7. KAPITEL

»Ich verstehe Sie, Mr. Wells. Wirklich. Sie wissen doch – wenn ich hier mehr Spielraum hätte, dann würde ich sofort etwas für Sie tun.«

Diese Worte waren perfekt einstudiert und trafen genau auf den Punkt. Rayburn Jones legte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, Augen wie Öltropfen, seine Glatze glänzte im Schein der Leuchtstofflampen. Auf seinem Computer lief ein Aquarium-Bildschirmschoner, auf dem bunte Fische in aller Ruhe ohne Angst vor Raubfischen vor sich hin schwammen. Die Schreibtischplatte aus Ahorn schimmerte wie die Oberfläche eines stillen, dunklen Sees. Das Büro hätte ebenso gut ein Museum für den natürlichen Aufenthaltsort einer speziellen Gattung namens »Versicherungssachverständiger« sein können.

»Das verstehe ich nicht.« Jacob wischte sich über die Stoppeln an seinem Kinn. Er roch seinen eigenen Schweiß.

»Wir können das Geld leider erst auszahlen, wenn der Fall geklärt ist. Sie wissen doch, wie das ist. Solche Angelegenheiten werden an die Versicherungsgesellschaft weitergeleitet, die wittern irgendwas Verdächtiges und drehen erstmal den Geldhahn zu.«

»Diese blöde Feuerwehrtante.«

»Sie können sicher nachvollziehen, dass wir vorsichtig sein müssen, sobald es den geringsten Zweifel gibt.« Jones lehnte sich nach vorn. »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Mr. Wells. Niemand behauptet, dass das Feuer absichtlich gelegt wurde. Doch die Papiere müssen sauber sein.«

Jacob atmete schnell, die Luft im Raum schien ihm plötzlich zu dünn. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Seine Seiten stachen. Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Meine Tochter ist in dem Feuer umgekommen!«

Jones schielte auf ein eingerahmtes Familienfoto, das seine drei Töchter zeigte, mit Löckchen, Schleifchen und einem Lächeln im Gesicht. »Mir ist das Ausmaß Ihrer Tragödie völlig bewusst, Mr. Wells. Meine Anne hat mit Mattie zusammen Fußball gespielt, wissen Sie noch? Ich kann nicht mal anfangen, darüber nachzudenken, was Sie gerade durchmachen.«

Jones’ gleichmäßiger Tonfall machte ihn wütend. Jacob ließ seine zitternde Hand in seine Hosentasche gleiten, wo sie das kühle Metall des Flachmanns spürte. Wenn er jetzt nur einen Schluck nehmen könnte. Dann würde er das hier durchstehen. »Ich habe mit der Feuerwehrchefin gesprochen. Sie sagt, es gibt zwar noch ein paar ungeklärte Dinge, jedoch nichts, weshalb sie die Kripo hinzuziehen müsste.«

»Sie hat noch immer keinen Abschlussbericht geschrieben, und es ist jetzt schon fast drei Monate her. Ich kann leider keine weiteren Auszahlungen mehr machen, bis die Sache offiziell geklärt ist. Ihre Frau hat bereits eine kurzfristige Anzahlung erhalten, um ihre vorläufigen Lebenshaltungskosten zu decken, aber mehr kann ich im Moment nicht tun. Glauben Sie mir, sobald ich von der Versicherungsgesellschaft grünes Licht bekomme, bringe ich den Scheck persönlich bei Ihnen vorbei.«

Jacob erzählte Jones nicht, dass er Renee seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erst ein einziges Mal gesehen hatte. Die Begegnung war ein Zufall gewesen. Er war auf der Bank, um hundert Dollar von ihrem gemeinsamen Sparkonto abzuheben. Der Kassierer rief seinen Vorgesetzten hinzu. Renee war in einem Besprechungsraum im oberen Stockwerk, von wo aus man auf die Lobby blicken konnte. Sie unterhielt sich mit jemandem, dessen Anzug so schnieke aussah wie frisch gedruckte Geldscheine. Sie sah Jacob durch die gläserne Wand und sagte seinen Namen, dann rannte sie durch die Bürotür und die Treppen hinunter.

Er flüchtete nach draußen, bevor sie ihn erreichen konnte. Hecken und Büsche waren seine neuen Vertrauten, seine natürliche Umgebung, und zwischen ihnen bewegte er sich fort, bis er ein ganzes Stück von der Bank entfernt war. Irgendwann gab sie die Suche auf. Er wartete, bis sie ihr Geschäft abgeschlossen hatte und sah zu, wie sie wegfuhr. Seine Ausgaben für diesen Tag, für Alkohol und ein Motelzimmer, bezahlte Jacob mit Kreditkarte. Sein früherer Erfolg hatte ihm einen großen Vorteil für sein neues Leben verschafft: Auf seiner Platin-VISA-Karte hatte er einen Kreditrahmen von 50.000 Dollar.

»Das Haus hatte einen geschätzten Wert von einer Dreiviertelmillion Dollar«, sagte Jacob. »Für den Innenausbau waren zahlreiche Sonderanfertigungen gemacht worden. Und der Hausrat war noch mal mit einer Viertelmillion versichert.«

»Bitte, Mr. Wells. Fangen wir nicht wieder von vorn an. Machen Sie es doch nicht schwerer, als es so schon ist.«

»Ach, es ist überhaupt nicht schwer. Man begräbt seine Kinder und das war’s. Was soll man der Vergangenheit nachweinen? Pack dein Zelt ein und zieh weiter!«

»Mr. Wells.«

Jacob presste seine Fäuste gegen Jones’ polierte Schreibtischplatte.

»Sie haben mir bei all den Dinnerabenden die Hand geschüttelt, haben sämtlichen Papierkram erledigt, um meine Bauprojekte zu versichern und haben am laufenden Band meine Versicherungsprämien kassiert. Und jetzt, wo ich Sie brauche, benehmen Sie sich wie eine verdammte Maschine.«

»Schauen Sie sich Ihren Versicherungsvertrag an. Niemand sagt, dass Sie irgendetwas damit zu tun haben, aber es kommen verschiedene Brandursachen in Frage, von denen einige nicht mit versichert sein könnten. Und wenn ich Ihnen als Freund einen Rat geben darf: Hören Sie auf zu trinken. Das hilft überhaupt nicht. Wenn die Versicherungsgesellschaft ihre Gutachter schickt, ist das das Erste, worauf sie anspringen.«

Jacob stand auf und langte nach dem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Visitenkartenhalter, aus dem zwei Messingkugelschreiber ragten. Er riss einen dieser Stifte aus seiner Halterung und zeigte damit auf Jones. »Wir werden ja sehen, ob ich Ihnen jemals wieder einen verdammten Scheck ausstelle.«

Jones war auch aufgestanden, einsneunzig groß und fünfundzwanzig Kilo schwerer als Jacob. »Ich habe Ihren Vater gekannt, Mr. Wells. Ein feiner Kerl. Ich erkenne ihn zum Teil in Ihnen wieder. Ich habe gesehen, wie Sie Ihren Weg machten und Ihren Fuß in die Tür gesetzt haben, und Sie waren auf dem besten Weg, es wirklich zu etwas zu bringen. Sie wissen gar nicht, wie stolz er war, als er erfahren hat, dass Sie sein Geschäft übernehmen wollen. Aber das alles versinkt jetzt in dem Chaos, das Sie hier anrichten.«

Vater. Das war der letzte Mensch, an den Jacob jetzt denken wollte. Vater war aus konservativem Holz geschnitzt, so sentimental wie ein Ziegelstein. Jacob wollte immer besser sein als er, im Geiste oder in der Seele. Stattdessen hatte er es dann doch mit dem Vermächtnis des alten Herrn aufgenommen und agierte auf dem Spielfeld des Kommerzes, auf dem die fantasielosen Egoisten stets die Oberhand behielten. Wenn Jacob in den Spiegel schaute, dann blickte ihn immer auch ein Stück des alten Schweinehundes an.

Und Joshua. Nur das dreckige Grinsen fehlte.

Aber er konnte keine Wut mehr aufbringen, nicht auf den Alten, nicht auf Joshua, nicht auf Rayburn Jones. Sein Herz, zumindest das letzte Stück davon, das noch nicht völlig abgestorben war, gehörte immer noch voll und ganz Mattie. Er genoss den Schmerz und ließ ihn in den dunklen Höhlen seiner Seele nagen. Der Schmerz war wie ein Ofen, der den Alkohol und den Ehrgeiz und sogar die Wut verbrannte. Der Schmerz war sein Trost, das Leid ein verkappter Segen, der ihn durch die Tage begleitete, sein engster Freund.

Es kam ihm vor, als ob er hundert Jahre alt wäre. Er hatte alles verloren. Nur Geld könnte es irgendwie wiedergutmachen. Nur Geld konnte das Problem hinwegschaffen. »Tut mir leid, Mr. Jones. Ich kann nicht mehr klar denken.«

Jones kam um den Schreibtisch herum und legte eine Hand auf Jacobs Schulter. Eine herablassende Geste, aber auch gleichzeitig Jacobs erster Körperkontakt zu einem anderen Menschen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte. Die Berührung seiner Hand, wenn ihm der Barkeeper das Wechselgeld zurückgab, zählte er hier mal nicht mit.

»Tun Sie sich einen Gefallen, Jacob. Lassen Sie sich von jemandem helfen.« Jones schaute durch die Bürotür, um sicherzugehen, dass kein anderer Vertreter mithörte. »Als Mann hat man es verdammt schwer. Bei niemandem darf man sich ausheulen, und sogar wenn man allein ist, lässt man es für sich selbst nicht zu.«

»Sie war alles, was ich noch hatte.« Jacob schluckte sein Schluchzen hinunter. Er wusste, dass er wie ein flennender Besoffener klingen würde, wenn er sich jetzt gehen ließe.

Rayburn Jones klopfte ihm mit männlicher Coolness auf den Rücken. »Das stimmt nicht ganz. Sie haben Renee, und Sie haben noch den Rest Ihres Lebens vor sich. Was würde Mattie denken, wenn sie Sie so sehen würde?«

Jacob blickte nach oben. Im Meer seiner Tränen verschwamm die Zimmerdecke zu dicken, weißen Wolken. Doch er konnte Matties Gesicht nicht erkennen. Wenn sie dort oben sein sollte, dann war sie immer noch so weit weg wie eh und je.

Sie konnte ihm nicht vergeben. Denn sie war nicht mehr da.

Der Zorn trieb ihm die Feuchtigkeit aus den Augen. »Tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe. Ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld ist. Sie haben auch nur Ihre Vorschriften.«

Jones lächelte betrübt. »Sie haben doch noch ein paar Ersparnisse, oder?«

»Ja. Danke. Ich komm’ bald wieder.« Jacob würde ihm nichts von Matties millionenschwerer Lebensversicherung erzählen. Die Versicherung hatten sie auf Renees Namen bei einem anderen Vertreter abgeschlossen. Er wusste nicht, ob sie bereits Ansprüche angemeldet hatte. Die Wells hatten eine ganz besondere Finanzpolitik: alle Immobilien und Objekte so hoch wie möglich bewerten lassen, so viel Darlehen darauf aufnehmen, wie die Banken zuließen, und alles überversichern.

Rayburn Jones hatte Jacob einmal erklärt, dass man Versicherungen nicht abschloss, um irgendwann das Geld zu kassieren. Man setzte ja nicht das Leben seiner Lieben aufs Spiel. Doch letztendlich hatte sich selbst die Tragödie als kluge Investition erwiesen. Ein sicheres Spiel.

Die Versicherungsvertreter und Bestatter holten sich ihren Anteil. Polizei, Feuerwehr und Rettungssanitäter stellten ihre Rechnung, egal, ob man überlebte oder draufging. Krankenhäuser trugen sich nur deshalb, weil sie den Patienten, die eine fette Krankenversicherung hatten, zu viel berechneten – selbst denen, die auf dem Sterbebett lagen –, damit die Armen neben den Reichen ins Gras beißen konnten. Die Kirchen finanzierten sich aus den Spenden der Sünder, zumindest von denen, die Kirchensteuer zahlten. Ein System, das funktionierte.

Jacob machte sich bereit zum Gehen. Er wappnete sich für den Spießrutenlauf durchs Hauptbüro. Vor dem Brand war er aufrecht und erhobenen Kopfes durch diese Gänge gelaufen, hier ein Lächeln für die Damen, dort ein Handschlag für die Herren. Denn er war ein Wells, eine Säule der Gesellschaft. Er war jemand. Nun war er nur noch ein bedauernswertes Wesen. Man vermied jeglichen Blickkontakt.

Dabei wussten sie alle noch nicht einmal das Schlimmste. Sie hatten ihn nicht im Dickicht der Lorbeerbüsche von Ivy Terrace kauern sehen, mit einem Stück Baublech als Dach überm Kopf und mit ein paar Decken als Schlafstatt. Er hatte immer nur eine Flasche Schnaps dabei, damit sich der Müll nicht stapelte, doch die dicken Bohnen aus der Dose, die Ölsardinen und Müsliriegel hatten ihre silbernen Knochen um ihn herum hinterlassen und seine Verdauung ruiniert. Er blickte nicht mehr von einem Elfenbeinturm mit Panorama-Aussicht auf die Welt, sondern durch ein winziges Loch zwischen immergrünen Blättern, die den Blick auf die Wohnungstür seiner Frau freigaben.

Es war nicht nur eine Frage der Perspektive. Es war eine Frage der Aus-und Ansichten. Er war definitiv am falschen Punkt.

Zurück auf dem sonnigen Parkplatz blickte Jacob auf die hohen grünen Berge rings um Kingsboro. Zwischen den Hängen blitzten die Dächer der Häuser auf, und über den Baumwipfeln schwebten ein paar überdimensionierte Statussymbole. Er hatte es niemals verwerflich gefunden, hohe Häuser zu bauen. Der gute Ausblick ermächtigte die Immobilienmakler, horrende Preise zu verlangen. Jacob hatte mehrere Wohngebiete im Blockhüttenstil ins Rollen gebracht. Für manche davon mussten hunderte uralte Bäume gefällt werden. Zwar wuchs das Geld nicht auf Bäumen, doch aus Holz wurde Papier gemacht, und auf Papier wurde Geld gedruckt. Wieder einmal schien die Gedankenfolge logisch.

Doch anstatt durch den Wald zu rennen und aus voller Kehle zu schreien, musste er mit vorgetäuschter Würde ein paar Blöcke weiter laufen. Dort befand sich eine Praxis für psychologische Beratung. Ihm war bewusst, dass er wenigstens eine andere Jacke hätte anziehen sollen. Er hatte schon drei Nächte in diesem Hemd geschlafen, der weiße Kragen hatte einen schmuddeligen Elfenbeinton angenommen. Seine Schuhe waren ausgetreten und dreckig. Ein vollkommen ungeeignetes Outfit für das, was er vorhatte. Doch er hatte nicht die Kraft zum Duschen und Rasieren, und der Großteil seiner Kleidung war den Flammen zum Opfer gefallen. Das Bühnenkostüm des Immobilienmoguls, das einst seine Uniform war, hatte sich in Rauch aufgelöst, durchsetzt mit zerschmolzenen Elektrokabeln und der Asche des Kunstseidenteppichs, verwoben mit der Seele seiner toten Tochter.

Hätte er nur nicht mitten in der Nacht im Büro von M&W vorbeigeschaut, betrunken und auf der Suche nach Geld. Er hatte die Portokasse ausgeräumt, kurz durch seine Post geblättert und dabei ihre Nachricht entdeckt:

»Komm am Mittwoch um 3 ins Total Wellness. Bitte. Ich liebe dich. Renee.«

Es war reine Zeitverschwendung. Er wollte ihren gemeinsamen Schmerz nicht vor Fremden ausbreiten. Als Jugendlicher hatte er genügend Psychiater gesehen. Doch er war Renee etwas schuldig. Er wusste nicht genau, was das sein sollte, aber wenn er ihr eine Stunde seiner Zeit schenkte, dann würde sie sich vielleicht zufriedengeben und ihn in Ruhe lassen. Sie hatte das schwerste aller Geschütze aufgefahren, die unverfrorenste aller Lügen oder aber die jämmerlichste aller Wahrheiten: »Ich liebe dich.«

Das Total Wellness war ein zweistöckiges Gebäude etwas abseits der Hauptstraße. Es lag in einem Gewerbepark und beherbergte eine Kindertagesstätte, eine Suchtberatungsstelle und verschiedene weitere Berater, die ihre Dienstleistungen anboten. Finanziert wurde das alles aus unterschiedlichen öffentlichen Töpfen. In diesen Zeiten, wo der Stress immer mehr überhand nahm, war die psychologische Beratung zu einer Boombranche geworden, mit hell getünchten Ziegelwänden und bunt bemalten Säulen. In den Fenstern spiegelten sich Sonne und Wolken. Jacob lief über den Rasen. Gehwege und sonstige normale Strecken waren nicht mehr sein Revier.

Vom Kindergartenspielplatz hallten Schreie herüber. Jacob konnte sich keine schlimmeren Geräusche vorstellen. Das schrille Lachen zersplitterte wie Glas in seinen Ohren. Wie konnten diese Kindergartenkinder so glücklich sein, wenn Mattie und Christine diese Tage nicht mehr erleben durften? Durch den weiß gestrichenen Zaun sah er Schaukeln, zerwuschelte Haare und blasse, schmutzige Gesichter.

Er blieb stehen. Seine Lungen waren schwer wie Blei.

Hinter dem Zaun stand Mattie, ihr Arm ragte zwischen den hohen Latten hervor. Ihre erhobene Hand hatte sie zu einer kleinen Faust geballt.

Langsam öffneten sich ihre Finger, und aus ihrer Hand rann graue Asche.

Jacob schwankte, der Himmel begann sich zu drehen, und plötzlich kauerte er auf allen Vieren, sein Gesicht ins Gras gepresst. Aus seinen Eingeweiden strömte die Magensäure, grub sich eine raue Furche durch seine Kehle und stach in seine Nasenhöhle. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er hustete und Galle und unverdauten Schnaps spuckte. Er wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und blickte zurück zum Zaun.

Mattie war verschwunden. Ein dunkelroter Ball flog über den Spielplatzzaun. Einen Augenblick lang blieb er auf dem Scheitelpunkt seiner Flugbahn stehen, dann fiel er zu Boden, als ob die Schwerkraft Groll gegen ihn hegte. Das Kichern hielt an, eine Erzieherin rief etwas, ein Kind begann zu brüllen. Jemand beobachtete Jacob aus einem Fenster, und er zwang sich aufzustehen und auf das Beratungszentrum zuzulaufen.

Sie dachten jetzt bestimmt alle, dass er ein Säufer ist, der vom Gericht zu einem Beratungstermin verdonnert worden war. Die Verkleidung war einfach zu perfekt. Er schluckte, und die Magensäure brannte sich ihren Weg dorthin zurück, wo sie hergekommen war. Ein Schluck täte jetzt gut, aber er war ausgetrocknet und wusste, dass er den Schnaps nicht drinbehalten würde. Jacob taumelte durch die Flügeltür.

Eine Frau mit eingefallenem Gesicht öffnete ein Glasfenster am Empfangstresen und schnupperte wie ein Nagetier. »Kann ich Ihnen helfen?«

Helfen. Guter Witz. »Ich habe einen Termin.«

»Bei wem bitte?« Sie blätterte in einem Buch. »Oder wollen Sie zum Treffen der Anonymen Alkoholiker? Das ist in Zimmer 117, links hinten am Ende des Ganges.«

»Ich bin nicht in Form, um mit dem Trinken aufzuhören«, sagte er. »Ich habe einen Termin bei Dr. Rheinsfeldt.«

»Oh.« Die Angestellte warf einen Blick in ihr Buch. »Tut mir leid, Mr. Wells. Ich habe Sie nicht erkannt.«

Jacob war sich sicher, dass er diese Frau noch nie gesehen hatte. Aber sein Foto war immer mal in der Zeitung, und auch in den Zeitschriften der Handwerkskammer und des Kiwanis-Clubs war er mindestens zweimal im Jahr zu sehen. Seine Immobilienprojekte wurden oft irgendwelchen Ausschüssen vorgelegt. Manchmal gab es Einwände aus der Nachbarschaft, wenn die Bulldozer von M&W die morgendliche Ruhe und die gemütliche Atmosphäre störten. Und dann war natürlich auch der Brand in allen Zeitungen auf der Titelseite gewesen.

Er leckte seine aufgerissenen Lippen. »Ist meine Frau schon da?«

»Nein, aber wenn Sie sich kurz setzen, sage ich Dr. Rheinsfeldt Bescheid, dass Sie hier sind.«

»Das mach ich gleich selbst.« Jacob stieß die Tür auf, die zu den Praxisräumen führte. Er spürte den stechenden Blick der Empfangsdame auf seinem Rücken. Er wollte unbedingt früher zu diesem Termin erscheinen und sich mit dem Arzt vorher ein paar Minuten unterhalten, so dass Renee, wenn sie zur Tür herein kam, schon in einer Verteidigungsposition war. Aus seiner bisherigen Erfahrung wusste Jacob, dass sich Psychologen automatisch zu demjenigen hingezogen fühlten, der in ihren Augen am meisten »Hilfe« benötigte.

Jacob las die Namen an den Türen, als er den Gang entlang lief. Hinter diesen Türen saß ein Kader kluger und besorgter Seelen, mit Lederstühlen und Computern und Regalen voller Bücher. Ihre Köpfe waren voller Fragen, und sie blendeten sich selbst mit der Vorstellung, dass sie einem edlen Zweck dienten. Sie nährten sich von Wut und Schmerz, ihr Elixier war das Mitleid, getarnt als Mitgefühl. Was sie einte, war die rohe Gier der Vampire, und auch ihre Moral stand dem in nichts nach.

Vielleicht trugen die Patienten eine Mitschuld an dieser gegenseitigen Abhängigkeit. Sie setzten sich hin, heulten sich aus und erzählten von ihren persönlichen Problemen, die, wenn sie in einer Comicserie im Fernsehen laufen würden, jede Menge Lachsalven aus der Konserve verdient hätten. Das Gute daran war, dass sie ihre Seele nur eine Stunde lang öffnen mussten. Dann konnten sie zurück in die Sonne taumeln und sich in dem Glauben wiegen, dass sie sich von einer lästigen Haut befreit hatten. Nun konnten sie sich vorgaukeln, der Vollkommenheit und Gesundheit ihrer Seele wieder ein Stück näher gekommen zu sein. Doch Jacob wusste, dass das Ganze immer weniger war als die Summe seiner Teile.

Denn dort, wo er war, war auch Joshua.

Er nahm einen Schluck aus einem Wasserspender, der im Gang stand. Dann verschwand er kurz auf der Toilette und trank so viel Whiskey, wie sein Magen vertragen konnte. Er spülte seinen Mund aus und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Aus dem Spiegel starrte ihn ein fahles, eingefallenes Antlitz an.

Mit seinen blutunterlaufenen Augen und geschwollenen Lidern sah er aus, als ob er viel geweint hätte. Wollte man aus einer gemeinsamen Beratungssitzung als Gewinner hervorgehen, dann erzielten vorgetäuschte Tränen immer mehr Eindruck als grundehrliche Einblicke in die Tiefen seiner Seele. Er musste es wissen. Schließlich war er als Kind aus allen psychologischen Beratungen als Sieger hervorgegangen.

Dr. Rheinsfeldts Büro lag im linken Flügel. Die Tür stand offen. Rheinsfeldt war eine Frau, schrumpelig wie ein Troll, mit flirrenden, wilden Haaren wie Einstein. Sie tat, als ob sie ihn nicht sähe. Vielleicht wollte sie ihm die Chance geben, sich den Raum erst einmal genau anzusehen. Soll die Ratte den Käse wittern, bevor du sie durchs Labyrinth jagst, dachte Jacob.

Auf dem Couchtisch in der Mitte des Zimmers lagen Zeitschriften, scheinbar wahllos verstreut. Alles kluge Titel wie Science News, Consumer Reports, Smithsonian. Darauf stand ein blitzsauberer Aschenbecher aus Glas. In einem Schlitz ruhte eine jungfräuliche Zigarette. Ein einsames Regalbrett an der Wand bog sich unter der Last dicker Bücher. Die verstaubten Wälzer sahen aus, als ob sie seit Carl Gustav Jungs Zeiten unangetastet waren.

Rheinsfeldt schloss das Magazin, in dem sie gelesen hatte und zog ihre Gummibeine unter ihrem Oberkörper hervor. Sie langte nach einer Zigarette, steckte sie in den Mund und sprach um den Glimmstängel herum: »Sie müssen Jacob Wells sein.«

Jacob schaute in den Gang hinter sich. »Ach, Sie reden mit mir.«

»Ein Sinn fürs Absurde. Gefällt mir. Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.«

Im Zimmer standen zwei Stühle und eine kleine Couch im Dreieck. Das war der erste und offensichtlichste Test. Je nachdem, wo er sich hinsetzte, würde Rheinsfeldt ihn in eine bestimmte Schublade stecken. Nahm er den Stuhl, der direkt neben ihr stand, signalisierte er Dringlichkeit und Verzweiflung, die Suche nach einem Verbündeten. Setzte er sich auf die Couch, würde von Renee erwartet, dass sie sich als Zeichen partnerschaftlicher Unterstützung neben ihn setzte. Er entschied sich für die dritte Möglichkeit: Er setzte sich in die Mitte des Sofas, so dass Renee weder links noch rechts neben ihm Platz nehmen konnte. Als er sich setzte, glänzten Rheinsfeldts dunkle Augen voller Genugtuung, als ob sie genau das erwartet hätte.

»Die meisten Paare erscheinen gemeinsam zur Eheberatung«, sagte Rheinsfeldt. Sie nahm die unangezündete Zigarette aus dem Mund und legte sie in ihre kleine Handtasche.

»Renee besteht auf Pünktlichkeit. Ich komme gern zu früh.«

»Aha. Alle Beziehungen beruhen auf Konflikten. Warum sollte eine Ehe anders sein?«

»Waren Sie je verheiratet?«

»Was? Glauben Sie, ich bin verrückt?«

»Warum sollten wir Ihnen dann überhaupt zuhören?«

»Weil ich Ihnen überhaupt nichts sagen kann. Ich kann Ihnen nur helfen, sich selbst zuzuhören.«

Jacob schaute auf die Wand. Rheinsfeldts durchdringender Blick kam ihm vor wie hundert Nadeln, die ihn an einer Korkpinnwand festnageln wollen. Er guckte aus dem Fenster, doch durch die kleine Öffnung schien nur ein langweiliges blaues Quadrat. Wände und Decke des Raumes erdrückten ihn wie eine Müllpresse, und er schloss die Augen.

Renees Ankunft wurde von ihrer Haarspülung angekündigt. Der minzige Duft hatte früher sofort erotische Gefühle in Jacob ausgelöst. Jetzt verband er damit den Geruch des Versagens, genauso widerlich wie geräuchertes Holz. Er zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, in vollem Bewusstsein, dass ihn ihre grünen Augen an Mattie erinnern würden.

Voller Schrecken wurde ihm klar, dass er sich an den Rest von Matties Gesicht kaum noch erinnern konnte.