kleinen Segelboot erzählt, das er als Kind besessen hatte. Der Fluss hatte es zerschmettert. Ob Joshua auch so ein Segelboot bekommen hatte? Zwillinge bekamen doch meistens die gleichen Geschenke.
Das Haus war völlig still, als sie davor parkte. Niemand kam ihr entgegen. Von Nahem betrachtet sah das Haus ziemlich heruntergekommen aus. Ungepflegt war es, die Fenster waren schmutzig und die Holzverkleidung war an einigen Stellen schon ziemlich lädiert. Neben dem Haus stand eine alte Scheune am Hang. Blaugraue Hennen zerscharrten im Schatten der Scheune das Gras. Bei ihrem Verlobungsbesuch wollte Jacob ihr auch die Scheune zeigen, aber allein der Gedanke an all den Staub, Mist und das Ungeziefer hatte sie so angewidert, dass sie nicht mit hineingehen konnte. Sie fröstelte, als sie daran dachte, was Jacob ihr über Joshuas Tierquälerei erzählt hatte.
Renee klopfte an die Tür. »Jacob?«
Vielleicht war Joshua ja niemals hier gewesen, und die ganze Erpressungsgeschichte war nur ein fauler Trick. Vielleicht hatte sich Jacob hier immer mit Carlita getroffen. Es war ein perfektes Liebesnest. Vielleicht lag er ja auch jetzt gerade im Bett und wartete auf sie. Mit Kerzen, Massageöl und Importbier. Sie drehte am Knauf. Die Tür war verschlossen.
Sie lief ums Haus herum und zog sich an einem Fensterbrett im Erdgeschoss hoch. Die Spitzen ihrer Pumps bohrten sich in die Holzverkleidung. Das Esszimmer war leer, darin stand nur ein verstaubter ovaler Holztisch. In jener längst vergangenen Nacht hatte Warren Wells an der Stirnseite dieses Tisches gesessen, Renee musste neben ihm und Jacob Platz nehmen. Hinter dem Tisch war der Kamin, auf dem Kaminsims standen viele kleine Figürchen, immer noch in derselben Anordnung wie damals bei ihrem ersten Besuch. Sie stieß sich zurück auf den Boden und lief weiter um das Haus herum. Die Hintertür stand offen.
»Jacob?«
Von der Tür gelangte man in die Küche. Sie war geräumig, aber dunkel, trotz des sonnigen Wetters. Sie wollte das Licht anschalten, aber es ging nicht. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie einen kleinen Metalltisch neben dem Kühlschrank, auf dem Pizzaschachteln, leere Bierflaschen und offene Konservendosen lagen. Unter dem Tisch stand eine weiße Kühlbox. Es hatte sich also wirklich jemand hier aufgehalten.
Sie versuchte sich an all die Abende zu erinnern, an denen Jacob spät nach Hause gekommen war, weil er noch etwas zu besorgen hatte oder nach der Arbeit noch mal auf die Baustelle gefahren war. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war er wochenlang verschwunden gewesen. Er hatte gesagt, er habe im Wald geschlafen, aber vielleicht hatte sein Gedächtnis unter dem Alkoholeinfluss gelitten. Möglicherweise waren seine Dämmerzustände die perfekte Ausrede. Schließlich konnte man nur schwer einer Lüge überführt werden, wenn man sich nicht mehr daran erinnern konnte, wo man gewesen war. Oder mit wem.
Vielleicht hatte Jacob auch wieder angefangen zu rauchen.
Sie lief durch den Flur zur Treppe. Hier war es noch dunkler. Die umliegenden Räume waren durch dicke Vorhänge vom Sonnenlicht abgeschirmt. Das Haus roch nach Schimmel, kaltem Rauch und altem Bratfett. In ein paar Blechdosen klebte Zigarettenasche, und auf dem gefliesten Boden lagen überall Kippen. Sie hielt inne und lauschte. Vielleicht hatte Jacob sie ja kommen gehört und versteckte sich jetzt vor ihr.
Renee lief langsam die Treppe hoch. Sie schaute genau, wohin sie ihre Füße setzte. Sie wollte nicht, dass das alte Holz knarrte. Wenn Jacob irgendetwas im Schilde führte, dann war es besser, wenn sie ihn auf frischer Tat ertappte. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und hielt sich dabei am Geländer fest. Plötzlich fühlte sie etwas Glitschiges, Feuchtes.
Sie hielt sich die Hand vors Gesicht. Selbst im fahlen Licht des Treppenhauses gab es keinen Zweifel.
Es war Blut.