24. KAPITEL

»Was ist hier los, Jake?«, fragte Renee und streichelte Jacobs Schulter. Ihr Mann war blass, seine Augen rollten unstet umher, er kniete mit zerknitterten Sachen vor ihr. Warum hatte er sich selbst im Schrank eingesperrt?

»Es war Joshua«, sagte Jacob. »Er hat unser Haus niedergebrannt. Er hat Mattie umgebracht.«

Sie versuchte zu verstehen, was er sagte, aber es gelang ihr nicht. Matties Tod war ein Unfall. Das hatte sogar Davidson zugegeben. Wenn man eine Geschichte nur oft genug wiederholte, wurde sie wahr.

Sie blickte sich im Zimmer um, sah die identischen Betten, die Laken waren zerwühlt. Auf einem Bett waren rostbraune, kreisrunde Flecken.

Sie wollte ihn loslassen, doch er griff nach ihrer Hand und schaute ihr in die Augen. Es war eine bizarre Parodie auf den Moment, als er um ihre Hand angehalten hatte. »Er hat das Geld von der Versicherung genommen«, sagte Jacob. »Er denkt, dass Vater ihn um sein Erbe betrogen hat.«

»Jacob, wir sollten besser einen Arzt holen.«

»Wir müssen ihn finden. Sonst erzählt er alles.«

Die Blutspur führte aus dem Zimmer heraus und die Treppe hinunter. Jacob schien nicht verletzt zu sein. »Nein. Wir können mit deinem Handy die Polizei anrufen. Wenn dein Bruder verletzt ist, können wir Hilfe für ihn holen.«

Mein Gott, Jakie, was hast du nur mit ihm gemacht? Bist du so besessen von Carlita, dass du deinem eigenen Bruder etwas antust?

Sie brauchte Zeit, um das alles in ihrem Kopf zu sortieren. Wenn Jacob in Schwierigkeiten war, dann würden sie das zusammen durchstehen, wie immer. Sie zog Jacob hoch.

»Komm«, sagte sie. »Bist du verletzt?«

»Nein.« Er blickte an ihr vorbei durchs Fenster. Sie drehte sich um und sah, wie die Nachmittagssonne den Familienfriedhof und die Scheune in sanftes Licht tauchte. »Das Camp. Er ist zum Camp gegangen.«

»Hast du ihn verletzt?«

»Wir müssen die Polizei rufen.«

»Keine Polizei. Wir nehmen das selbst in die Hand, wie wir es immer getan haben.« Sie nahm seine Hand und führte ihn in den Flur. Sie lauschte nach Schritten. Wenn Joshua im Haus war, hätte er sie rufen hören müssen. Außer, wenn er bewusstlos war. Oder tot.

Ihre Hand gefror bei dem Gedanken, dass sie gerade einen Mörder festhielt.

Nein. Das war kein Mörder. Es war ihr Mann.

So war es! Denn das hier war die Wirklichkeit, und Jacob liebte sie. Sie hatten schwere Zeiten durchgemacht, aber die hatte jeder mal. Das gehörte zum Leben einfach dazu. Sobald sie von hier weg waren, würde alles wieder Sinn machen. Sie überlegte kurz, wie hoch Joshua das Haus der Wells wohl versichert hatte? Bestimmt brannte es gut, bei all dem Holz.

Als sie die Treppe hinunter stiegen, sagte Jacob: »Er hätte sie umgebracht.«

»Wen?«

»Unsere Mutter. So ist er.«

»Ihr Tod war ein Unfall, Jacob«, beruhigte sie ihn. Dann dachte sie daran, dass es genau hier passiert sein musste. Sie war auf der Treppe ausgerutscht und war hinuntergefallen. Ihre spröden Knochen waren gegen das Geländer geknallt. Genickbruch. Niemand war schuld.

»Ja«, sagte Jacob, und seine Augen wanderten die Stufen hinab, als ob ihre Leiche noch immer am Fuß der Treppe lag. »Genau das hat Joshua auch gesagt. Ein Unfall.«

Als sie unten waren, bat sie Jacob, im Auto auf sie zu warten.

»Was hast du vor?«

»Ich gehe Joshua suchen.«

»Ich hab dir doch gesagt, er ist zum Camp gegangen.«

»Weiß ich, Schatz. Aber du bist ziemlich durch den Wind.«

Es ist nur zu seinem Besten. Im Auto ist er in Sicherheit. Schließlich ist es meine Pflicht, ihn zu beschützen. Für die Familie.

Sie wartete, bis Jacob durch die Küche gegangen war und draußen in der Sonne stand. Als er um die Ecke war, schloss sie die Tür und schob den Riegel vor. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Die Bücher standen schief im Regal, manche von ihnen lagen offen und verkehrt herum auf dem Boden. Auf dem steinernen Kamin standen Figuren, viele von ihnen bloß noch Scherben aus Gips und Keramik. Neben einem Stuhl lag eine Bierflasche, umgeben von einer eingetrockneten gelben Lache. Im Kamin klebte feine schwarze Asche, als ob jemand Papier verbrannt hätte. Mittendrin lag Jacobs Handy, ein geschmolzenes Häufchen Plastik.

Sie schielte zwischen den Gardinen hindurch und sah Jacob in seinem Pickup sitzen.

Renee inspizierte das Esszimmer. Fast sah sie den Geist von Warren Wells am Tisch sitzen, wie er über seine Familie bestimmte, saubere Fingernägel forderte und die richtige Anordnung des Bestecks und perfekt temperiertes Essen. Sie teilte seinen Hang zur Perfektion. Vielleicht war es das, was Jacob an ihr fasziniert hatte, warum er sich in sie verliebt hatte. Denn das konnte ihm keine andere Frau bieten. Nicht einmal Carlita.

Den Hang zum Absoluten.

Sie hatte ihn herausgefordert, ein Wells zu sein. Und ein Wells war er geworden. Insofern war sie genauso ein Teil der Erfolgsgeschichte wie er. Bei anderen maß man den Erfolg in Hektar, am Einkommen, an der Anzahl der unterstützten Wohltätigkeitsorganisationen oder an Ehrenpreisen, die man erhalten hatte. Ihre Erfolge waren innerlich, immerwährend, spirituell. Sie hatte ihn vor sich selbst gerettet.

Doch der Preis war unvorstellbar hoch. Aber es half nichts, Opfer musste man bringen.

Und jetzt durfte sie nicht mehr verlieren. Nicht so kurz vor dem Ziel.

Ein Wells versagt nie.

Sie betrat einen Raum, der wohl einst Warren Wells’ Arbeitszimmer gewesen sein mochte. Es war dunkel hier drin. Schwere Vorhänge verdeckten das einzige schmale Fenster. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, darauf lag ein kleines Stück Papier.

Sie nahm es in die Hand, ging damit zum Fenster und las es im Licht des winzigen einfallenden Sonnenstrahls. »Ich schulde dir 8 Millionen Dollar für all die Qual und das Leid.« Die Acht war durchgestrichen, darunter stand mit Bleistift geschrieben: »2«.

Unterzeichnet war es mit »J.« Genau wie der Zettel, den sie Jacob im Krankenhaus gezeigt hatte. Der Zettel, den Davidson bei ihrem verbrannten Haus gefunden hatte. Die Buchstaben neigten sich nach links.

Acht Millionen. Das entsprach ungefähr Jacobs Erbe, wenn man seinen Anteil an M&W Ventures mit einrechnete.

»Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal getroffen haben. Zumindest nicht offiziell.«

Sie fuhr herum und zerknüllte das Stück Papier in ihrer Hand. Da stand er in der Tür. Sie sah nur seine Umrisse vor dem Licht, das durch das Wohnzimmerfenster fiel. Sie erkannte seine Stimme. Es war die Stimme aus dem Wäldchen hinter ihrem zerstörten Haus, aus dem Dickicht hinter dem Friedhof, die Stimme vom Telefon. Auch wenn er seine Stimme sonst immer verstellt hatte, erkannte sie doch ihre Klangfarbe. Fast genauso wie Jacobs, es war wirklich verblüffend. Nur der Dialekt war etwas flacher, gedehnter.

»Joshua?«

Er trat in den Raum. Es musste einfach Joshua sein. Er sah Jacob so unglaublich ähnlich, dass sie schon genau hinschauen musste, um die Unterschiede zu bemerken. Der auffälligste war die klaffende Wunde über seinem rechten Auge, sie blutete, musste dringend genäht werden. Sein Lachen war rauer, zynischer, seine Zähne waren gelb und stellenweise abgebrochen. Er hatte fettiges Haar, ungepflegt und nach hinten gekämmt. Das war also ihr Schwager. Der Mann, der dasselbe Blut in sich trug und aus demselben Samen stammte wie ihr Mann.

Ein Teil der Familie.

Joshua wischte sich über die Braue und putzte sich die Hand an der Hose ab. »Dein Mann hat einen gemeinen Zug in sich«, sagte er mit übertrieben gedehnten Worten. »Ich möchte echt gerne mal wissen, wo er das her hat.«

»Ich weiß nicht, was du hier für ein Spiel spielst, aber wir rufen jetzt die Polizei.«

»Das geht für mich völlig in Ordnung. Dann kann ich denen erzählen, was Jacob alles so angestellt hat.«

»Er hat überhaupt nichts gemacht.«

Joshua humpelte auf sie zu. »Er hat eine Menge auf dem Kerbholz.«

Jetzt, als das Licht auf sein Gesicht fiel, sah sie, dass seine Augen genauso moosbraun und dunkel waren wie Jacobs. Sein Kinn und seine Wangen waren ebenso gleichmäßig proportioniert, und auch vom Körperbau her war er genauso stark und kantig wie Jacob. Wäre nicht die Grausamkeit in seinen Augen gewesen, wäre er ebenso gut aussehend wie ihr Ehemann.

»Rühr mich nicht an, oder ich schreie nach Jacob!«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Vielleicht muss ich dich ja vor ihm beschützen!«

»Du bist verrückt. Jacob hat mir alles von dir erzählt.«

«Ha, alles! Hat er dir auch erzählt, wie es war, als wir Kinder waren? Wie er mir immer alles in die Schuhe geschoben hat? Wie er mir immer meine Spielsachen weggenommen hat? Wie er Vater gegen mich aufgebracht hat, bis ich aus der Familie ausgeschlossen wurde?«

Renee schaffte es, sich hinter den Schreibtisch zu retten, so dass dieser zwischen ihr und Joshua stand. Sein fieses Grinsen gefiel ihr ganz und gar nicht, dieses wahnsinnige Funkeln in seinen Pupillen. Und Jacob saß bestimmt noch immer im Pickup und wartete auf sie.

»Was soll das mit den acht Millionen Dollar?«, fragte sie.

»Gerechtigkeit muss sein«, erwiderte er. »Das ist das Geld, was Jake von mir gestohlen hat. Und jetzt muss er es mir zurückgeben.«

»Er hat überhaupt nichts gestohlen. Ich habe das Testament eures Vaters gesehen. Jake hat das Geld bekommen und du das Haus und das Grundstück.«

»Ich hätte das Geld bekommen sollen. Jacob hat den Spieß einfach umgedreht.«

»Wir können dir nicht noch mehr Geld geben.«

»So läuft das aber nicht. Noch zwei Millionen oder ich erzähle alles.«

»Du hast die Brände gelegt. Es soll jetzt Anklage wegen Mordes erhoben werden.«

Er ging einen Schritt auf sie zu, zuckte zusammen und stützte sich am Schreibtisch ab. Sein Atem roch nach schalem Bier und Rauch, seine Kleider stanken nach Schweiß. Er war wild, ungezähmt und ausweglos, jenseits von Recht und Gesetz.

Bumbumbum. Jemand hämmerte mit den Fäusten an die Hintertür. Von draußen erklang dumpf Jacobs Stimme, aber man verstand nicht, was er rief.

»Zwei Millionen«, sagte Joshua. »Habt ihr niemanden mehr, den ihr umbringen könnt? Frag ihn mal nach seiner Mutter.«

Er drehte sich um und humpelte aus dem Arbeitszimmer. Er blieb kurz stehen und biss seine gelben Zähne zusammen. Die Wunde über seinem Auge war wieder aufgeplatzt und über seine Wange rollte eine rote Träne. »Und frag ihn auch nach meinem Kind.«

Dann war Joshua verschwunden und ließ Renee mit dem Zettel in der Hand stehen. Sie schaute von dem Stück Papier auf das Familienporträt der Wells an der Wand. Nach einem kurzen Augenblick steckte sie den Zettel in die Tasche ihres Hosenanzugs und rannte durchs Haus. Ihre Absätze klackerten über den harten Holzboden. Die Vordertür flog zu, und als sie die Tür erreicht hatte, war der Riegel schon vorgeschoben. Durch die Scheibe in der Tür sah sie Jacobs Pickup und ihren Wagen, beide mit offener Motorhaube.

Sie rannte durchs Wohnzimmer und durch die Küche und fummelte an dem altmodischen Schloss der Hintertür herum, bis die Tür aufflog. Jacob stand mit ausgebreiteten Armen auf der Hintertreppe. In jeder Hand hielt er einen wirren Haufen Kabel, die wie tote Schlangen herunterbaumelten.

»Er hat unsere Zündkabel durchgeschnitten«, sagte Jacob. »Typisch.«

»Ich hab ihn gesehen, Jake.«

Jacobs Augen wurden schmal. Sie rollten wild hin und her. »Wo?«

»Im Haus. Er will noch mehr Geld. Ich dachte, das hätten wir hinter uns!«

»Ich hab dir doch gesagt, dass er völlig durchgeknallt ist. Das hat er vom Vater.«

»Er hat gesagt, ich soll dich nach deiner Mutter fragen. Und nach seinem Kind.«

Jacob schleuderte die Kabel auf den Boden und rannte an ihr vorbei ins Haus. Er donnerte die Treppe hinauf und rief Joshuas Namen. Sie rannte hinter ihm her, voller Angst, dass Joshua irgendwo aus dem Schatten auf sie zustoßen und ihr ein Messer an die Kehle halten würde. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich den Weg zurück in ihre heile Welt nicht erkaufen konnten. Besonders nach dem, was mit Mattie und Christine geschehen war.

Renee war in die Welt der Wells geraten. Hier war sie von der süßen Verlockung der Macht verführt worden. Doch sie hatte gedacht, sie könnte Jacob ändern, seine Seele retten. Selbst nach all diesen schlimmen Vorfällen.

Liebe wirkte Wunder. Liebe heilte alle Wunden. Liebe war wie ein Pflaster für alles, was in Jacobs Innerem zerbrochen war. Doch zunächst musste sie ihn weit weg von Joshua bringen. Koste es, was es wolle.

Als sie unten an der Treppe stand, erschien Jacob auf dem oberen Treppenabsatz. Sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Seine Hände zuckten an seinen Seiten. »Hier ist er nicht«, sagte er.

»Ich hab dir doch gesagt, dass er zur Vordertür rausgerannt ist. Er hat geblutet, Jake. Hast du ihn geschlagen?«

»Wie könnte ich jemals meinem lieben Bruder etwas antun?«, sagte Jacob, als er langsam die Treppe hinabstieg. »Mein eigenes Fleisch und Blut. Dann könnte ich mich auch gleich selbst umbringen.«

»Jake?«

Er stieg weiter langsam die Treppe hinunter, mit festem, sicherem Tritt. Er schritt den Weg ab, den seine Mutter bei ihrem tödlichen Sturz genommen hatte. War es ein Sturz? Oder wurde sie gestoßen? Was war, wenn Joshua die Wahrheit sagte? Wie sehr konnte sie Jacob vertrauen?

Ein Test musste her. In einer perfekten Welt bestand die Liebe jede Prüfung.

»Ich weiß Bescheid wegen Carlita.«

Jacob blieb stehen. Er stand ganz nah über ihr, so nah, dass sie sehen konnte, wie sich seine Mundwinkel nach oben bogen. »Du würdest es doch nicht verstehen. Niemand versteht es.«

«Jake?«

Er lief weiter die Treppe hinab, mit leeren Augen, ein Trauermarsch. »Er ist im Camp. Mit ihr.«

Renee griff nach seinem Ärmel, als er an ihr vorbeikam. »Komm, wir gehen einfach. Wir können auch laufen. Bis zum Highway ist es nur ein reichlicher Kilometer.«

Die nächsten Worte sprach er mit einem Dialekt, den sie so noch nie von ihm gehört hatte. »Seine Schulden muss man bezahlen. So haben die Wells das immer gehandhabt.«

»Er hat gesagt, ich soll dich nach seinem Kind fragen. Aber Carlita hat mir erzählt, dass sie gar keine Kinder bekommen kann.«

»Sie hat keine Ahnung. Blöde mexikanische Schlampe, macht für ‘nen Dollar die Beine breit für jeden Gringo, der sie anlacht.«

»Liebst du sie?« Sie zog an seinem Arm, doch er starrte durch die Tür hindurch, auf die Welt da draußen. Er starrte auf ein Land, das kein anderer außer ihm besuchen durfte.

»Joshua liebt sie nicht«, sagte Jacob. »Er liebt nur sich selbst. So ist er eben.«

»Joshua ist mir scheißegal. Mir geht es hier nur um uns

»Es gibt kein ›uns‹ mehr, Schatz. Es gibt nur dich und mich und sie und ihn.«

Er löste sich aus ihrem Griff und lief aus dem dunklen Haus hinaus ins Sonnenlicht.