14. KAPITEL
Als Jacob aufwachte, war sein Mund trocken, sein Herz klopfte bis in die Ohren, seine Handgelenke taten ihm weh. Ihm kam es vor, als ob es nach Rauch riecht, und er erinnerte sich, dass er geträumt hatte, das Haus brennt ab. Sein Rücken war steif. Er drehte sich um und blickte ins Zimmer. Joshuas Bett war leer.
Auf dem grauen Fensterbrett sonnte sich der neue Morgen. Er setzte sich auf und bewegte Schultern und Nacken, um die steifen Muskeln zu lockern. Der Rauch, den er gerochen hatte, kam von einer Zigarette. Joshua stand lächelnd in der Tür und kratzte sich unter den fleckigen Achseln seines T-Shirts.
»Morgen, Bruder. Hast du gut geschlafen?«
»So schlecht wie noch nie.«
»Weil du nicht zur Ruhe kommst. Die Seelenklempner haben dich versaut.«
»Wie lange muss ich hier bleiben?«
Joshua schnipste die Asche von seiner Zigarette auf den Teppich. »Du tust ja gerade so, als ob ich dich gegen deinen Willen hier festhalte.« Er lachte, es klang wie das Bellen eines durstigen Hundes. »Ich bin ja nicht dein Gefängniswärter. Komisch, oder?«
»Dann kann ich also jetzt gehen?«
»Ist ziemlich weit bis in die Stadt.«
»Ich ruf mir ein Taxi.«
»Tut mir leid. Das Telefon kann ich dir nicht geben. Sonst sagst du vielleicht noch was, was wir beide bereuen werden.«
»Na gut, dann lauf ich eben.«
»Dann willst du also nicht auf deine Süße warten, dein Honigsträußchen von einer Ehefrau?«
»Halt sie da raus.«
»Das war nicht abgesprochen.«
Jacob schielte zum Kleiderschrank. Die Tür war zu. Er fragte sich, was darin wohl versteckt war. »Du hast das Haus. Und das, was ich dir schon gezahlt hab. Ist das immer noch nicht genug?«
»Was nützt mir dieser alte Kasten, wenn ich ihn doch nicht verkaufen kann? Nur eine Schlangenhöhle voller Erinnerungen, die herauskriechen und dich beißen. Du schuldest mir noch viel mehr, Jake. Und zwar schon lange. Jetzt ist Zahltag.«
»Was immer du willst. Wenn du uns nur in Ruhe lässt.«
»›Uns‹? Ich dachte, deine Frau wäre eine verlogene Schlampe, die den Tod verdient hat?«
Jacob rieb sich die Augen mit den Fäusten. »Nein. Das hab ich nicht gesagt. Das hast du gesagt, oder?«
»Jake, wie oft muss ich dir das noch erzählen? Ich will nur dein Bestes. Ich tu nur, was du auch tun würdest, wenn du die Eier in der Hose hättest.«
Jacob beugte sich nach vorn, streckte sich und guckte unters Bett. Nix. »Du hast dich doch noch nie um mich gekümmert.«
»Auf jeden Fall besser, als der Alte es jemals getan hat. So viel ist sicher.«
»Weil er dich auch am liebsten hatte.«
»Am liebsten? Liebe? Von dem Alten? Das passt einfach nicht zusammen.«
»Er hat das alles nur für uns getan, Josh. Er wollte, dass wir beide sein Werk weiterführen.«
»Nur dass ich das nie wollte. Weder das verdammte Vermächtnis noch das Ansehen in der Gesellschaft noch ein Leben voller unermüdlichem Dasein für Andere. Ich wollte nur das Geld. Aber der Alte hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und mir nur das Haus überschrieben. Er hat die ganze Zeit auf dem Weg zum Grab laut gelacht, und du saßt da und hast ihm die Bettpfanne gehalten. Und dazu ein neues Testament.«
Jacobs Schläfen pochten, seine Zunge raspelte am Gaumen. Die Folge von zu viel Whiskey. Er blickte sich im Zimmer um. Es gab nur einen einzigen Moment, in dem er sich gewünscht hatte, das Haus zu besitzen: als der Anwalt das Testament eröffnete und bekannt gab, dass das Haus von nun an Joshua gehörte. Vielleicht hätte er es ihm damals gleich abkaufen sollen. Der Anwalt hätte bestimmt einen Weg gefunden, die urkundlich festgelegte Verpflichtung zu umgehen, die einen Verkauf unmöglich machen sollte.
Das Zimmer roch kleiner und weniger streng als früher. An einer Leine über der Garderobe waren mit Klammern zwei Baseballhandschuhe aufgehängt. Einer für Rechtshänder, einer für Linkshänder. Jacob wusste, dass es ein äußerst seltenes Phänomen war, wenn beide Zwillinge quer im Mutterleib lagen, so wie es bei ihnen der Fall gewesen war. Der Embryo teilt sich und die beiden Hälften entwickeln sich spiegelbildlich. Sie sehen einander an und bieten sich die Stirn. Jacob ballte seine rechte Faust. Joshua, der Linkshänder, war immer der bessere Baseballspieler gewesen, besonders als Werfer.
Das war eines der wenigen Dinge, anhand derer die Lehrer sie auseinanderhalten konnten: die Hand, mit der sie schrieben. Manchmal zwang Joshua Jacob, sich als er auszugeben, wenn er mal wieder die Schule schwänzen oder heimlich unter den Zuschauerbänken des Stadions kiffen wollte. Jacob hatte so lange geübt, mit links zu schreiben, bis man es einigermaßen lesen konnte. Er wollte Joshua nicht enttäuschen, und natürlich drohte ihm Joshua immer mit der ultimativen Waffe.
Jacob hatte sich oft vorgestellt, wie die beiden Auge um Auge im Mutterleib lagen und um die Nährstoffe ihrer Mutter kämpften, ihr die Kraft aussaugten. Und wie sie sich dann im Augenblick der Befreiung auf die helle Öffnung zu kämpften, in einem verzweifelten Rennen, bei dem der Sieger alles gewinnt. Als ob sie wüssten, worum es ging. Um Leben und Tod.
»Renee weiß nichts von dir«, sagte Jacob.
»Sie weiß genug.« Joshua trat ans Fenster.
Die Sonne war aufgegangen, hüllte sich jedoch in zerschlissene Wolken. Ein frischer Wind pfiff durch die Fensterläden, eine lose Leiste schlug von außen gegen die Wand. Klack, klack, klack.
Genau so hatte es geklungen, wenn Mutter nach ihrem Schlaganfall mit dem Stock über den Flur lief. Jacob sah sie vor sich, eingehüllt in ein pfirsichfarbenes Nachthemd aus Flanell, mit ausgetretenen Pantoffeln, an ihren Knöcheln dicke blaue Adern. Ihr ganzer Körper zitterte, wenn sie einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzte, versuchte das Gleichgewicht zu halten, den Stock nach vorn schwang und die Spitze auf dem Boden aufsetzte. Dann balancierte sie ihr Gewicht auf dem Griff aus und schob den zweiten Fuß vor den ersten. Und das immer und immer wieder, ganz langsam, bis sie bei der Treppe war. Dann wurde das Klackern des Stockes unterbrochen vom Klappern ihrer knochigen Hand am Geländer.
»Wir hatten damals echt Spaß in der alten Scheune, weißt du noch?«, fragte Joshua, ohne sich umzudrehen.
»Den Hühnern hat es weniger Spaß gemacht.«
»Na. Also weißt du es doch noch, hm?«
Jacob wurde schwindlig. Am liebsten hätte er sich im Bett zurückgelehnt, aber er hatte Angst, dass Joshua das als Zeichen von Schwäche werten würde. Sicher war auch sein Kater ein Grund für seine Benommenheit, aber Joshuas Tierquälereien schockten ihn noch immer. Was Joshua mit einer glühenden Zigarette angestellt hatte, dort, wo bei den Hennen die Eier rauskamen …
Er schluckte einen dicken Kloß alkoholschwangerer Übelkeit hinunter. »Vater hat nie herausgefunden, warum die Hennen keine Eier mehr legten.«
»Der edle Bauer. Was für ein Witz. Er wollte nur deshalb eine lange Auffahrt, damit er schon von weitem sehen konnte, wenn seine Feinde im Anmarsch waren. Der Verfolgungswahn der Wells sitzt tief, stimmt’s, Bruder?«
»Du hättest mir auch einfach einen Brief schicken können. Dann hätte ich dir das Geld gegeben und du hättest nicht zurückkommen müssen.«
»So macht es aber viel mehr Spaß.« Joshua ging zum Schrank, lachte und öffnete die Tür. Jacob schloss die Augen. Die Türen quietschten noch genauso wie vor zwanzig Jahren. Wie ein trockener Schrei, vermischt mit einem perversen Kichern.
»Wünsch mir, Jake«, sagte Joshua, und in diesem Moment war es wieder, als wären sie beide elf Jahre alt. Zuerst war »Wünsch mir« nur ein Spiel gewesen, bei dem der eine erraten musste, welches Spielzeug der andere in der Hand hielt, in seinem Bett auf der anderen Seite des dunklen Zimmers. Später dann entwickelte sich »Wünsch mir« zu ausschweifenden Fantasien, bei denen sie so taten, als wären sie jemand anderes. Stars aus dem Kinderfernsehen, berühmte Fußballspieler, Batman oder Comicfiguren – sie spielten die Helden ihrer Kindheit. Dann fing Joshua an, Monsterfilme nachzuahmen. Dracula und die Mumie. Er verstellte seine Stimme, bis sie so gruselig klang wie bei den finstersten Bösewichten aus Hollywood. Dabei blieb Joshua nicht einfach in seinem Bett. Er kroch über den dunklen Fußboden und versteckte sich unter Jacobs Bett. »Wünsch mir ein Monster mit spitzen Zähnen und roten Augen«, flüsterte Joshua in der Dunkelheit.
Jacob konnte kaum noch atmen, seine Stimmbänder waren gespannt wie die Saiten eines Banjos. »Ich hab keine Angst vor dir.«
»Vor mir hast du keine Angst. Aber vor dem Sockenmonster!« Und dann kam die Socke, in der Joshuas Hand steckte, über die Matratzenkante geklettert und kratzte leise an Jacobs Bettdecke. Jacob konnte sich hundertmal sagen, dass es nur eine Hand war. Joshuas Stimme war so böse und grausam, dass das Sockenmonster zu einer echten, schrecklichen Bedrohung wurde. Dann kroch Jacob ans Kopfende seines Bettes, wo er zusammengekauert verharrte, bis das Sockenmonster durch eine kleine Ritze geschossen kam, nach ihm schnappte und sich in sein Fleisch krallte.
Und die ganze Zeit, während er zwickte und stupste, lachte Joshua und sagte gruselige Sachen mit seiner schauerlich verstellten Stimme. Er hörte erst auf, wenn ihm langweilig wurde oder wenn er müde war. Dann sagte er immer: »Gibst du jetzt auf, du Hosenscheißer?«
Jacob hatte sich dann meistens schon zu einer zitternden, winselnden Kugel zusammengerollt.
»Zieh die Rotze hoch und sag mir, dass du aufgibst!«
»Ich geb auf«, sagte er dann und konnte endlich seine zusammengebissenen Zähne wieder öffnen.
Und jeden Morgen fand Jacob eine Socke unter seinem Bett, gesprenkelt mit kleinen roten Blutflecken. Es war sein Blut. So als ob das Sockenmonster wirklich die Zähne in sein Fleisch geschlagen, seine Haare an den Wurzeln herausgerissen und an seinen Fingern und Zehen herumgeknabbert hätte.
Irgendwann kroch Joshua dann nicht mehr unter das Bett, sondern versteckte sich im Kleiderschrank. Da wurde es erst richtig schlimm. Und plötzlich fühlte sich Jacob wieder, als wäre er elf.
»Wünsch mir, Jake«, sagte Joshua noch einmal, und als Jacob die Augen öffnete, war er wieder in der Gegenwart. In dem Zimmer, in dem er eigentlich nie wieder sein wollte. Außer in gelegentlichen Alpträumen.
»Ich will nicht spielen.«
»Aber ich. Sonst erzähle ich alles.«
»Ich bin nicht mehr zwölf.«
»Mord verjährt nicht.«
»Es war kein Mord.«
»Na ja, vor Gericht würden sie es vielleicht Totschlag nennen oder vorsätzliche Gefährdung, oder sie würden irgendeine andere Ausrede finden, um dich mit einem Klaps auf den Popo davonkommen zu lassen. Weil du ja so ein aufrechter Mitbürger bist und so. Aber wir beide wissen, dass es Mord war, egal, wie du es nennst.«
Jacob fühlte sich, als ob seine Rippen zersplitterten und sich tief in seine Lungen und sein Herz gruben. »Ich war noch ein Kind.«
»Der Stock war ihr Leben, Jakie Boy. Ohne ihn hat sie keinen Schritt gemacht. Selbst wenn sie im Sessel saß und Zeitung las oder ihren Nippes abstaubte, hatte sie den Stock immer dabei. Wahrscheinlich hätte sie selbst einen tollwütigen Puma damit in die Flucht schlagen können. Auf jeden Fall wusste sie ganz genau, wie sie uns damit vermöbeln konnte.«
»Sie hätte mich nicht schlagen dürfen. Nicht auf meinen Ellbogen, genau auf den Musikknochen!«
»Du warst schon immer nachtragend. Sieh doch mal, was du mir angetan hast. Lässt mich wie der letzte Abschaum leben, während du dir hier den Arsch vergolden lässt. Und Mutter war dir garantiert auch nur im Weg.«
»Sie hätte mich nicht damit hauen dürfen.«
»Nach dem Schlaganfall war sie zwar körperlich eingeschränkt, aber im Kopf war sie noch total fit. Sie wusste nur besser, worauf es wirklich ankommt. Und sie hasste uns danach noch mehr. Weißt du noch, warum sie dich geschlagen hat?«
»Weil ich nahe genug an ihr dran stand.«
»Nein. Das war bei den anderen Vorfällen gewesen. Diesmal war es, weil du ihren kleinen Keramikhahn kaputtgemacht hattest.«
»Ich hab ihren Hahn nicht kaputtgemacht.«
Joshua lachte, zündete sich wieder eine Zigarette an und sog den brennenden Tabak ein, als wäre es ein Hauch des ewigen Lebens. »Hey, ich hab versucht, es ihr zu erklären, aber sie wollte mir nicht glauben. Also musst du es wohl gewesen sein – oder jemand, der dir verdammt ähnlich sah.«
»Du Schwein.«
»Es hat durchs ganze Haus geklirrt, als der Adlerkopf ihres Stocks gegen deinen Knochen geknallt ist. Hast es sicher verdient gehabt. Trotzdem kein Grund, ihren Stock so zu behandeln.«
»Du bist in ihr Zimmer geschlichen und hast ihn heimlich genommen.«
»Hab dir nur einen Gefallen getan. Bist schließlich mein Bruder.«
Jacob hatte damals ein kleines Taschenmesser mit zwei Klingen. Sein Vater hatte es ihm zu Weihnachten geschenkt. Als Joshua ihm in jener Nacht den Stock brachte, versteckte ihn Jacob unter seiner Bettdecke, bis er Joshua schnarchen hörte. Jacob wollte irgendetwas mit dem Stock anstellen. Vielleicht seine Initialen reinschnitzen oder das Holz ein bisschen aufrauen, damit sich seine Mutter einen Splitter einzog. Doch dann fand er am unteren Ende eine weiche Stelle im Holz. Er bohrte das Messer dort hinein und stocherte so lange darin herum, bis der Stock ein bisschen nachgab.
Jacob hatte darauf spekuliert, dass der Stock vielleicht zerbrechen würde, wenn Mutter mal wieder damit nach ihm schlug. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass er nachgeben würde, als sie gerade die Treppe hinuntergehen wollte!
Es war ein Unfall, hieß es. Warren Wells hatte sie gefunden, wie sie total verdreht unten an der Treppe lag. Ihr Bein war zersplittert und spießte durch einen zerbrochenen Geländerpfosten. Vater schrie nicht, jammerte nicht, er vergoss nicht mal eine Träne. Er rief auch nicht erst den Notarzt. Mit der stoischen Ruhe eines Bestatters rief er die Polizei und dann den Krankenwagen, sagte aber, sie brauchen sich nicht zu beeilen. Das zerbrochene Geländer schien ihn mehr aufzuregen als der Tod seiner Frau.
Schließlich war sie für zwei Millionen versichert.
»Ich wollte nicht, dass ihr was passiert«, sagte Jacob.
»Ha ha ha! Ist dir schon mal aufgefallen, dass allen, die dir nahestehen, früher oder später irgendwas passiert? Und es war nie deine Absicht.«
»Ja, allen außer dir! Dir könnte ich niemals genug wehtun, und doch bist du der einzige, den ich wirklich gern umbringen würde!«
Jacob schaute aus dem Fenster zum Scheunendach. Die Morgensonne tauchte die Hügel hinterm Haus in goldenes Licht. Sie trugen die trotzigen Kappen der Morgendämmerung. Das Licht spiegelte sich auf dem Blechdach der Scheune, und die Tautropfen, die auf den umliegenden Wiesen funkelten, strahlten wie winzige Diamanten. Als er klein war, war Jacob oft vor allen anderen wach gewesen, selbst vor seiner schlaflosen Mutter. Dann ging er gerne raus, um die frische Luft des jungen Tages zu atmen.
»Wann warst du das letzte Mal an ihrem Grab?«, fragte Joshua.
Jacob sah, wie Joshua auf die Familiengruft oben auf dem Hügel schaute. Ein Zaun trennte die Grabsteine von den Kühen. Ein Friedhof verlangte ein ewiges Nutzungsrecht. Das Land konnte nie verpachtet werden, außer wenn man die Leichen wieder ausgrub und an einen anderen Ort der Ruhe versetzte. Als Jacob von dieser gesetzlichen Feinheit erfahren hatte, war er erst recht zum Befürworter der Einäscherung geworden. In Amerika gab es kein Gesetz, das regelte, wo man die Asche aufbewahrte oder verstreute. Außerdem verdarb ein solcher Abschied nicht die Immobilienpreise.
»Warum sollte ich Mutters Grab besuchen?«
»Sie hatte ich nicht gemeint.«
»Mattie hat kein Grab.«
»Die andere. Christine.«
»Das Begräbnis war für Renee. Sie war damals noch katholisch.«
»Du glaubst also, dass die Toten besser ruhen, wenn sie in winzigen Stückchen in der Luft herumfliegen?«
»Außer denen, die zur Hölle fahren. So wie du.«
»Mattie hätte auch hier begraben werden können«, sagte Joshua und nickte mit dem Kopf in Richtung des Familienfriedhofs, der seit drei Generationen die toten Wells aufnahm. »Du weißt doch, Familienmitglieder sind zu Hause immer willkommen.«
Vor der Zimmertür knallte etwas. Der Klang erinnerte auf gruselige Weise an das Geräusch, das Mutter bei ihrem Todessturz gemacht hatte. Jacob versuchte aufzustehen, gab aber schnell auf.
»Wir haben Besuch«, sagte Joshua und entblößte dabei seine tabakbraunen Zähne.
»Renee?«
»Nö. Die kommt erst am Donnerstag.«
»Nicht …«
»Hey. Ihr beide habt euch bestimmt viel zu erzählen. Ist doch gar nicht so lange her, oder?« Joshua rief in den Gang: »Schnucki, hier sind wir.«
Jacob legte sich wieder aufs Bett, sein Kopf drehte sich, sein Pulsschlag spritzte durch die Adern an seinen Schläfen wie flüssiger Stacheldraht. Er überlegte, wie schnell man durch Alkohol in ein lebensbedrohliches Delirium verfallen konnte. Schritte hallten durch den Gang und machten an der Zimmertür Halt. Er schloss die Augen gegen das Dämmerlicht.
»Hallo Fremder«, sagte sie.
Er musste nicht aufschauen, um sie vor sich zu sehen. Ihr Gesicht war dunkel, braun wie ein Football, ihre Augen so schwarz wie die Krähen um Mitternacht. Sie war ein ganzes Stück kleiner als Joshua, doch sie hatte eine stolze, aufrechte Haltung. Sie trug immer Männerhemden, unter denen sich ihre kleinen, festen Brüste abzeichneten.
Ihre Hände waren bestimmt schon ein bisschen runzelig geworden, die Fingernägel abgebrochen. Ihr dickes, dunkles Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Bestimmt hatte der Alkohol seine Spuren um ihre Augen hinterlassen, und er fragte sich, ob sie ihre Körperhygiene auf das Niveau ihrer Umgebung heruntergefahren hatte. Sie hatte sich ihre Bettstatt bereitet, die Decken zerwühlt und die Laken beschmutzt. Jetzt konnte sie bis zum Verrotten darin liegen bleiben, Jacob war es scheißegal.
»Er hat schlechte Laune«, sagte Joshua.
»Armer Chiquito«, sagte sie. »Er war schon immer ein bisschen sensibel.«
Ihre Stimme hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Sie klang immer noch heiser, wie rohe Seide, ein Klang, der selbst am Telefon nicht verwässerte. Ihrem abgehackten Akzent merkte man kaum an, dass sie im östlichen Tennessee lebte. Jetzt konnte er sie sogar riechen, sie roch nach Tieren und Wald, ein Hauch von Schweiß, vermischt mit einem Parfüm mit Patschuli-und Zimtnote. Darunter, wie aus weiter Ferne, wehte der Duft ihrer Vagina, so als ob sie es mit Joshua getrieben hatte, während er schlief.
Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. So etwas würde sie nie tun. Sie würde ihm nicht wehtun oder ihn gar verletzen. Oder ihn daran erinnern, dass er niemals so sein würde wie Joshua, egal, wie sehr er sich anstrengte.
»Komm, schau mich an«, sagte sie, und da war es wieder, das alte Draufgängertum, ihre grausame, quälende Gleichgültigkeit. Am liebsten wäre er zu ihr gerannt, hätte sie in die Arme genommen, seine Hände um ihre Kehle gedrückt, sie geküsst, geschlagen und in die Lippen gebissen.
Doch am Ende konnte er ihr nur gehorchen. So wie immer.
»Carlita«, sagte er.
Ihre Augen waren hart, wie zwei glanzlose Steine. Das war alles, was er sich bei einem ersten Blick wahrzunehmen erlaubte. Sie war Schnaps für einen Trinker, Heroin für einen Junkie, Rattengift für eine verhungernde Ratte.
»Wirst du etwa rot?«, hauchte sie.
»Jake stand ein bisschen zu nah am Feuer, als er sein Würstchen briet«, grinste Joshua.
»Ach das meinst du. Wusste gar nicht, dass du noch eins hast«, sagte sie zu Jacob gewandt.
Das Leben hatte seine Spuren hinterlassen. Zeit und Sorgen hatten kleine Furchen in ihr Gesicht gepflügt. Doch ihre Lippen waren noch immer so fest wie Datteln im Oktober, auch wenn ihr Mundwinkel gerade verächtlich zuckte. Wahrscheinlich war sie mit dieser Eigenheit schon geboren worden, damals, in einer dreckigen Einwandererhütte in Piney Flats, wo die Schädlingsbekämpfungsmittel der Weihnachtsbaumplantagen in die gemächlich dahinfließenden Bäche tropften. Das Land gehörte natürlich keinem Geringeren als Warren Wells.
Er konnte seinen Blick nicht von ihren Augen abwenden. Sie waren tief und dunkel, wie die Grotte, in die er immer abgetaucht war, als er im Krankenhaus lag. Sie bargen das Versprechen des kalten Erstickens, eines langsamen, erbarmungslosen Ertrinkens. Ihre Haut hatte sich verändert, der karamellbraune Glanz war leicht verblasst, doch ihren Augen hatten die Jahre seit ihrer letzten Begegnung nichts anhaben können. Augen wie uralte Talismane der Mayas.
»Wie geht’s deiner Frau und den Kindern?«, fragte sie.
Jacob schaute Joshua an. Der grinste, als ob er gerade eine schleimige Eidechse verschluckt hätte. »Du hast es ihr aber schon erzählt, oder?«, brachte Jacob gerade so heraus.
Joshua zuckte mit den Schultern und blies seinen Zigarettenqualm gegen die Wand. »Familiengeheimnis.«
Jacobs Schädel hämmerte. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und stach wie tausend Nadeln, die seine Haut an sein Fleisch nähten. »Ich brauch einen Drink.«
»Du brauchst nicht, du willst«, entgegnete Joshua.
Carlita nahm einen Schluck aus ihrer Bierflasche. Am Glas perlten glänzende Wassertropfen, was Jacobs Durst nur noch weiter anheizte. Wieder verzog sie ihren Mund und hielt sich die Flasche Corona Light an die Stirn. Dabei bebten ihre zügellosen Brüste unter dem karierten Hemd. Ihre Jeans spannten sich eng um die Kurven ihrer Schenkel. Sie hatte keine Kinder. Sie war immer zu schnell unterwegs gewesen, ließ sich nicht festnageln. Alle Spermien, die gegen den widerborstigen Strom ihres Schoßes anschwammen, wurden sofort vernichtet.
Jacob schloss seine Augen und presste sein Gesicht ins Kissen. Sein Rücken schmerzte.
»Tut mir leid mit deinen Kindern«, sagte sie. »Das ist mal mucho.«
»Joshua«, sagte Jacob, seine Augen fest geschlossen. Er winselte fast. »Sag ihr, sie soll aufhören.«
Carlita kam näher. Ihr Atem schwebte über seinem Gesicht. Sie flüsterte: »Ich hab dir gesagt, dass es nie funktionieren wird. Du kannst dir selbst nicht entkommen.«
»Joshua«, sagte Jacob noch einmal, seine Stimme klang wie im Stimmbruch. »Ich geb dir alles, was du willst. Aber lass mich jetzt gehen.«
Carlitas Lippen berührten seine Wange. Er kämpfte gegen die Übelkeit, die wie eine schleimige Schlange seine Kehle hinaufkroch. Doch trotz dieses Ekels fühlte er, wie ihm ein warmer Blutstrom in die Lenden schoss.
»Du hast sie nie gebraucht, Cacatúa «, flüsterte sie. »Nur mich. Nur mich.«
Jacob schrie, vielleicht aber war auch nur etwas in ihm aufgerissen und der Klang, der seine Ohren erfüllte, war der des abreißenden Fleisches vom Knochen.
Als er seine Augen öffnete, konnte er nicht sagen, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren. Winzige Schweißtropfen klebten an ihm wie kleine Blutegel. Carlita und Joshua saßen auf dem Bett und hielten Händchen. Sie küssten sich auf die Lippen. Es war kein Zungenkuss, eher so, als wären sie Teenager mit Zahnspangen, die gerade etwas prickelnd Neues probierten.
»Du kannst alles haben«, sagte Jacob. »Aber es soll aufhören.«
»Alles?«, fragte Joshua.
»Ja.«
»Na, das wollten wir doch hören, was, Baby?«, sagte Joshua zu Carlita.
»Er ist stinkreich, das Gringo-Schwein«, sagte Carlita. »Und gerade stinkend dreckig.«
»Recht hat sie, Bruder, du stinkst wirklich fast zum Himmel. Wenn Mama jetzt hier wäre, dann würde sie dir den Stock über die Fingerknöchel ziehen und dich in die Wanne stecken.«
»Renee bringt das Geld vorbei«, sagte Jacob.
»Ich weiß.«
»Kann ich jetzt gehen?«
»Klar, Großer. Du bist hier nur zu Besuch. Du kannst gehen, wann immer du willst.«
Jacob hob seine Hände und rieb die Handgelenke aneinander, wo sich der Strick in die Haut gefressen hatte. »Dann mach die Fesseln los.«