20. KAPITEL

Renee fuhr mit dem Staubsauger immer wieder über den Teppich, völlig verloren im Summen der Sauberkeit. Die Fenster standen offen, ein leichter Windhauch blähte die Gardinen. Renee liebte die frische Luft und den Duft der Kiefern, die draußen am Ufer des Baches standen. Das Sonnenlicht tauchte das Zimmer in ein weiches, federleichtes Licht. Das gefiel Renee.

Sie würden nicht mehr lange hier wohnen, obwohl sie ihre gemeinsame Zeit hier genossen hatte. Irgendwie hatte sie das Zusammenleben an die Zeit erinnert, als sie in Jacobs Studentenbude gehaust hatten. Es war eng und voll und zweisam. Lange vor Mattie und Christine und …

An all das wollte sie jetzt nicht denken. Was zählte, war die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Sie hatten bereits Pläne für ein neues Haus. Jacob wollte ein noch größeres Haus bauen als das alte, aber Renee war sich nicht sicher, ob es nicht zu groß und zu leer sein würde. Wobei, ihr Nest würde bestimmt nicht für immer leer bleiben. Nach all dem Leid und den Opfern, die ihr Leben überschattet hatten, stand ihnen nun auch mal ein Quäntchen Glück zu.

Sie schaltete den Staubsauger aus und warf einen kritischen Blick auf den Boden. Wenn Jacob von der Baustelle nach Hause kam, machte er oft den Teppich schmutzig. Sie hatte ihn zwar gebeten, die Schuhe draußen auszuziehen, aber die Wohnung hatte keinen Flur, und die Fußabdrücke gefielen ihr genauso wenig wie die Schuhe, die draußen vor der Tür standen. Sie stellte den Staubsauger zurück in den Schrank. Im neuen Haus wünschte sie sich viele Schränke, die groß genug sind, um alles darin verschwinden zu lassen.

Sie schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Ende der Mittagspause, sie musste zurück ins Büro. Zuerst war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie wirklich bei M&W arbeiten sollte, aber Jacobs Begeisterung hatte sie schließlich überzeugt. Jetzt war sie froh, dass sie das Angebot angenommen hatte, denn so sah sie ihren Mann mehrmals am Tag. Meistens aßen sie zusammen Mittag. Zweimal waren sie sogar heimlich in die Wohnung entwischt und hatten mitten am Tag Sex gehabt, so wie am Anfang ihrer Beziehung. In ihr war ein Strahlen erwacht, und sie hatte das Gefühl, das sie ihn wirklich wieder aufbaute. Endlich hatte sie eine ehrenwerte Aufgabe. Es galt, die Wunden zu heilen, die der Verlust ihrer Kinder ihm zugefügt hatte. Vielleicht konnte sie durch die Rettung ihres Mannes einen Ausgleich dafür schaffen, dass es ihr nicht gelungen war, ihre zwei Kinder zu retten. In Gottes Augen zählte das vielleicht. Wer weiß.

Als Krönung ihres täglichen Reinigungsrituals stellte sie einen frischen Blütenzweig auf den Kaminsims neben Matties Urne. Es war ein Lorbeerzweig, die blühten gerade so schön. In voller Pracht brachen die Knospen aus dem schwarzen Gebirgsboden, das ganze Gegenteil der grauen Asche im Porzellan.

»Wünsch mir, Mattie«, flüsterte sie. »Wünsch mir, dass du jetzt an einem besseren Ort bist.«

Sie verbeugte sich leicht vor der Urne und kreuzigte sich, dann ging sie hinaus in diesen sonnigen Donnerstag. Als sie ihr Auto aufschloss, bemerkte sie einen uralten, rostigen Chevrolet neben ihrem Wagen, eine dieser riesigen Spritschleudern, die man fuhr, als ihre Eltern noch jung waren. Der Lack war in einem hässlichen Grün, ein Kotflügel war mit verblichener grauer Farbe ausgebessert, die Reifen waren abgefahren. Die getönten Scheiben waren viel dunkler, als es eigentlich erlaubt war. Sie hatte das Auto noch nie vorher auf diesem Parkplatz gesehen, und neue Mieter mussten ihre Autos im Büro von M&W anmelden. Vielleicht gehörte es ja einem Besucher.

Als sie rückwärts ausparkte, fing auch der Motor des grünen Monsters an zu heulen, begleitet von einer riesigen schwarzen Rauchwolke aus seinem Auspuff. Sie wartete, damit das grüne Auto vor ihr rausfahren konnte, aber es bewegte sich nicht von der Stelle.

Wenn man schon mal nett sein will. Sie machte eine Handbewegung, um anzudeuten, dass sie jetzt losfuhr, und gab Gas. Der Chevy schlingerte und schob sich vor sie. Renee trat auf die Bremsen, ihr Gurt grub sich in ihre Schulter, und ihr Wagen kam nur wenige Zentimeter vor dem Chevy zu Stehen. Wütend starrte sie auf die getönte Frontscheibe. Es irritierte sie, dass sie den Fahrer nicht sehen konnte.

Sie wusste nicht, was hier vor sich ging. Sie winkte den Chevy wieder vor, aber nichts tat sich. Renee ließ ihre Scheibe herunter und steckte ihren Kopf zum Fenster hinaus. »Bitte«, rief sie, »ich hab’s eilig!«

Sie schaute sich um und überlegte, ob sie hupen sollte. Aber das würde die Mittagsruhe der Mieter stören. In Ivy Terrace benahm man sich nicht daneben. Und weil sie nicht weiter warten wollte, fuhr sie ein Stück zurück und versuchte, um den Chevy herumzulenken.

Der Chevy schoss einen Meter nach vorn, die Lungen des Motors blähten sich geräuschvoll auf. Renee gab Gas, um vorbeizukommen. Sie machte einen extra großen Bogen, um zur Parkplatzeinfahrt zu gelangen. Als sie endlich freie Fahrt hatte, wurde sie wieder langsamer und schaute in den Rückspiegel. Dort sah sie, wie der Chevy hinter ihr her polterte. Ohne anzuhalten bog sie auf den Highway. Der Chevy blieb ihr auf den Fersen, seine Reifen quietschten unter der Masse der schweren Stahlkarosse. Renee klammerte sich mit all ihrer Kraft an das Lenkrad und schielte auf den Tacho. Sie fuhr schon fast zwanzig km/h zu viel, aber der Chevy war dicht an ihr dran und kam immer näher.

Renee fuhr sonst eigentlich nie aggressiv, aber die Angst presste ihren Fuß auf das Gaspedal. Die Häuser flogen an beiden Seiten an ihr vorbei, die alten Eichen am Straßenrand bildeten einen Tunnel um sie, und die entgegenkommenden Fahrzeuge wichen ihr aus. Wieder schaute sie in den Rückspiegel. Der Chevy war auf fünf Meter an ihr dran, der verbeulte Kühler grinste wie ein verchromter Kannibale. Die Ampel vor ihr sprang auf Gelb. Renee schätzte kurz die Entfernung, hielt die Luft an und drückte aufs Gas, so dass sie bei Rot über die Kreuzung schoss.

Den Chevy ließ die rote Ampel kalt. Er schlingerte hinter ihr her. Eine Hupe plärrte, ein Müllmann, der gerade eine Mülltonne leeren wollte, sprang zur Seite. Rechts vor ihr lag eine Tankstelle. Renee wurde langsamer, als ob sie abbiegen wollte. Der Chevy fuhr einfach über die doppelt durchgezogene Mittellinie auf die Gegenfahrbahn und blieb dicht neben ihr.

Renees Scheibe war noch immer unten, ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht, so dass sie einen Moment lang nichts sah. Der Auspuff des Chevys war offenbar kaputt, so laut röhrte er, aber trotzdem hörte sie die Musik. Sie kam sich vor wie in einer Szene aus den alten Schlitzohr-Filmen mit Burt Reynolds als bleifüßiger Straßenkreuzerpilot. Der Bass pumpte, die Gitarren klirrten, und eine halbwegs bekannte Männerstimme jammerte irgendwas von »Blisters, great big blisters on my heart«.

Renee dachte, dass der Chevy sie bei den Tanksäulen stellen würde. Vielleicht würde er sie auch über den Haufen fahren, wenn sie in den Laden ging. Aber diese Gedanken waren genauso verrückt wie die Vorstellung, dass sie sich eine Verfolgungsjagd lieferten. Sie ging vom Gas und bog kurz vor der Tankstelle rechts ab. Der Chevy ging in die Bremsen, die Räder qualmten, er schnitt einen Pickup und eine kaputte Telefonzelle auf dem Tankstellenparkplatz. In weniger als dreißig Sekunden hatte ihr Verfolger den verlorenen Boden wieder gutgemacht. Renee hatte Angst, den Subaru auf der engen Straße auf mehr als 110 zu peitschen. Allerdings war die Gegend jetzt ländlicher, so dass die Gefahr geringer war, dass jemand von der Seite in sie reinfuhr. Aber die einsame, endlose Straße bedeutete auch weniger Zeugen, wenn der Chevy-Fahrer sie von der Fahrbahn abbrachte.

Wieder schaute sie in den Rückspiegel. Sie wollte unbedingt wissen, wer sie da quälte. Die schwarze Scheibe verriet nichts. Doch wenn der Chevy sie wirklich verfolgte, was würde passieren, wenn er sie kriegte?

Vielleicht würde sie endlich Joshuas Gesicht sehen.

Vielleicht würde sie ein paar Antworten bekommen.

Es war immer am besten, der Angst in die Augen zu schauen. Selbst wenn man dabei draufging.

Auf der rechten Seite stieg das Gelände stark an. Der Hang war mit einem kleinen Wald bedeckt. Links lagen Weiden, das sommerreife Gras war satt und dunkelgrün. Eine Herde Black-Angus-Rinder lag wie schwarze Punkte auf der Wiese und suchte den Schatten der Bäume. Da entdeckte Renee einen guten Platz zum Anhalten. Einen Feldweg, der zu einer windschiefen Scheune führte. Sie ging vom Gas und bog ab, den Blick im Spiegel fest auf den Chevy gerichtet. Sie war darauf vorbereitet, dass Joshua sie vielleicht von hinten rammen würde. Sie stellte den Motor ab und wartete. Ihr Fenster war offen. Unten im Tal lag ein Bauernhof, und an den Hängen auf der anderen Straßenseite waren ein paar Dächer zu sehen.

Der Chevy bremste und kam neben ihr zum Stehen. Wieder wehten die Country-Klänge und die whiskeysüße, rauchige Stimme zu ihr herüber. Der Song schwoll an zum Refrain, irgendwas mit einem Ring aus Feuer, und da erkannte Renee endlich den Sänger. Johnny Cash. Sie wusste nicht viel über ihn, aber kurz nach seinem Tod hatte sie im Fernsehen eine Sondersendung über seine Karriere gesehen. »The Man in Black« hatten sie ihn genannt.

Renee wartete nicht, bis der Motor des Chevys erstarb. Sie stieg aus und lief von vorn um den Wagen herum. Sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte, ja sie verführte den Fahrer geradezu, einen Sprung nach vorn zu machen. Sie warf einen grimmigen Blick auf den Platz im Auto, wo sie den Fahrer vermutete. Jetzt würde sie endlich ihre Antworten bekommen. Keine Geheimnisse mehr, keine Spielchen. Fast hätte sie mit der Faust gegen die getönte Scheibe an der Fahrerseite geschlagen, da öffnete sich die Tür.

Eine dicke graue Rauchwolke wehte ihr aus dem Auto entgegen. Johnny Cash sang immer noch von seinem Feuerring, der langsam erlosch. Der Chevy hustete noch ein paar Mal in donnerndem Sterben, dann war alles still. Renee hörte den Wind in den Bäumen und ein metallisches Quietschen vom Fahrersitz. Ihre Muskeln waren angespannt. Eine Hälfte von ihr bereitete sich auf den Sprung vor, um den Fahrer an der Gurgel zu packen. Die andere Hälfte wollte am liebsten über die Felder fliehen.

Na komm schon, Joshua. Du kannst gar nicht schlimmer sein, als ich es mir vorgestellt habe!

Da stieg eine Frau aus dem Auto. Sie war groß und dunkelhäutig, sehr hübsch, aber mit harten Augen. Eine Latina mit dichten, schwarzen Wimpern und glattem, rabenschwarzem Haar. Ihre gelbe Baumwollbluse hatte sie unter der Brust zusammengeknotet. Ihr dunkler Bauch war flach, ihr Nabel bildete eine braune Höhle. Sie trug kurz abgeschnittene Jeans und billige rosa Flipflops. Sie aschte ab und grinste.

»Du bist nicht er«, sagte Renee.

»Du aber auch nicht«, entgegnete die Frau. Ihr spanisch angehauchter Akzent klang nach Südstaaten und Tabakplantagen. Sie rollte das R und zog die Vokale in die Länge.

»Warum verfolgst du mich?«

»Wir müssen reden.« Die Frau lehnte sich an den Chevy.

»Warum rufst du nicht einfach an wie jeder normale Mensch?«

»Weil ich auf Nummer Sicher gehen wollte«, sagte sie. »Und weil es Jacob nicht wissen soll.«

»Wer bist du?«

»Carlita. Eine Freundin deines Mannes.«

»Jacob hat mir nie was von dir erzählt.«

Carlita lachte und hustete. Sie schnipste ihre Zigarette in den Straßengraben. »Kein Wunder.«

«Was ist mit meinem Mann?« Renee ärgerte sich, dass sie ihr Handy nicht dabei hatte. Auf der Straße kam ein Auto angefahren, doch bevor Renee sich überlegt hatte, dass sie es anhalten könnte, war es schon vorbei.

»Jacob ist ein böser Junge. Er ist ziemlich loco.« Carlita legte eine Hand in die Hüfte und hielt den Kopf schief, so dass ihr schwarzes Haar über ihre Schultern floss. Sie verzog ihren Mund zu einem ironischen Grinsen. »Ich kann nichts dafür. Aber du weißt doch auch, wie er ist,

«Moment mal«, fauchte Renee. «Erst versuchst du mich von der Straße zu schubsen und jetzt redest du so, als ob wir alte Freundinnen wären!«

»Wir sind fast so was wie Schwestern«, sagte Carlita. »Joshua hat mir so viel von dir erzählt!«

»Joshua kennt mich doch überhaupt nicht! Jacob hat nie was von ihm erzählt. Sie haben sich vor vielen Jahren zerstritten, lange bevor ich Jacob kennenlernte.«

»Jacob hat seine – wie sagt man? – Einbildungen. Er denkt, Joshua hat seinen Vater ausgetrickst, damit er das Haus und das Grundstück bekommt. Jetzt denkt er, dass Joshua hinter seinem Geld her ist. Aber Joshua wünscht sich einfach nur Versöhnung. Er will die Familie wieder zusammenbringen.«

Renee schüttelte den Kopf. »Jacob hasst dieses Haus. Er sagt, es steckt voller schlechter Erinnerungen.«

«Vertraust du deinem Mann?«

«Na klar doch! Schließlich haben wir in letzter Zeit ziemlich was durchgemacht zusammen …«

»Die Kinder. Schreckliche Sache.«

Renees Herz geriet ins Stottern und überschlug sich dann fast. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, als sie sprach. »Woher weißt du das?«

»Wie Schwestern, siehst du? Schwestern hüten ihre Geheimnisse vor anderen, aber nicht voreinander.«

»Ich bin nicht deine Schwester, und wenn du nicht sofort aufhörst, in Rätseln zu reden, dann …« Sie schaute auf den Boden, ob sie vielleicht etwas zum Werfen finden konnte. Neben dem Tor lag ein Stapel Eichenstäbe, wie man sie zum Tabaktrocknen braucht. Sie waren so spitz, dass man damit selbst einen Vampir pfählen könnte. Ihre Hände zitterten, vor Wut traten Tränen in ihre Augen, so dass alles vor ihr verschwamm.

»Hör auf damit«, sagte Carlita mit matter Stimme, als ob ihr schon so oft gedroht worden wäre, dass sie nur noch müde darüber lächeln konnte. »Ich will doch nur helfen.«

»Indem du mich verfolgst und mir dann das alles an den Kopf wirfst?«

»Ich tu das für Joshua. Weil ich ihn liebe. Und weil ich will, dass er glücklich ist.«

»Und du machst ihn glücklich, indem du mich unglücklich machst?«

»Ich hab Angst, dass Jacob ihm was antut.«

»Jacob könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist der netteste Mann, den ich je kennengelernt habe!«

»Aber du weißt auch, wie er ist, wenn sich ihm jemand in den Weg stellt. Dann gibt’s richtig Ärger.«

»Nicht mein Jacob.«

»Du kennst ihn nicht.«

»Ich kenne ihn sehr gut.«

»Dann weißt du auch, dass er mich liebt.«

Durch den Akzent der Frau klang das Wort noch fremder. »Liebt?«

»Wir lieben uns seit vielen Jahren.«

Renee hatte sich immer gefragt, warum es heißt, dass man »Rot sieht«. Sie dachte, das ist nur so eine Redewendung. Jetzt merkte sie plötzlich, dass man wirklich Rot sehen konnte. Hinter ihren Augenlidern, aus den versteckten Spalten ihres Schädels, quoll der rote Wahnsinn hervor. Eine üble, fremde Energie durchfuhr sie, eine grausame Elektrizität, gezündet von einem dämonischen Blitz.

»Du Schlampe!« Renee warf sich auf Carlita, obwohl sie wusste, dass diese größer war als sie und besser in Form. Sie war keine ernsthafte Gegnerin für ihre kräftige Widersacherin.

Doch die rote Woge der Wut durchflutete sie. Ihr Körper war wie eine Marionette. Die Wut warf ihren Körper gegen Carlita. Ihre Fäuste ballten sich und flogen in die Höhe, um das finstere, dunkle Gesicht zu zerschmettern, die bodenlosen braunen Augen zu zertrümmern und die Lippen herauszureißen, die eine solch obszöne Behauptung ausgesprochen hatten.

Die Wucht von Renees Angriff schleuderte sie beide auf die warme Motorhaube des Chevys. Das Blech bekam eine Beule, als Renee sich auf Carlita wälzte und mit einer Hand ins Haar der fremden Frau packte. Carlita ächzte, ihr Atem roch nach Zigaretten und Bier. Renee schlug ihr ins Gesicht und kletterte rittlings auf sie, und Carlita wand und drehte sich, um ihre Angreiferin abzuwerfen. Sie trat mit dem Fuß gegen Renees Schienbein, doch sie spürte es kaum. Carlitas Unterarm stieß in ihre Magengrube. Sie schnappte nach Luft, während der Schmerz langsam nachließ.

Renee reckte ihren Kopf nach vorn und bemerkte mit Schrecken, dass sie gerade ihre Zähne in die Wange der Frau graben wollte. Sie hielt inne, dann erschlaffte sie und glitt von Carlita herab. Dabei spürte sie deren ungezügelte Brüste unter der dünnen Bluse. Sie fühlte ihre Hitze, die sanften, aber kräftigen Schenkel, ihre festen Latina-Lippen. Sie spürte all das Weibliche und Gefährliche und Verführerische, das Männer magisch in seinen Bann zog.

Alle Männer. Selbst einen wie Jacob.

Sie stieß sie weg und glitt unter der Stoßstange auf den Boden. Ihre Beine waren schwammig. Der Gedanke wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Jacob schaute nicht mal braungebrannten Bikinimädchen hinterher, und auch die leicht bekleideten Showgirls im Fernsehen ließen ihn kalt.

Ja, sie vetraute ihm.

Oder etwa nicht?

Trotz seiner Dämmerzustände und Erinnerungslücken, trotz seiner gelegentlichen, unerklärlichen Wutanfälle.

Carlita saß im Schneidersitz auf der Motorhaube ihres Wagens. Sie fischte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, klopfte auf die Unterseite und bot Renee eine Kippe an. »Du musst es langsam angehen lassen«, sagte sie.

Renee schüttelte den Kopf und nahm weder die Zigarette noch Carlitas Rat an.

Carlita zündete sich eine an und strich sich über die Wange. »So wie du kämpfst, meinst du es ernst.«

»Was ist nun mit dir und Jacob?«

»Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst. Ein Mann sollte ehrlich zu seinen Gefühlen stehen. Aber wie die Männer nun mal sind, kriegen sie das niemals hin.«

Ein Pickup kam ihnen entgegen, er fuhr langsamer und winkte, bevor er wieder Gas gab. Ein netter Typ vom Dorf, der guckte, ob alles in Ordnung ist. Als ob jemals wieder alles in Ordnung sein würde. Renee überlegte, ob sie ihn anhalten sollte, damit er die Polizei holt, aber sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf die Familie Wells lenken.

Jetzt, wo ihre Wut verflogen war, fühlte sich Renee kraftlos und leer. Sie konnte kaum noch flüstern. »Erzähl’s mir. Bitte.«

»Als ich klein war, habe ich auf der Wells-Farm gewohnt. Mein Vater und mein Bruder haben auf der Weihnachtsbaumplantage gearbeitet, ich hab im Gemüsegarten geholfen, Tomaten und Bohnen gepflückt. Wir waren Wanderarbeiter mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung. Mi padre hat immer gesagt, das ist die einzige Möglichkeit, aus Mexiko rauszukommen. Und dann hab ich Joshua kennengelernt.«

»Du willst mir also erzählen, dass Warren Wells es zuließ, dass sein Sohn sich mit einer Mexikanerin traf? Von dem, was Jacob mir erzählt hat, wart ihr – also ich meine, die Arbeiter – nicht wirklich geachtet.«

Carlita blies Rauch um ihr Lächeln. »Wir waren ja nicht offiziell zusammen. Er kam in unser Camp, wenn die Arbeiter draußen auf den Feldern waren. Ich war in der Scheune und hab Bohnen geschält. Er kam rein, als ob das alles ihm gehörte, und setzte sich neben mich. Ich war ziemlich verängstigt, aber ich war schlau genug, meinen Mund zu halten. Mein Englisch war damals schon ziemlich OK. Ich war schon jahrelang mit meiner Familie immer wieder nach North Carolina gekommen. Mi Padre half immer bei der Soja-oder Tabakernte an der Küste, manchmal auch beim Pfirsichpflücken. Und so kam eins zum anderen. Joshua nahm den Korb mit den Bohnen von meinem Schoß und stellte ihn zur Seite. Dann legte er mich im Heu flach.«

»Oh mein Gott! Er hat dich vergewaltigt

Carlita lachte derb. »Ach Quatsch! Ich wollte mal wissen, was ein Gringo so drauf hat. Ich hatte es vorher nur mit ein paar Jungs aus dem Camp getrieben, und mi padre hätte mich umgebracht, wenn er mich erwischt hätte. Es war gefährlich, und das gibt dir als Teenager doch gerade den Kick! Comprende

»Nein, nicht ganz. Ich war noch Jungfrau, als ich Jacob kennenlernte«, log sie. »Und ich hab meine Jungfräulichkeit nur aufgegeben, weil ich wusste, dass wir heiraten würden.«

»Vielleicht hab ich mir ja auch so was eingebildet. Mit unserem Visum konnten wir neun Monate bleiben. Im Dezember, wenn alle Bäume gefällt waren, sollten wir wieder zurück nach Guadalajara. Ich dachte, wenn Joshua mich schwängert, dann krieg ich einen Ring an den Finger und eine Greencard.«

Renee war von so viel Ehrlichkeit ziemlich erschüttert. »Und was hat das alles mit Jacob zu tun?«

»Nach diesem ersten Mal haben Joshua und ich es in jeder freien Minute getrieben, in der wir uns davonstehlen konnten. Ihm hat’s gefallen und ich dachte, je öfter wir es tun, umso schneller krieg ich ein kleines Gringo-Baby in meinen Bauch.« Sie klopfte sich auf ihren Waschbrettbauch und sagte bitter: »Aber das ist leider nicht mein Ding. Die Samen schlagen keine Wurzeln in mir.«

Renee fragte sich, was schlimmer war: zwei Kinder zu verlieren oder gar keine Kinder erst bekommen zu können. Nichts war wohl schlimmer als das. »Also musstest du wieder zurück nach Mexiko?«

»Nein. Sein Vater hat es irgendwie so hingebogen, dass wir nicht gleich wieder zurück mussten. Joshua meinte, es wäre, weil wir so billig sind. Er sagte, ›dann muss Paps wenigstens nicht so hohe Löhne zahlen wie für Weiße‹. Manchmal war auch Jacob dabei, wenn Joshua zu uns ins Camp kam. Ich glaub, er war ziemlich neidisch.«

»Mach mal halblang. Du kennst Jacob doch gar nicht.«

«Na, na, Señora, vielleicht kennst du ihn ja nicht richtig! Er hat uns immer dabei zugesehen. Eines Tages, als wir gerade unter der Brücke lagen, hab ich gesehen, wie er sich in den Büschen versteckt. Dann kam er raus und sagte, dass er alles seinem Vater erzählt, wenn ich ihn nicht auch mal ranlasse.«

Renees Eingeweide zogen sich zusammen, als ob ein Schlangennest in ihrem Bauch steckte. »Und du hast ihn gelassen?«

»Joshua ist völlig durchgedreht, er war total loco und hat ihn erstmal verprügelt. Er sagte, er sei der Älteste und wäre deshalb immer als Erster dran. Jacob sollte wiederkommen, wenn er was zu bieten hätte.«

»Und?«

«Jacob kam wieder. Vor zehn Jahren. Direkt nach eurer Hochzeit.«